Was ist neu

02.09.15

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19.03.2016
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02.09.15

Ich war dort. Ich habe das Kind gesehen und auch all die anderen Toten. „Jesus Christus“, hatte der noch sehr jung aussehende und mir völlig fremde Mann gesagt.
Er trug einen Panama-Sonnenhut und war langsam, ohne etwas zu sagen, neben mir her geschlendert. Wie ich in sein schattenbedecktes Gesicht mit den riesigen dunklen Augen sah, erkannte ich dort eine aufbrandende Welle von Zorn.
„Ich muss das nicht sehen“, meinte er leise und schwenkte nach rechts weg. Er eilte über den Streifen Sand rüber zu den Felsen und schlug von dort aus den Weg zurück zum Festland ein.
Keiner der Männer am Strand sprach. Sie sahen sich nur um. Betrachteten den Jungen. Einer der Männer schoss mit einer Kamera völlig unaufgeregt Bilder.
Es war der dreijährige Ailan Kurdi. Ertrunken auf seiner Flucht über das Mittelmeer. Der Junge lag auf dem Bauch. Blaue Hose, rotes Hemd, den Kopf zur Seite gewandt und die Arme mit den Handflächen nach oben eng am Körper angelegt.
Von dort, wo ich stand, sah es aus, als würde der Junge, der beunruhigend nahe am Wasser lag, ganz einfach nur schlafen. Ich wünschte mir so sehr, es würde so sein. Aus Müdigkeit, wie Kinder eben so sind, beim Spielen zur Seite gerollt, um neue Kräfte für die kommenden Stunden zu sammeln.
So dachten vermutlich auch die Männer, die bei ihm waren. Denn sie bewegten sich in einer Bedächtigkeit und Stille, die es ihm ermöglicht hätten, in Ruhe weiter zu schlafen – wenn er denn geschlafen hätte. Die Männer waren routiniert in ihrer Aufgabe. Da war kein Zögern. Sie hätten eingestanden: Es sind bereits viele – so viele!
Ich stellte mir vor, wie der Junge am Boot voller Angst die Arme seiner Mutter suchte. Sie vielleicht fand – wahrscheinlich aber nicht.
Warum trug er keine Schwimmweste?, nagte es in meinem Kopf. Warum andere schon und er nicht? Es waren Erwachsene, die ihre Verantwortung nicht wahrgenommen hatten. Die ihn dieser Gefahr ausgesetzt hatten.
Doch welche Gefahr war die schlimmere?
Für diesen Jungen ist diese Frage völlig einerlei. Wie es für jeden anderen Toten an diesem Strand einerlei ist. Ihr Weg ist zu Ende und ihre Träume sind ausgeträumt, ehe sie richtig begonnen haben.
Ihre Träume von einem angstfreien, besseren Leben in der Fremde.
Seit Tausenden von Jahren gibt es diese Träume. Sie leben in uns und wir zehren von diesen Impulsen, als wären sie unser Wasser und unser Brot. Doch welcher Traum rechtfertigt das Risiko des Todes eines Kindes? Es ist so einfach: In Wahrheit ist es niemals ein Traum, der uns dazu treibt – es ist immer nur die Realität.


Allzu viel ist nicht bekannt über den Jungen, dessen Familie aus dem syrischen Kobane vor Krieg und Terror geflohen war. Von Bodrum aus hatte die Familie versucht, per Boot in die griechische Hafenstadt Kos zu kommen, um es von dort aus weiter ins Innere Europas zu versuchen.
Ailan, sein fünfjähriger Bruder Ghaleb und Tehan, die Mutter der beiden, sind bei dem Versuch ums Leben gekommen.

Etwas abseits setzte ich mich auf einen kleinen Felsen. Was sollte ich tun mit diesen Bildern im Kopf? Zurückgehen? Näher herantreten? Meinen Tränen freien Lauf lassen? Welche Veränderungen in mir hatte ich das erste Mal erlebt? Wie viele Veränderungen kann ein Mensch ertragen? Das Sinnieren darüber, es hört nie auf. Damals nicht und heute nicht. Für immer wird etwas von diesem Jungen in mir sein.
Die Gebildeten würden die Gesellschaft leiten. So verspricht es uns die Politik. Welche Politik? Die Stimmen dieser hohen Herren – ihre Gesichter erstarren zu Stein, ihre Worte verfliegen in Falschheit und Heuchelei. Keiner von ihnen ist hier – jetzt!
Doch warum bin ich hier? Ich bin hier, weil ich den Krieg kenne.
Ich möchte helfen. Das scheint mir nur gerecht. In meinem Alltag ist einfach so viel Platz und ich habe die Jahre meines Schlendrians bereits überschritten. Ich könnte zu Hause herumwieseln, meinen Ruhestand genießen, aber einen Reifeprozess gibt es immer und man sollte seinem Weg folgen.
Vier Wochen befinde ich mich bereits in Bodrum. Die Stadt an der ägäischen Küste erfreut sich dank ihrer Lage und des warmen, aber windreichen Mittelmeerklimas eines steten Stroms von Touristen. In Bodrum herrschen ideale Bedingungen für Surfer, Tauchfreaks und alle anderen Wassersportverrückten. Halb Europa kommt hierher, um Urlaub zu machen, der Rest ist – zynisch bemerkt – ohne großes Aufsehen auf der Durchreise.

Eine kleine Weile werde ich hier wohl noch bleiben. Wie lange genau, ist nicht meine Entscheidung. Ich überlasse alles dem „Flow“, wie man heute sagen würde. Der „Flow“ ist es, der uns weiterträgt. Vernunft beflügelt uns schon lange nicht mehr. Das war einmal. Es gilt nur noch, sich treiben zu lassen.
Ich saß einfach da. Die Welt um mich herum bewegte sich weiter, doch wie gerne hätte ich sie angehalten, an ihr herumgespielt, sie etwas beiseitegeschoben und ganz neu angedreht. Vielleicht würde ein Neubeginn des sich ständig um sich selbst Drehens unser aller Geschichte ganz neu entwerfen.
Ich betrachtete das tote Kind und die Männer um es herum. Für den Jungen in seinem ewigen Schlaf mochte der Mann mit dem grünen Barett und den unendlich sanften Händen der Engel sein, der ihn behutsam aufnimmt, um ihn fortzutragen. Wie gerne hätte der Junge wohl seine Arme um den Hals des Engels geschlungen, um sich ganz nah an seinen Körper zu schmiegen, um den Trost zu finden, der ihm hier auf dieser Welt so versagt geblieben war.


Der Fotograf stand etwas abseits. Er knipste seine Bilder, doch was er dabei festzuhalten imstande war, sind nichts weiter als starre Fragmente.
Nur Teile eines Ganzen. Denn das kalte Auge der Kamera hatte keinen Blick für die Wut, die Verzweiflung und die innere Qual des Mannes, dessen bedächtige Bewegungen nur ein unbewusstes Hinauszögern seiner Aufgaben waren. Der Polizist – wie er langsam in die Knie ging, tief seufzte, die Hände ausstreckte, um sie so zärtlich, wie es ihm nur möglich war, unter den Körper des toten Kindes zu schieben – trieb mir die Tränen in die Augen.
Ich dachte kurz daran, aufzustehen und wegzugehen. Doch die Augen zu verschließen oder sich abzuwenden würde nichts weiter bedeuten als ein weiterer Sieg der Gewalt.
Der Körper dieses Jungen, in seiner Zierlichkeit so leicht und schimmernd weiß, passte in seiner Form mit Leichtigkeit in die beiden Handflächen des Mannes. Mit angewinkelten Armen, das Gesicht zur Seite gewandt, konnte der Polizist ihn ohne Mühe über die leichte Erhöhung den Strand hinauf tragen. Dort oben am Auto schlug er das Kind in eine Decke.

Diese Bilder vom Polizisten und vom toten Jungen – Bilder, die unsere Welt tags darauf derart erschüttern sollten –, würden als reales Erlebnis wohl für immer im Kopf dieses Mannes sein, um ihn in ständiger, aber unaufgeregter Beharrlichkeit von innen her zu verzehren.
Ich wandte den Blick dem Fotografen zu. Ich beobachtete, wie er seine unhandliche Tasche und die Kamera beiseitelegte, sich eine Zigarette anzündete und für eine Weile hinaus aufs Meer sah. Ich folgte seinem Blick. Angestrengt, so als gäbe es da draußen für uns zwei etwas zu finden, starrten wir in die Ferne.
Und so, wie der Mann in diesem stillen Moment wohl seine eigene Welt durchdachte, tat ich es mit der meinen. Doch dort draußen in dieser diesigen Luft mit dem Geräusch ständig schlagender Wellen gab und gibt es für mich nichts mehr zu entdecken.
Irgendwie, und auch auf eine ganz praktische Art hatte die Zeit bereits alles bereinigt.

*****

„Ist es nicht seltsam?“, fragte eine Stimme hinter mir und ich erwachte aus meinen Gedanken. Ich drehte mich herum. Es war der junge Mann mit dem Panama-Hut von vorhin. Es war beinahe ein Flüstern: „Auf dieser Halbinsel hier existieren zwei ganz unterschiedliche Welten. Am Tag die Welt der Völlerei, des Flanierens in Gleichgültigkeit und Dekadenz. Und die andere Welt in der Nacht, Menschen, die still und leise alte, klapprige und völlig seeuntüchtige Boote besteigen und sich auf den Weg machen, um ihr Schicksal zu verändern. Die Überfahrt auf einer ganz normalen Fähre von hier nach Kos oder Lesbos mit einer Reisezeit von knapp einer halben Stunde kostet zwanzig Euro. Erstaunlich, nicht wahr?
Diese Menschen auf ihrer Reise bezahlen an die vier- bis fünftausend Euro für einen Platz in einem Schlauchboot oder einem ausrangierten und komplett überladenen Boot. Nussschalen, welche kaum einer kräftigen Bö oder einer höheren Welle standhalten.
Der Junge ist einer von vielen!“, endete der Mann und setzte sich mir gegenüber auf ein grobes Stück Strand. Er streifte seine Schuhe ab, nahm den Hut vom Kopf und legte ihn neben sich zu Boden.
„Ich fürchte mich irgendwie“, sagte er. „Ich fürchte mich, dass noch viele so zurückkommen werden, und ich fürchte mich irgendwie, dass es weiterhin niemanden interessieren wird.“
„Ja, es ist deprimierend“, entgegnete ich. „Im Moment weiß ich nicht genau, ob ich kotzen, weinen oder ganz einfach nur laut schreien soll.“
„Tja, Wut ist irgendwie und einfach – so komplett unberechenbar.“
Es schien, als würde er eingehend über das soeben Gesagte nachdenken, sagte dann aber, als hätten wir das Thema bereits gewechselt: „Ich versuche immer in allem, was ich mache, gut zu sein, manchmal vielleicht zu gut. Ich bin zum Beispiel ein geschickter Lügner und ein äußerst gefinkelter Worteverdreher.“
Er ließ das fürs Erste so stehen und fragte dann: „Wer oder was bin ich?“
„Ein Journalist“, stellte ich ganz klar fest. „Und auch Sie sind nur einer von vielen hier in Bodrum. Ich habe Sie in den letzten Tagen bereits des Öfteren beobachtet. In Ihrer emotionalen Distanz zu allem und jedem hier sind Sie schon von weitem als solcher zu erkennen.“
„So ist es“, bestätigte er, wohl etwas pikiert. „Journalisten sind einfach so.“
„Da vorne, der Junge, wäre das nicht die Story, der Sie schon die ganzen Tage über hinterhergelaufen sind?“, fragte ich ihn.
„Stimmt“, antwortete er.
Ein kurzer Moment des Schweigens, dann fragte er: „Woraus erschließt sich Ihnen meine emotionale Distanz?“
„Nun. Da vorne – als Sie zuvor an dem Jungen vorbeigingen. Als Sie sagten, Sie wollen das nicht sehen.“
„Ja, aber das waren nur ein erster kurzer Moment des Zweifelns.“
„Das mag sein, doch warum sind Sie jetzt zurückgekommen – etwas spät, nicht? Die Show ist bereits vorbei.“
„Nun, eigentlich bin ich wegen Ihnen zurückgekommen.“
„Wegen mir?“, fragte ich erstaunt.
„Wissen Sie, was ich denke? Ich denke, Sie wären eine gute Story!“
Ich sah ihn zweifelnd an. Ich zweifelte irgendwie an seinen Worten, vielleicht aber auch an seinem Verstand. Oh, er war höflich, sanft, und in seiner Körpersprache lag entgegen meiner ersten Vermutung weder Arroganz noch Stolz. Und doch …
„Glauben Sie mir“, sagte er und unterbrach damit meine Überlegungen. „Die Bilder, die da vorne gemacht wurden – niemand kann sagen, ob sie jemals für eine Veröffentlichung infrage kommen werden. Mit toten Kindern auf einer Titelseite ist das immer so eine Sache …“
Ich nickte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich tote Kinder als Aufhänger befürworten soll“, sagte ich.
„Und doch“, meinte er, „vielleicht wäre es an der Zeit, die Dinge einmal zu zeigen, wie sie sind.“ Er fuhr sich durch sein dunkles, üppiges Haar und begann dann gedankenverloren an seiner linken Augenbraue zu zupfen. „Wir wissen alle, wie schnell der Tod aus der Aufmerksamkeit verschwindet, um Platz zu machen für die weitaus wichtigeren Geschehnisse dieser Welt.“
„Die da wären?“
„Die neueste Kollektion von Lagerfeld oder das verdächtig rundliche Bäuchlein von Prinzessin Charlene …“
Ich nickte. „Ich weiß, was Sie meinen.“
„Nun, vielleicht ist es dieses Mal anders, vielleicht hat die Tragik dieses Jungen für eine längere Zeit Bestand. Ich bin Realist genug, um es nicht zu glauben. Aber so genau kann man das nie wissen. Manche Geschehnisse entwickeln sehr oft eine eigene Dynamik.
In schlimmen Zeiten braucht die Öffentlichkeit ein Symbol. So wie damals in den 70er Jahren das Napalm-Mädchen. Sie erinnern sich? Am 8. Juni 1972 wurde das Dorf Trang Bang unweit von Saigon bombardiert. Die damals neunjährige Kim Phuc tauchte nackt und halbverbrannt aus all dem Rauch und dem Feuer auf. Schreiend lief sie auf die Kamera zu, floh vor dem Inferno explodierender Napalmbomben. Kennen Sie dieses Bild?“
Ich nickte. „Ja, ich kenne es.“
„Ein zeitloses Bild – ein Bild als Symbol gegen den Wahnsinn des Krieges. Vielleicht ist es ja wieder an der Zeit, ein neues Symbol zu erschaffen. Dieses Mal eines, das uns mahnt, nicht mehr wegzusehen. Das Bild eines ertrunkenen dreijährigen Jungen, mit Familie geflüchtet vor Mord und Terror und bei der Überfahrt in der tiefen Hoffnung auf ein besseres Leben im Meer ums Leben gekommen. Viele tote unbekannte Kinder berühren uns nicht so sehr. Aber ein einziges, ein Kind mit einem Körper, einem Gesicht, einer eigenen Geschichte schafft es vielleicht erneut, zu einem Symbol zu werden. Ein Symbol für das Recht auf ein menschenwürdiges Leben.“
Ich zuckte die Achseln. Nichts ist wertloser als Worte. Wenn Taten nur noch alibimäßig voranlaufen, klammert man sich an Worte, an Phrasen und ganz leicht auch an Symbole – das war schon immer so.
Der junge Mann nahm seinen Hut wieder in die Hand. Er betrachtete mich prüfend und meinte: „Wissen Sie, ich fühle mich nicht zuständig für Symbole oder dergleichen – ein toter Junge als Symbol ist für mich nichts weiter als ein Missbrauch der Würde dieses Kindes. Und so denke ich, obwohl ich mir darüber bewusst bin, wie nützlich so etwas sein kann. Aufzeigen, aufrütteln, hinweisen, all das würde natürlich so funktionieren, aber ich bin es nicht, der Symbole erschaffen wird.“
„Darum doch lieber Modeschöpfer und Prinzessinnen?“
„Dafür gäbe es geeignetere Plätze als diesen Ort hier, und – glauben Sie mir – eine Prinzessin ist oft auch nicht mehr als das einfache scheue Mädchen von nebenan.“
Das brachte mich ganz leicht zum Schmunzeln „Und warum ich?“
„Vom ersten Moment an hatte mich der eigenartige Ausdruck in Ihrem Gesicht fasziniert. Wie Sie diesen Jungen da vorne betrachtet haben. Ich wusste sofort, da ist viel mehr als nur Mitleid. Da ist eine eigene Geschichte. In Ihrem Gesicht ist eine Geschichte, die es zu erzählen lohnt.“
„Ohne dabei mit meiner Geschichte eine Art Symbol schaffen zu wollen?“
Er lachte und sagte: „Ganz genau, kein Symbol. Nur die Wahrheit, denn auch wenn ich hin und wieder ein notorischer Lügner und Worteverdreher bin – nicht in Ihrem Fall.“
„Wissen Sie“, sagte ich. „Als ich vor wenigen Wochen hochmotiviert als Freiwilliger mit einer Gruppe Rotkreuz-Helfer hier angekommen bin, da dachte ich noch, ich könnte allein mit meinem Erscheinen die Welt retten – und wenn nicht retten, dann zumindest verbessern. Tja, Naivität pur war das wohl. Oder gar Dummheit. Denn ganz ehrlich, nichts wird hier weniger geschätzt als Hilfe, so scheint es mir.“
„Das klingt irgendwie hoffnungslos.“
„Hoffnung – ich mag dieses Wort nicht so recht. Hoffnung ist es, die diese Menschen hierherbringt“, ereiferte ich mich. „Aber wenn ich all die ertrunkenen Menschen berücksichtige, scheint es, als würde Hoffnung nicht allzu viel Gutes bewirken.“
„Das ist Unsinn – und Sie wissen das. Sonst wären Sie nicht hier. Es ist alles, was diese Menschen haben – Hoffnung ist deren einzige Konstante.“
Mit dem Kopf deutete er rüber zu der Stelle, an der eben noch der Körper des Kindes gelegen hatte.
Ich saß da und überlegte. Alles würde hier so weiterlaufen wie zuvor. Leute würden kommen, um frische Luft zu schnappen. Sie würden den Strand entlang flanieren, schwatzen, lachen und sich Sorgen machen, wie das Wetter wohl an diesem Tag noch werden würde. Sie amüsieren sich, was auch sonst wäre der Sinn an einem Urlaub?
Schon kurz darauf, nur einige Minuten später, erinnerte nichts mehr an den kleinen Jungen dort an dem Stück Strand. Nicht lange und alles würde wieder seinen gewohnten Ablauf nehmen.
Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie der Reporter sein Smartphone aus der Tasche seiner Jacke zog und es mir reichte. Ich griff nicht sofort danach. „Was soll ich mit Ihrem Handy?“
„Sehen Sie sich etwas an. Sehen Sie sich nur etwas an.“
„Was ist es?“, fragte ich ihn. „Mehr Tote? Mehr vermeintliche schwangere Prinzessinnen?“
„Bitte“, sagte er. „Sehen Sie, was Hoffnung letztendlich doch auch bewirken kann.“

Was ich zu sehen bekam, war ein an körnige VHS-Zeiten erinnerndes Video. Ich blickte in einen winzigen Raum, das Innere einer Hütte. Ein Junge von etwa sechs oder sieben Jahren lehnt an der rauen Rückwand dieser Hütte. Seine Kleidung besteht aus einer viel zu großen, zerschlissenen und völlig schmutzigen Dschallabija – ganz traditionell kombiniert mit der weit geschnittenen Hose. Durch die Übergröße seiner Kleidung wirkt der Junge noch schmächtiger und jünger, als er wahrscheinlich ist. Große, dunkle Augen starren in die Kamera. Der Junge lässt den Blick schweifen, zittert und zeigt offen seine Angst.
Ein Mann tritt ins Bild. Er trägt die Dschallabija mit der dazugehörigen Hose in leichtem Beige in perfekter Passform und von sauberer und viel besserer Qualität. Der Junge sieht ihn an. Die Augen weiten sich, der Mund verengt sich zu einem schmalen Schlitz.
Der Mann begrüßt den Jungen: „As-salam alykom“, und der Junge erwidert mit gebrochener Stimme: „Wa Alykom As-slam.“
(Ab hier übersetzt eine Stimme aus dem Off ins Deutsche.)
„Wie heißt du?“
„Amir.“
„Amir? Ein bedeutender Name.“
„Ja, Saiyid.“
„Kennst du die Bedeutung deines Namens?“
„Nein, Saiyid, ich kenne sie nicht.“
„Amir bedeutet Prinz.“
„Ja, Saiyid.“
„Amir bedeutet aber auch Führer – ein Mann, geboren um zu führen, al-dschihadu fi sabili Llah.“ (Im Kampf auf dem Wege Gottes.)
„Niemand im Paradies möchte wieder zurückkehren, mit Ausnahme des Märtyrers, der im Kampf für die Sache Gottes gefallen ist. Er möchte auf die Erde zurückkehren, um noch zehnmal getötet zu werden, nach all den Ehrenbezeigungen, die ihm im Paradies zuteilwurden … Amir?“
Der Junge zuckt erschrocken zusammen. Ein gezwungenes Lächeln zeigt sich in seinem Gesicht – er schüttelt leicht den Kopf und flüstert: „in shāʾallāh.“
Eine kurze verlegene Pause, dann fragt der Mann weiter:
„Amir, wie lange lebst du schon hier?“
„Schon immer, Saiyid.“
„Wie alt bist du?“
„Acht.“
„Wo ist dein Vater?“
Der Junge antwortet nicht. Er zuckt nur mit den Achseln. (Hier wird kurz eine Schrifttafel eingeblendet: „Vater des Jungen: tot; Datum und Ursache: nicht bekannt“.)
„Amir, wo ist deine Mutter?“
Wieder zuckt er mit den Achseln und wieder die Untertitelung (Mutter des Jungen: tot; Datum und Ursache: nicht bekannt“).
„Lebst du alleine?“
„Nein.“
„Amir, gehst du zur Schule?“
Der Junge schüttelt den Kopf.
„Du siehst hungrig aus – hast du Hunger?“
Der Junge nickt.
„Wer gibt dir zu essen?“
Der Junge deutet mit dem Kopf zur Tür.
„Da draußen.“
„Was esst ihr?“
„Suppe.“
„Suppe?“
„Ja.“
„Suppe aus was?“
„Gras.“
„Ihr esst Suppe aus Gras?“
„Ja – Suppe aus Gras.“
„Amir, wann hattest du das letzte Mal Brot?“
„Brot?“
„Ja, Brot. Wann hattest du das letzte Mal Brot?“
Der Junge zuckt wieder mit den Achseln und schaut zu Boden.
„Ich weiß es nicht mehr, Saiyid – ich habe es vergessen.“
Jetzt dreht sich der Mann herum, schaut in die Kamera und mit einem kurzen Nicken bedeutet er dem Kameramann, zu gehen. Die Kamera verweilt noch kurz auf dem erstarrten Gesicht des Kindes und schwenkt irgendwie erlösend rüber zum Mann.
Der Körper, die Haltung, der Ausdruck, Augen so tief und schwarz – alles an diesem Mann war für mich einfach nur verabscheuungswürdig. Mit einem süffisanten und so erhabenen Lächeln im kantigen Gesicht hat er die rechte Hand gehoben, den Zeigefinger ausgestreckt und zu rezitieren begonnen: „Du sollst glauben an Allah, an Seine Engel, an Seine Bücher, an Seine Propheten, an den Jüngsten Tag, und du sollst glauben, dass Er das Schicksal bestimmt, sei es gut oder schlecht. – in shāʾallāh (so Gott will).“
Das Video war zu Ende.
„Dieses dreckige Arschloch“, flüsterte ich und gab das Gerät zurück in die Hände des Journalisten.
„Ja, stimmt schon – und doch dürfen Sie etwas dabei nicht übersehen.“
„Was sollte ich an diesem abartigen Teufel übersehen haben?“
„Die Hoffnung.“
„Die Hoffnung?“, fragte ich verwirrt.
„Die Hoffnung des Jungen.“
„Wie?“
„Der Reporter. Der Mann hinter der Kamera. Ein deutscher Fernsehreporter. Tage später ist jemand gekommen und hat den Jungen von dort weggebracht. Verrückt, nicht wahr? Aber solche Sachen passieren tatsächlich – hin und wieder. Manchmal scheint es wirklich einfach zu sein, Hoffnung und Mitgefühl zu vereinen. Sagen Sie … Wie kann ich Sie erreichen?“
„Mich erreichen?“, fragte ich verwirrt.
„Ja – Ihre Geschichte.“
„Sie wollen tatsächlich eine Story über mich bringen?“
„Warum nicht?“
„Ich bin nicht so sicher“, zögerte ich. „Eine Geschichte über mich mit dem Titel: Die Hoffnung ist eine Konstante?“
„Das wäre ein guter Titel.“
„Sie sind der Junge, habe ich recht?"
Der Junge Mann lächelte und antwortete mir: "Ich könnte es sein,Saiyid".
Mehr nicht.
"Ist es so? – Ist Hoffnung tatsächlich eine Konstante?“, fragte ich und der junge Reporter antwortete: „Ich weiß nicht , sagen Sie es mir.“


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Mein Name ist Dragan Stojadinovic, seit 1997 befindet sich mein ständiger Wohnsitz im österreichischen Salzburg. Ich verbringe jedoch nur sehr wenig Zeit in diesem Paradies.
Geboren bin ich am 2. März 1948 in Dakovo in der ehemaligen Teilrepublik Jugoslawien (heute Republik Kroatien). Aufgewachsen als Teil einer achtköpfigen Familie (Großeltern, Eltern und vier Geschwister – alle männlich), war meine Kindheit geprägt von zahlreichen Entbehrungen, aber auch von einer äußerst innigen Zusammengehörigkeit.
Mit 26 Jahren, nach einigen bedeutungslosen Affären, lernte ich meine zukünftige Frau Sanja kennen. Knapp nach meinem dreißigsten Geburtstag wurde ich zum ersten und einzigen Male Vater. Eine Tochter. Wir gaben ihr den Namen Ljiljana und zogen ein Jahr später nach Zagreb, wo Sanja und ich eine Anstellung als Lehrer fanden.
Währen des Kroatienkrieges in den Jahren 1991 bis 1995 war Zagreb von direkten Kampfhandlungen weitestgehend verschont geblieben. Die Front war nie näher als 25 Kilometer an die Stadt herangerückt.
Im Mai 1995 startete die kroatische Armee eine Militäroperation gegen Westslavonien. Als Reaktion auf diesen Angriff befahl der Anführer der serbischen Aufständischen, die Städte Sisak und Zagreb zu beschießen. Am 2. Mai um 10.15 Uhr schlugen daraufhin die ersten Raketen in Zagreb ein.
Bei diesem Angriff gab es Einschläge in der Strossmayer-Promendade, in der Petrinjska-Straße und in der Vlaska-Straße – in der eine Straßenbahn getroffen wurde. An jenem Tag starben in dieser Straßenbahn sieben Menschen – unter den Toten waren auch Sanja, meine Frau, und Ljiljana, meine einzige Tochter.
Die Jugoslawienkriege in den neunziger Jahren forderten 118.330 Tote und Vermisste. Europäische Staaten nahmen zwischen 1991 und 1995 zusammen ca. 700.000 Flüchtlinge auf.
Im Jahre 2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge alleine nach Deutschland gekommen. Viele sagen, es ist genug. Manche hingegen meinen: Genug ist es erst, wenn es keine Toten mehr gibt.

Ailan Kurdi: Gestorben am 02.09.2015 und noch so viele mehr – ohne Namen, ohne Datum, ohne Gesichter, ohne Geschichten – ohne Zukunft!
Die Antwort ist so einfach: Hoffnung ist keine Konstante. Kann keine sein – denn irgendwann erschöpft sich jede Hoffnung!

 

Hallo Fluffy27!

"Würde gerne mal die ehrliche Meinung anderer Leser hören"
=> Das würden alle anderen Schreiber hier auch gerne. Aber wenn die Schreiber sich nur um ihre eigenen Texte kümmern, wer soll dann die gewünschte Meinung äußern? Geben und nehmen ist hier das Motto. Soll heißen, es wäre nett, wenn du auch mal was zu Texten anderer sagst.

Zu deiner Geschichte:

Du beginnst mit einem Bild, dass so ziemlich jeder kennt. Möchtest du damit Betroffenheit auslösen? Jeder kennt das Bild, jeder hat bereits darüber nachgedacht. Du gibst dem Leser nichts Neues.

"Die Gebildeten würden die Gesellschaft leiten. So verspricht es uns die Politik."
=> Welche Politik verspricht das? Bei uns kann sich jeder (auch der Ungebildete) wählen lassen, jeder kann jeden wählen.

Dein Protagonist geht mir ziemlich schnell auf den Keks, sorry. Er sagt, er wolle helfen, aber es liest sich so, als stände er da nur in der Gegend rum. Dazu sondert er ziemlich viele allgemeine Gedanken ab, was ich sehr langweilig finde.

Dein Text geht ja noch recht lange weiter. Was genau wolltest du eigentlich erzählen? Was war dein Fokus? Ich empfehle dir, deine Geschichte auf eben diesen Fokus einzudampfen und dabei ein bisschen auf Spannungsaufbau zu achten.

Grüße,
Chris

 

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