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Bühnenstück Hildebrandts Geheimnis

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04.10.2015
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Hildebrandts Geheimnis

1. Eröffnung

Regieanweisung: Eine Frau in gelbem Parker (Anfang 30) geht durch eine häuserleere Allee, sie scheint etwas zu suchen. Nah an ihrem Ohr hält sie ein Diktiergerät und drückt auf play.


Diktiergerät: ...ildebrandt, Professor Hildebrandt.
Muss ihn finden... Hm, ob er noch so sein wird, wie ich mich an ihn erinnere?
(spult) ...ach der Alten vom Einwohnermeldeamt ist es die Saphir Allee 3!
(spult etwas weiter) ...uss erfahren, was ihm wirklich zugestoßen ist! Damals! Muss... (drückt stop)


Regieanweisung: Bei einer von kahlen Bäumen umwachsenen Villa am Ende der Allee macht sie halt. Einige Sekunden verweilt sie vor der hohen Tür ehe sie läutet. In den Händen nur ihr Diktiergerät. Niemand öffnet ihr. Ihre Brille zurecht rückend läutet sie ein weiteres Mal, niemand öffnet. Enttäuscht wendet sie sich von der Tür ab. Dann, gerade als sie gehen will...


Sprechanlage: (mürrisch) Ja!! Wer ist da?

Die Frau: (hastig) Hallo Herr Hildebrandt?? Mein Name ist Fabienne Stern, ich wollte...

Sprechanlage: Was?

Fabienne: Ich würde gerne mit ihnen sprechen Herr Professor.
Vor Jahren habe ich einige ihrer Vorlesungen bes...

Sprechanlage: Hmm-so, keine Zeit!... Ich, habe keine Zeit!

Fabienne: Bitte, warten sie, Ich plane ein Stück zu schreiben, ein Theaterstück, und für einen meiner Charaktere brauche ich ganz unbedingt ihre Hilfe!
.
.
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Sprechanlage: Hmm, so!?

Fabienne: Ja!
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Herr Professor?
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Herr Professor, sind sie noch da?
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Regieanweisung: Augenrollend beisst sich Fabienne auf die Unterlippe, während sie sich von der Tür abwendet. Wieder will sie gerade gehen als sich unter lautem Surren andeutet, dass nun geöffnet werden kann. Sie schiebt die gewaltige Tür auf und tritt rasch ein, bevor sie langsam und schwer hinter ihr ins Schloss fällt.

2. Der erste Besuch

Regieanweisung: Im Wohnzimmer. Ein Kamin und ein riesiges Bücherregal schmücken den Raum. Verteilt häufen sich bis zu menschenhohe Blätterstapel und im Hintergrund gewährt eine große Fensterwand Ausblick auf Hildebrandts auffallend gepflegten Blumengarten.
Herr Professor Hildebrandt, ein großer doch gebrechlicher, ca. 70 jähriger Mann, setzt sich auf seinen Sessel. Die Hände hält er fast schwebend über den Armlehnen, während er unverhohlen seinen Besuch mustert, von unten bis oben und wieder bis unten.
Fabienne steht etwas angespannt vor der Couch, die dem Sessel Hildebrandts gegenübersteht. In Hüfthöhe hält sie schützend ihr Diktiergerät vor sich.


Hildebrandt: Na setzen sie sich, setzen sie sich.
Allzu oft bekomme ich ja keinen Besuch, müssen sie wissen.
(Er nuschelt mürrisch) Mmnaja, mit Ausnahme der Putzfrauhmmn.
.
Wie sagten sie noch war ihr Name?

Fabienne: Fabienne Stern, Herr Professor. Ich hatte vor mehr oder weniger 15 Jahren einige ihrer Vorlesungen besucht. Es dürften drei...
ja, es waren drei an der Zahl:
- Goethezeit
- Heinrich vo...

Hildebrandt: Jaja und was weiter, was führt sie zu mir?

Fabienne: Ja also, da ich nun dieses Stück schreibe, drängt mich der Charakter einer meiner Figuren immer mehr auf sie zurück.

Hildebrandt: So. Sie meinen also ihre Figur dränge sie?

Fabienne: Sozusagen.. Ja! sie nimmt immer mehr ihre Züge an.

Hildebrandt: Sie nimmt also meine Züge an, ihre Figur!?

Fabienne: Ja, gewissermaßen tut sie das wohl.

Hildebrandt: Njaja, Tatsächlich!?


Regieanweisung: Hildebrandt stopft sich seine Pfeife, zündet sie während des Gespräches an und zieht immer wieder genüsslich daran, sodass sich seine eingefallenen Wangen samt den Backenhöhlen dann jedes Mal kurz aufpolstern, wenn er den Qualm ausstößt.


Fabienne: Ja!
Ja, so ist es...
Herr Professor, gestatten sie mir nun vielleicht ihnen ein paar Fragen zu stellen!? Ich möchte gerne den Menschen hinter dem Katheder kennen lernen...
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ich, erhoffe mir davon.. ein besseres Verständnis..
Für meine Figur, wissen sie...

Hildebrandt: Mhhnur zu, Frau Stern, nur zu, kommen sie zur Sache, fragen sie. Dafür sind sie ja gekommen.
Aber noch vorweg muss ich ihnen ehrlich sagen, Frau Stern, ich-weiß-nicht-so recht, ob sie die Arbeit an ihrer Figur da richtig angehen.

Fabienne: Was meinen sie?

Hildebrandt: Na, es ist doch so!
Sie entwerfen ihre Figur, sie sind die Autorin, also ziehen sie doch die Samthandschuhe aus, konzipieren und gestalten sie nach IHREM Gutdünken, nach ihrem Willen, statt ihren Figuren nachzulaufen!
Was ich meine ist, schreiben sie bewusster, Kind! Lassen sie sich nicht hin und her zerren und reißen von träumerischen Charakteren, seien sie kompromisslos, kompromisslos gleich dem echten Leben!
(hastiger) Oder sind sie etwa der Meinung eine göttliche Eingebung täte sich ihnen kund, derer sie sich nicht erwehren könnten, er- (kichert) eröffnete sich auf geheimnisvolle Weise ihrem Genius, wann immer sie Schrift stellen??

Fabienne: Naja, so, wie sie das sagen, klingt das soo...
hoch-trabend und fast schon ekelhaft verächtlich.
Ihren Sarkasmus konnten sie sich also erhalten, Professor. (lacht gekünstelt)
Jedenfalls: Ich verfahre nunmal so mit meinen Charakteren, ich fundiere viele von ihnen, nicht alle, aber viele in wahren Persönlichkeiten, mal in einer, mal in mehreren und, ja, versuche so sie, dreidimensionaler zu gestalten.
Diese hier, wegen der ich heute hier bin, ich nenne sie bisher den „Herr Professor Bilderrand“, hat mich erst nach einigen Wochen immer mehr an sie erinnert, verstehen sie? Es war mir erst gar nicht wirklich bewusst.

Hildebrandt: Hmnja-Seehr abenteuerlich hört sich das an, fast willkürlich, kühn und (kichert) sehr abenteuerlich!

Fabienne: Also, ich denke, es ist eigentlich kein besonders außergewöhnliches Vorgehen für eine Schriftstellerin so ihre Charaktere zu entwer....

Hildebrandt: Njaja, jaja, ihnen zugute kommt ja, dass, wie sie es sich vielleicht denken können, nicht alle Tage eine junge Dame ein solches Interesse an meiner mittlerweile doch schon etwas in die Jahre gekommenen Person so offenkundig zutage legt.
Zudem, nun ja, schreibe ich auch selbst hin und wieder gerne ein bisschen was aufs Papier, wenn mir eines zwischen die Finger geraten will...
(hastig, künstlich abtuend) Aber darum geht es hier ja auch gar nicht.
.
Fabienne: (zögernd) Also, Herr Professor, zu meinen Frag...

Hildebrandt: Mm-freilich wurde es mit dem Schreiben dann ein wenig mehr, seit ich mein Professorenamt niedergelegt habe.
(ebenso hastig) Aber das tut ja weiter auch gar nichts zur Sache...

Fabienne: Ja richtig! Jetzt, da sie es sagen, ich erinnere mich, sie erwähnten damals in der Vorlesung ihre Arbeit an einem Roman, wie ist es ihnen geglückt?

Hildebrandt: Das, das habe ich erwähnt??
Ähmnjaja, jaja, nun, ich arbeite noch daran!

Fabienne: (sehr verwundert) Seit, seit über 15 Jahren??
Lassen sie mich einen Blick hinein werfen?

Hildebrandt: Nein, Kind! Vorerst noch nicht.
Wenn es beendet ist, wenn-es-beendet ist!
.
Fabienne: Gut, schön, ich freue mich!

Hildebrandt: Hmmihre Augen, Frau Stern, sind, es, ihre, Augen?!
Ich will sie zwar einfach nicht recht wieder erkennen und trotzdem erinnern sie mich doch an jemanden, mit diesen ihren traubenfarbigen Augen...
Aber an ween nur? An wen?
Ich komme noch drauf, es ist als suche man einen nur zu geläufigen Begriff, der einem seit Jahr und Tag schon faulig auf der Zunge läge, sie kennen das?!

Fabienne: (lächelnd) Ja.
Ich hoffe doch an jemand den sie mögen Professor.
Und würden sie mir jetzt womöglich ein wenig von sich erzählen? Vielleicht etwas aus ihrer Kindheit? Etwas, das ihnen auf Anhieb einfällt, eine Anekdote, die Erinnerung an einen besonders schönen oder, schlimmen, Tag, vielleicht??

Hildebrandt: Mmjaja... Nun, sehen sie, Kind, Erinnerungen:
Mir hat mal jemand gesagt, Erinnerungen seien wie Katzen.
(kichert) Pss pss pss.
Sie kommen, sie gehen, so wiiee sie grade wollen. Und im Alter wird das wie natürlich nahezu alles am Menschenkinde nicht gerade besser.
Mhjaja, jedenfalls war ich der einzige Sohn eines Elektro-Ingenieurs, meine Mutter war früh gestorben und ich habe kaum noch ein Bild von ihr vor Augen; obwohl ich doch meine, sie trug ihr kastanienbraunes Haar, so wie sie, ja, eben so, wie sie das ihre tragen, Frau Stern.
Nach ihr hatte er nie wieder eine Frau, mein Vater.
Das heisst, keine von der ich je erfahren hätte! (kichert wieder)
Wir lebten in einem kleinen Ort, keine tausend Seelen.
Er war wohl einer der wenigen Studierten damals.
Wissen sie, er war schon besonders, mein Vater, sein Name war Ernst.
Er verdiente gut, aber unser großes Haus, stand immer leer, nie zierten Blumen den Esstisch, Vorhänge die Fenster.
Ganz zu schweigen von Blumen im Garten, so-was-hatten wir nicht.
Die Einrichtung war zweckmäßig, kahl, vö-llig schnörkellos.
Zu den Bauern sagte er immer: „kommen sie nur einmal zu mir, wenn sie sehen wollen wie man sparsam lebt“.
Wissen sie, er war nicht gerade ein Kind seiner Zeit, er las viel über ferne Orte und fremde Kulturen, mhjaja, wechselte die Konfession, aß von heute auf morgen kein Fleisch und keinen Fisch mehr, lief im Winter barfuß durch den Schnee und machte schlechte Reden von sich unter den stutzigen Nachbarsleuten. Gegen Ende, da reiste er viel, mhjaja, so war das.

Fabienne: Wirklich interessant. Ihr Vater muss in der Tat ein ganz besonderer Mann gewesen sein. Sagen sie, warum hat er nie wieder geheiratet?
Wollte er nicht vielleicht noch mehr Kinder?

Hildebrandt: Warum er nicht mehr... nun, das kann ich ihnen so wirklich nicht sagen, ich weiß es nicht, jedenfalls haben sie ihn noch vor 45 sterilisiert.

Fabienne: Ihn... Ihn sterilisiert? Wer?

Hildebrandt: Wer!? Die Nazis! Mhja, es bewirkt schon etwas in einem Jungen, wenn er zusieht wie sie den Vater holen. Und als sie ihn dann wieder brachten, war er nicht mehr ganz derselbe. Wir sprachen nie darüber und im Winter trug er trotz allem noch immer keine Schuhe. (lächelt verträumt)

Fabienne: Ohmeingott... das ist, das ist ja fürchterlich!
Sagen sie, ist das ihr Ernst?

Hildebrandt: Mein Ernst? Was glauben sie denn, Kind?

Fabienne: Grausam, mir, fehlen die Worte für...

Hildebrandt: Ach, sagen sie doch so was nicht, Frau Stern.
Das Letzte was einer Schriftstellerin fehlen sollte, sind doch ihre Worte!
.
Vor einigen Jahren, habe ich dann einen Anruf aus Tibet erhalten, wo mein Vater zu dieser Zeit gelebt hatte. In gebrochenem Englisch erklärte mir ein Mann, wohl ein Freund meines Vaters, er sei beim Klettern gestürzt. Sie fanden ihn mit einem Riss in der Stirn und einem Lächeln auf den Lippen.
Mhja, das würde passen zu ihm!
Einem Riss, (behutsame Stimme) wie in der Schale eines Eies.
Er wurde eingeäschert, njajaa, ich denke doch, er war zufrieden, als es dann mit sein Ende nahm.

Fabienne: Das, das tut mir leid.

Hildebrandt: Was??

Fabienne: Der Tod ihres Vaters!

Hildebrandt: Ach wo. So etwas passiert eben, es ist der Lauf der Dinge.
Gerade sie, als eifrige Schreiberin, (überzogen) siiee müssten die Welt doch kennen, Kind! Wissen, was sie tief im Innersten zusammenhält! (kichert)

Fabienne: (lächelt nur)
Ich hoffe, es stört sie nicht, dass ich unser Gespräch aufzeichne!?

Hildebrandt: Nur zu...
.
Während des Studiums hatte ich dann meine Frau kennen gelernt.
An den Abenden tranken und tanzten wir gerne und wir mochten dieselben Filme. Wir sahen Lolita ganze sieben Mal im Kino, mhjaja, Kubrick mochten wir, auch Hitchcock lockte uns immer wieder vor die Leinwand, und beide liebten wir die Literatur, wir hatten viele gute Jahre miteinander.
(leiser) Viele, gute, Jahre...
Sie lebt heute in der Schweiz, wissen sie... glaube ich.
Vor 16 Jahren ging sie. Unseren Sohn hat sie mit sich genommen. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen.
Jaa, ich frage mich oft, wie es ihm erging, was er heute macht, was er arbeitet, studiert, ob er Kinder hat.
… Es, ist nicht immer leicht ein Hildebrandt zu sein, wissen sie. (lacht als wäre es ein Scherz und doch schwingt ein seltsamer Ernst in dem Gesagten mit)
Ja, ja, sie hat mir einiges genommen damals.
Aber...


Regieanweisung: Hildebrandt blickt starr vor sich auf den Boden, die Pfeife qualmt, er selbst scheint weggetreten.


Fabienne: Herr Professor??

Hildebrandt: W, was? Ach ja!

Fabienne: Herr Professor, ohne ihnen damit jetzt allzu zu nahe treten zu wollen, dürfte ich sie fragen, warum ihre Frau sie verlassen hat?

Hildebrandt: (erhebt sich ruckartig, plötzlich wütend) Was?? Natürlich nicht!!
Sagen sie, was fällt ihnen ein?!

Fabienne: (hastig) Hören sie, ich, ich habe von dem schrecklichen Unfall gehört, den sie damals hatten! Hatte es vielleicht etwas mit dem Unfall zu tun?


Regieanweisung: Hildebandt wendet zähnebleckend seinen Blick ab. Für einen Augenblick scheint sich sein Gesichtsausdruck zu erhellen. Naserümpfend blickt er auf Fabienne. Aber nicht in ihre Augen, er fixiert ihre Gurgel, während er sie in scharfem Ton anfährt.


Hildebrandt: (laut) Gehen sie!

Fabienne: Herr Professor, es tut mir leid, wenn ich...

Hildebrandt: (lauter) Raus hier, verschwinden sie!


Regieanweisung: Fabienne erhebt sich, getadelt geht sie nun vor Hildebrandt her bis zur Haustür, diese öffnet sie selbst. Nachdem sie die Schwelle übertritt, blickt sie noch einmal in Hildebrandts abgewandtes, mürrisches und vom Alter zerfurchtes Gesicht.


Fabienne: Darf, ich sie wieder besuchen?


Regieanweisung: Hildebrandt wirft die Tür, die unter donnerndem Geräusch zufällt.

3. Der ewige Professor

Regieanweisung: Früh am nebeligen Morgen des nächsten Tages. Fabienne, in ihrem gelben Parker, nähert sich Hildebrandts Villa. Das Diktiergerät trägt sie mit sich.


Diktiergerät: (spult) ...uss es erfahren! Was, verdammt nochmal, kann einem einst so lebensfrohen Mann geschehen sein, dass er... (spult)
… iefer graben, sein Vertrauen gewinnen, ja, ich muss versuchen zu erfahren, was ihn so werden ließ, koste es, was es wo... (stop)
Fabienne: (drückt record) Ich muss ihm nur etwas Zeit geben, er will mir von dem Unfall erzählen, ich spüre es! (drückt stop)


Regieanweisung: Sie läutet, niemand öffnet. Sie wartet. Als sie wiederholt läuten möchte, bemerkt sie, dass die schwere Tür einen Spalt weit offen steht. Sie zögert, sieht sich um und schließlich tritt sie ein.
Im Flur verbindet eine barocke Wendeltreppe die Etagen. Es steht, mit dem Gesicht zur Wand, eine füllige Frau auf einem Stuhl und staubt, sich streckend und keuchend, den Bilderrahmen eines großen Landschaftsgemäldes ab. Die Frau scheint Fabienne nicht zu bemerken.


Fabienne: Ähm, entschuldigen sie!
Entschuldigung?
.
(Sie tritt näher an die abgewandte Frau)
Entschuldigen sie bitte, die Tür stand offen!
Ist der Herr Professor zuhause?

Füllige Frau: Huuuh (immer in sehr hohem Ton).. Ist es?
Es ist doch nicht zu.. verfl... nicht zu, glauben ist das!
Es ist zum, zum, Mäuse...

Fabienne: Wie bitte?

Füllige Frau: Also, ich könnte.. ist es denn die Möglichkeit? Man sollte, also man sollte wirklich.. Unfassbar!
Huuuh, Un-fass-bar!!


Regieanweisung: Aus dem Wohnzimmer tritt Hildebrandt hinzu. Er trägt einen karminroten Seidenmantel und dazu bequem aussehende Hausschuhe. Unpassender Weise hält er eine Gartenschere in den erdigen Händen, welche er im Flur achtlos auf einer Kommode ablegt, während er in ruhigem Ton das Wort ergreift.


Hildebrandt: Das ist Patritzia, Patritzia die Putzfrau.
Sie kann sie nicht hören.
Seit dem zweiten Hörsturz, hört sie fast gar nichts mehr.

Putzfrau: (scheinbar zum lieben Gott) Es, es-kann-doch-nicht-sein, dass, Huuuh, dass, also, sollte man es??

Hildebrandt: Seit einiger Zeit redet sie gerne mit sich selbst. Sie flucht und schimpft und nörgelt uun-ent-wegt und zudem sieht sie, zumindest, wenn ich mich nicht täusche, Geister, jaja, Gespenster, also kommen sie schnell, bevor sie sie noch für einen hält, vom Stuhl fällt und sich das Genick bricht.
Kommen sie, Frau Stern. Kommen sie rein und setzen sie sich.


Regieanweisung: Auf Zehenspitzen folgt Fabienne Hildebrandt, vorbei an der nörgelnden Putzfrau, ins Wohnzimmer. Mit flüchtigem Fingerzeig weist er ihr wieder ihren gestrigen Platz auf der Couch zu. Sie setzen sich.


Fabienne: Hören sie, Herr Professor, es tut mir sehr leid, dass ich sie gestern so plump...

Hildebrandt: Jaja, Kind.. lassen wir das. Wie sie ja nun wissen, bin ich an Besuch nicht gewöhnt, noch dazu an keinen so wissbegierigen.
.
Und, sehen sie, es ist schon viele Jahre her, dass mich jemand auf jenen Vorfall angesprochen hat.
Ja.. (schluckt schwer)
.
(räuspert sich) Ja..
Jedenfalls.
Ich habe nachgedacht.

Fabienne: Über was?

Hildebrandt: Über sie,
Über ihr Stück,
Über ihre Tragödie...

Fabienne: Aber, woher?.. Ich habe ihnen doch noch gar nichts davon erzählt!?

Hildebrandt: Jaja, und das sollten sie auch nicht, schließlich will ich ihre Handlung nicht am Ende noch allzu offensichtlich beeinflusst haben.

Fabienne: Meine Handlung beeinfl...

Hildebrandt: Jaja, jaja, sehen sie,
ich habe also die letzte Nacht damit zugebracht, darüber nachzudenken, was sie mir von ihrer Figur berichtet haben.
Sie sagten ihre Figur dränge sie auf mich und sie nähme Züge an, so, als handele sie selbstständig, so, als müssten sie sie bändigen, verstehe ich sie da richtig?

Fabienne: Mmm-na, also wenn sie es unbedingt so wollen, ich denke, so könnte man es schon ausdrücken, ja, doch!
Wissen sie, ich spüre da schon so etwas wie einen Willen der Figur.
Ich entwerfe sie in ihren Grundzügen, es kommt auch vor, dass ich von einer Sekunde zur nächsten genau weiß, wie sie sein muss, wie sie aussehen soll, wie sie sich bewegt, vielleicht wie sie riecht und redet, denkt, schwitzt, sitzt.
Ich füge ihr dann, um sie wirken zu lassen, einige Eigenschaften, Marotten, Ticks oder Gewohnheiten zu und sehe, wohin ich mit ihr gehen kann und mit dieser Figur, mit dieser bin ich zu ihnen gekommen.

Hildebrandt: Mhhnnija, das sehe ich. Ich denke genau da liegt das Problem.
Ohne nun IHNEN zu nahe treten zu wollen, muss ich sie doch fragen: Glauben sie nicht, dass sie es sind, die Kontrolle über ihre Figuren ausüben sollte?

Fabienne: Na ja, ich denke, es ist wie mit den Blumen dort in ihrem Garten. Einige brauchen eben mehr Raum, um sich zu entfalten, als andere.

Hildebrandt: Neinnein, das denke ich nicht! Hier unterscheiden sich unsere Meinungen wohl grundlegend.

Fabienne: Nun, Na ja, also...

Hildebrandt: (plötzlich lauter) Denn WIE sollen ihre Figuren Hand und Fuß haben, wenn SIE sie ohne Kopf entwerfen?
.
Kind...
Sie glaubten ja nicht, wie viele Stunden ich Tag und Nacht damit zubringe, diesen Garten so wirken zu lassen, wie er wirkt, wie er blüht.
(nuschelt mürrisch) Hmm-und doch bin ich noch immer nicht so ganz und gar zufrieden damit.
Also: Wenn wahre Kunst kinderleicht anmutet, ist das Teil ihrer Künstlichkeit!
Wie sollen sich Handlungsstränge ergeben, wie eine Katharsis, Peripherie, eine Pointe oder dergleichen zustande kommen, wenn ihre Figuren eigensinnig und ganz ohne Führung sind, wie?
Na, na, wo kämen wir denn da hin?

Fabienne: Also, eigentlich...

Hildebrandt: Hören sie Kind, sie handeln ganz recht, wenn sie zu mir kommen. Machen sie sich nur Notizen, ihre Tonaufnahmen, erfassen sie die Wirklichkeit. Denn, eine Figur entsteht nicht einfach so aus ihrem Inneren, Neinnein, sie können sie nicht aus sich herausschneiden wie der Kaufmann von Venedig das Pfund Fleisch oder sie wie einen Säugling gebären.
Neinnein.
Nein, Recherche ist alles.
Orientieren sie sich noch stärker an der Wirklichkeit, denn, sehen sie, kein Theaterstück und kein Roman lässt seine Handlungsstränge und Figuren jemals so im Dreieck zickzack springen wie die Wirklichkeit es macht, njaja, denn die stumpfen Rezipienten würden es für Unwahr halten;
wollen sie, Frau Stern, den Stumpfen Stücke schreiben? Naa, nicht doch!
Sie müssen ihre Gegenstände kennen.
Von innen wie von außen kennen.
Wie ein Landschaftsmaler müssen sie sie vor Augen haben und mehr als das Frau Stern, es ist mehr noch.
Der Landschaftsmaler malt ja einen Augenblick, eine Aussicht zu einem Zeitpunkt.
Sie aber wollen das Gemälde eines Zeitraums anfertigen, verstehen sie mich?!
Und sie wollen nicht etwa nur eine Landschaft malen, obwohl allein das schon, sofern es gut gemacht ist, eine schriftstellerische Meisterleistung ist.
Nein, sie wollen Figuren in der Welt herum agieren lassen.
Und-so-sage-ich es ihnen noch-ein-mal, Recherche ist alles.
Beobachten sie, machen sie sich ihre Notizen und geben sie wieder.
So, und nur so wird es glaubhaft und gut, was sie sich vorgenommen haben.
Ja aber was haben sie denn, Kind?
Sie müssen mich schon unterbrechen, wenn ich ihnen zu viel rede.

Fabienne: Ja aber glauben sie denn nicht, dass der Mensch, dass zumindest der Künstler aufgrund seiner Veranlagung und seiner Intuition, vielleicht seiner Empathie, einen künstlichen Menschen quasi.. erschaffen kann?
Ich meine, gibt es dafür denn nicht hundert und tausend makelloser Beispiele in der Literatur?

Hildebrandt: Wen? Mary Shelleys Monster? Jaja, ich bitte sie, Frau Stern, glauben sie denn nicht, dass die großen Autoren nicht schon immer bis hin zur völligen Selbstaufopferung alles von sich selbst in ihren Figuren preisgaben und den gemeinen Lesern zur Schau stellten?
Glauben sie denn nicht, dass es für all diese Figuren nicht auch reale Vorbilder gegeben hätte? Gerade sie als belesene Literaturwissenschaftlerin, ja quasi als waschechte Schriftstellerin dürften doch von zahlreichen Fällen wissen, bei denen sich der Abgebildete in der Romanfigur unverkennbar wiedererkannte, sich auf den Schlips getreten oder vielleicht sogar geehrt fühlte. Manns Peeperkorn - Gerhard Hauptmann; Goethes Lotte - die Buff und so fort und so weiter und-so-weiter-und-so-fort.. Jaaja.
Was sie da den famosen Helden der Weltliteratur zuschreiben, sind stets die kodierten Emotionen und tiefsten Wünsche und Träume oder, und vielleicht vor allem anderen auch die Ängste ihrer Schreiber, sind nicht selten schlicht und gut die peinlich genauen Abschriften realexistierender Vorbilder, mhjaja.
Es sind nur Schäume, Illusionen, nichts als gekonnt in Szene gesetzte Illusionen.

Fabienne: (entschlossen und lauter als zuvor, herausfordernd)
Nein, Herr Professor! Nein!
Sie irren sich!
Da ist noch mehr, ich weiß es!
Alles von sich selbst in sein Schreiben zu legen reicht nicht aus.
Es reicht bei weitem nicht aus.
Sie wissen es, zumindest wussten sie es einmal bis zu diesem, diesem Unfall.
„Geschriebenes muss atmen und hat Puls!“
Das waren ihre Worte...

Hildebrandt: Jaja und wenn schon, was weiß ich schon?!
Geschriebenes!
Geschriebenes ist Tinte, trocken, tot, Druckerschwärze auf Papier.
Letzten Endes nur ein Regelwerk wie jedes andere
und die Schöpfung, die lassen sie mal besser des lieben Gottes Sache sein.
Sie wollen Figuren erschaffen, machen sie sich nicht lächerlich...

Fabienne: Entschuldigen sie, das ist, das ist Unsinn! Blanker Schwachsinn!

Hildebrandt: (ruhig und scheinbar bedächtig) Unsinn, ja? Schwach-sinn!

Fabienne: (laut und hastig) Ich habe immer großen Wert auf ihre Lehren gelegt aber sie widersprechen sich nicht nur, sie stellen sich auch gegen alles, was ich fühle beim Schreiben.
Sie können nicht recht haben damit!

Hildebrandt: Aach, Kind...

Fabienne: Und, und Herr Professor, sagen sie, woher zum Teufel glauben sie eigentlich zu wissen, dass es sich bei meinem Stück um eine Tragödie handeln soll?
Ich hatte es mit keinem Wort erwäh...

Hildebrandt: Frau Stern.. Weil ich sie ihnen in diesem Moment vorlege, ihre Tragödie, sie ihnen nahezu diktiere, ja genau genommen durch sie hindurch in die freiliegende Wel-ten-see-le ein-rit-ze, meine, Liebe.

Fabienne: Was reden sie denn da??

Hildebrandt: Sie fragten, ob sie mich wegen des Unfalles verlassen hatte.
.
Nun, ja. Ja! Ich denke, das hat sie!
(leiser) Ich denke das hat sie..
Genau genommen war es allerdings gar kein Unfall.
Wissen sie, es war wohl mehr grob fahrlässiges Verhalten.
Eine ganz und gar hirn- und gottlose Begebenheit, jaja.
.
Gehen sie nur sicher, dass ihr Gerät alles aufzeichnet was nun folgt, Frau Stern, noch besser, schreiben sie mit, machen sie sich Notizen, so viel sie können, denn ein zweites Mal werde ich es ihnen nicht berichten.


Regieanweisung: Hildebrandt zündet abermals seine Pfeife an, während er spricht und im Hintergrund hört man leise die Putzfrau schimpfen. („Ein Katzenjammer, ein verflu...“)


Hildebrandt: Ich weiß ja sehr wohl, dass nach meiner plötzlichen Abwesenheit damals allerhand der abwegigsten Gerüchte auf dem Campus die Runde machten, über diesen, diesen, wie sie ihn nannten, schrecklichen Unfall, hmjaja, nun, jetzt erfahren sie die Wahrheit.

4. Der geheimnisvolle Fall

Regieanweisung: Licht aus (5-10 Sekunden Dunkelheit). Fade In des Scheinwerferlichts von oben auf Hildebrandt. Ein leichter Hall auf seiner tranceartig monotonen Stimme.


Hildebrandt: Ein Tag, ein Tag wie ein unbeschriebenes Blatt.
Ein Samstag, der letzte im Mai, 19, 98. Wie ich mich heute daran erinnere, sehe ich keine Wolke am Himmel, nicht eine, kein Wind.
Ramon, unser Großer, verbringt den Morgen bei einem Freund und seine Mutter ist wie jeden Samstag bei meinen Schwiegereltern zu Besuch.
Sie fragt mich schon längst nicht mehr, ob ich mit ihr komme.
Unsere Tochter, unsere kleine Laura hat sie bei sich. Sie ist jetzt neun Monate alt. Sie scheint glücklicherweise die Nase meiner Frau zu bekommen, die aschblonden Haare hat sie von mir, ihre jadegrünen Augen aber, die gehören ganz und gar ihr selbst, die schuldet sie niemandem.
Ich sitze also in meinem Arbeitszimmer. Obwohl es draußen noch nicht mehr als 18 Grad haben dürfte, surrt die Klimaanlage auf der kleinen Stufe und ich korrigiere mehr schlecht als recht die zu spät eingegangenen Arbeiten der Nachzügler vom letzten Semester. Es ist zunächst nichts dabei, was meinen Eindruck hebt oder senkt, wissen sie, nur diese nicht zu überblickende Menge korrekturbedürftiger Viertsemesterübungen, ein Beerg ist das!
Und dann komme ich zur Hausarbeit einer Studentin, die mir zuvor schon durch ihr Aussehen aufgefallen war.
Milena Wanner.
Sie kennen sie?

Fabienne: (Nur ihre Stimme ist zu hören) Nein, der Name sagt mir nichts.

Hildebrandt: Jaja, das ist nicht weiter verwunderlich. Ich habe sie nie mit Kommilitonen sprechen sehen, auch selbst habe ich nie ein Wort mit ihr gewechselt.
.
Sie war ein Mädchen wie gemalt, reine, helle Haut, braune, kurze Haare und Irides, die nahezu ganz das Weiße ihrer Augen verdecken. Zierlich, fast zerbrechlich, gekleidet ist sie mehr wie eine Tänzerin als wie ein Mädchen ihres Alters.
Konträr dazu liegt in ihrem Ausdruck stets etwas,
jaja, etwas Strenges, ihre Züge sind immer unter ganz bewusster Kontrolle, nichtssagend.
Sie wirkt älter als sie ist, stark und unnahbar dadurch.
(leiser) Und..
wenn man sie dann genauer ansieht –
traurig, traurig und allein.
...
Ich schlage also ihre Hausarbeit auf und was ich dann finde schnürt mir die trockene Kehle zu – Ein Foto.
Dieses so diskrete und förmliche Mädchen – und vergessen sie nicht, ich könnte leicht ihr Vater sein – legt ihrer Arbeit ein Schwarzweißfoto bei, welches sie auf einer Bank zeigt, seitliches Profil, der melancholische Blick zur Kamera hin, jaja, die Beine hoch angewinkelt und das Gesicht seitlich auf den Knien liegend, sodass ihr Kleid den Ausblick auf den hinteren Teil ihrer Schenkel bis nach unten zum Po zulässt und, und offensichtlich trägt Frau Wanner keine Unterwäsche auf diesem schwarz-weißen-Fo-to.
In eben jenem Moment – es war einer dieser Momente, die wie Blei sind – höre ich, wie meine Frau von ihren Eltern zurückkommt, ja. Ich schlage also die Arbeit zu und lege sie zurück unter die obersten Paar der Unkorrigierten.
Ohne, dass ich mir eigentlich etwas zuschulden habe kommen lassen, fühle ich mich ertappt, verstehen sie?!
Ich stehe auf, verlasse das Arbeitszimmer und begegne meiner Frau auf der Wendeltreppe im Flur. Sie trägt Laura im Kinderkörbchen mit sich. Ich will sie begrüßen, sie sagt: „Hast du an den Einkauf gedacht?“.
Sie hatte mich, bevor sie gegangen war, noch gebeten für den morgigen Tag einige Dinge zu besorgen, da Ramon dann seinen elften Geburtstag hatte, ja...(er lächelt etwas)
Bevor sie zu ihren Eltern gefahren war, hatte sie noch gefragt: „Ich kann mich auf dich verlassen?“ jaja, und ich hatte geantwortet: „Was glaubst du denn, natürlich!“ (er lacht)
Ohne näher auf mein Versäumnis einzugehen, werfe ich mir – unter ihren Nachreden: „Typisch, einfach typisch für dich.“ – ein Sakko über, greife mir die Autoschlüssel – sie hängen bei uns im Flur, am Fuß der Wendeltreppe – und will zur Tür hinaus, als sie noch sagt: „Warte, nimm Laura mit, sie raubt mir heute noch den letzten Nerv, ständig schreit sie, sie hat schlimme Blähungen, der kleine Pups“. Ich gehe also zurück, nehme ihr den Korb mit dem kleinen Engelchen darin ab und sie sagt noch: „Wir brauchen jetzt wirklich eine Putzhilfe“ dass würde ihr alles zuviel und dergleichen mehr mhja. Ich gehe, das Kinderkörbchen im Arm, die paar Schritte zum Wagen, ein schwarzer, englischer Geländewagen, Range Rover. Während dessen denke ich an Milena Wanners schwarz-weißes Foto. Meine Frau hatte den Wagen genommen, als sie ihre Eltern besucht hatte und deswegen parkt er noch in der Einfahrt. Diese glatten, jungen Beine.. Ich bin verärgert als ich bemerke, dass sie wieder Mal den kompletten Kofferraum mit Gardinen und anderem sperrigen wie unnützem Zeugs ihrer Mutter zugeladen hat und muss den Kopf schütteln, als ich mich frage, wie sie so im Rückspiegel überhaupt etwas sehen konnte. Meine Güte! Ich öffne also den Kofferraum, stelle Laura samt ihrem Körbchen eben auf dem Boden ab und bringe etwas Ordnung in diesen Schlamassel. Die langen Gardinenstäbe nehme ich raus, sodass ich wenigstens; diese Pobacken wie..., wenigstens etwas sehen kann, wenn ich zum Supermarkt fahre. Ich nehme also die Gardinen, stelle sie neben die Haustür, eine Putzhilfe also, und plane sie später mit rein zu nehmen, wenn ich von den Geburtstagseinkäufen wieder zurück komme. Unentwegt zerren mich meine Gedanken zwischen die jungen Beine Frau Wanners. Ich steige ein, drehe den Schlüssel, lege den Rückwärtsgang ein und fahre aus der Hofeinfahrt und wie ich merke, dass, dass...


Regieanweisung: Hildebrandt zielt mit seinem Blick förmlich auf Fabiennes Augen und verweilt, fährt darin herum als suche er etwas in ihnen.


Hildebrandt: Niaja und dann fragte ich mich seltsamerweise zu aller erst einmal, wie sie ihr den letzten Nerv hatte rauben können? Sie hatte die ganze Zeit über keinen Mucks gemacht, keinen Mucks!

5. Schluss

Regieanweisung: Noch immer im Wohnzimmer. Die Beleuchtung wieder wie zuvor. Es dauert bis Fabienne die schreckliche Pointe begreift und ihr aufmerksam fragender Blick in einen ungläubig angewiderten und vorwurfsvollen übergeht.


Fabienne: Oh, oh mein, Gott, sie, sie haben...

Hildebrandt: Jaa, das habe ich!
Es ist, als lastete ein Fluch auf dem Namen Hildebrandt, ein Fluch auf unserer Blutlinie, der sie so dünn hält, dass sie mit jeder weiteren Generation stets droht auszudörren, abzubrechen und ins große, weite Nichts zu dunsten.
Nija, wiiee, dem, auch, sei, ich hoffe, sie konnten alles aufzeichnen, mit ihrem Gerät, Frau Stern. Und was meinen sie, hat diese Geschichte potenzial, atmet sie? Hat-sie-Puls? Ist sie nicht eine wahre und doch theatralische Tragödie, ein Fall von epischer Tiefe??
.
Fabienne: Hö, hören sie - Bitte...

Hildebrandt: Merken sie es sich, Kind, solche Geschichten entstammen keinem Schriftstellerhirn, es schreibt sie einzig und allein das nasskalte Leben, es schreibt sie mit Knochenmark, und Blut, und kratzender Feder.

Fabienne: Nein, nein!?
Hören sie, ich wusste ja nicht, Herr Professor, mir ist... ich glaube, ich muss mich... kann ich? ihre Toilette?
Nein, warten sie..
Hö, hören sie, Herr Professor, so kann ich das unmöglich schreiben. Es ist, es ist...

Hildebrandt: Doch, doch, mein Kind, das können sie. Viel mehr werden sie es nicht mehr unterlassen können, je länger sie sich nachts darüber ihren schönen Schädel martern. Und auch wenn sie schließlich dann doch schlafen können, werden sie von Katzen und von greisen Käuzen träumen, die ganz unverblümt in aufgesperrte Kindersärge grinsen, (kichert) mhjajaajaaa.

Fabienne: Herr Pro...

Hildebrandt: Jaja, zunächst werden sie mit sich hadern, daran zweifeln, ob sie es können, sie werden mit sich selbst hart ins ethische Gericht gehen und schließlich,
schließlich-werden-sie-es-schreiben.
.
In Wahrheit ist ihr Unterbewusstsein doch schon längst am Formulieren.
.
Und sehen sie, Kind, wenn es stimmt, dass der Mensch als selbstverschuldetes Wesen sein Schicksal bestimmt, muss ich ihnen, und was mir noch weit schwerer fällt, muss ich mir selbst doch endlich eingestehen, dass sie vielleicht doch mehr recht haben mit dem, was sie über ihre Figuren sagen, als ich es bisher zugeben wollte, das heisst, vielleicht ist doch etwas Wahres daran, dass manche, ja, dass streng ausgewählte Menschen ihren Figuren durch die pure Intuition so etwas wie, wie wahres Leben einhauchen.

Fabienne: (Noch immer benommen sagt sie abwesend und fast gleichgültig)
Es, es wird wohl ein bisschen was von beidem sein. Ich weiß es nicht, ich denke ich sollte jetzt g...


Regieanweisung: Hildebrandt erhebt sich von seinem Sessel geht zum Plattenspieler und legt eine Schallplatte auf. Die Walküre von Richard Wagner. Er nimmt scheinbar wahllos ein paar Blätter von einem der Stapel und kommt näher an Fabienne heran, bis er knapp vor ihr stehen bleibt und sich bis vor das Gesicht der Sitzenden herunter beugt.

Hildebrandt: Jaja, Vielleicht! Denn sehen sie, jetzt macht es doch alles einen Sinn!!
Sie schreiben ihre Figur.
Doch kaum geschrieben, beansprucht ihre Figur Rechte, sie drängt sie. Sie atmet, und hat Puls, Züge nimmt sie an. Jaja, sie zerrt sie, zum-guten-alten Hildebrandt. Und sie kommen! Sie kommen mit ihr zu mir, weil sie sich davon versprechen, sich einige meiner Züge, nichtssagende Macken, vielleicht ja ein paar lustige Ticks zu stibitzen.
Aber vor allem kommen sie zu mir, weil sie wissen wollen, was es wirklich war, das ihren Professor gebrochen hat, damals. Sie wollen mich ausbluten, Kind, jaja, und so schrecken sie auch nicht davor zurück mir diese lästerliche Frage nach diesem, diesem Unfall zu stellen.
Aber was sie vorfinden ist größer als alles was sie erwarten konnten,
ich rede, wirke und sprenge das Rähmchen ihres illusionistischen Figürchens.
(Betont) ICH, bin nun ihre Figur und ich reiße die gesamte Handlung ihrer gotteslästerlichen, nichtswürdigen Tragödie an mich.
(Betonung nochmals gesteigert) ICH-MACHE-SIE zur Figur, Frau Stern.

Fabienne: He, Herr Professor?!?

Hildebrandt: Nija, wahrlich, Frau Stern, wahrhaftig.
Ich erinnere mich jetzt, ich, ich weiß es wieder.
Pss psss pssss, und-jetzt-schnurrrt sie wie eh, die alte-steife-Leder-katze!
Geschriebenes: Es MUSS atmen, HAT Puls.
Es gibt sie! Muss sie geben!
Ausgewählte Menschen, die der Literatur die Luft zum atmen,
das-hei-ße-Blut-zum-Leb-en-sind.
Menschen wie mich!
Vielleicht sind auch sie so ein Menschlein, zu glauben scheinen sie es ja, Lalala. Menschen wie uns, Kind, Menschen, so, wie wir!

Fabienne: (bestimmend) Ich denke, es ist besser, wenn ich nun gehe, Herr...

Hildebrandt: Sie dachten sie schreiben mich, aber Nein!
Nein!
Sagen sie mir, Frau Stern, wer schreibt hier wen?
Ich schreibe sie!
(schreit) ICH–SCHREIBE–SIE!
Hä? Wer–schreibt–hier–verdammt nochmal–ween?


Regieanweisung: Fabienne drückt sich ängstlich in die Lehne der Couch, doch umso weiter sie sich von ihm entfernt, desto näher rückt ihr Hildebrandt auf, sodass, immer wenn er schreit, sein Speichel ihr Gesicht benetzt.


Fabienne: (auch sie schreit nun in schrillem Ton) Ich warne sie, lassen sie mich, lassen sie mich, ich, ich will gehen, ich will hier raus, sie...

Hildebrandt: Sie können noch nicht gehen.


Regieanweisung: Immer wenn Fabienne den Versuch macht zu fliehen, springt ihr Hildebrandt in den Weg.


Fabienne: Ich–will hier raauus, sie alt...


Regieanweisung: Patritzia die Putzfrau tritt hinzu und bleibt am Rande des Geschehens stehen. Sie ist sichtlich überrascht von der Szene, versperrt sich den Mund mit beiden Händen. Hildebrandt springt vor Fabienne von einem Bein aufs andere und wedelt wild mit den Blättern, als dirigiere er damit das Orchester der Walküre, während er spricht.


Hildebrandt: Jaja, aber sie können jetzt noch nicht gehen, so habe ich es nicht geschrieben, so habe ich es nicht geschrieben, nein, sie können noch nicht gehen, Kind...


Regieanweisung: Hildebrandt macht einen Satz zurück und wirft in hohem Bogen erst die Pfeife, dann die Blätter in die Lüfte. Er tänzelt durch das Wohnzimmer und wiederholt immer wieder melodisch seinen Satz: „Sie können noch nicht gehen, so habe ich es nicht geschrieben!“. Nun entledigt er sich seines seidenen karminroten Bademantels, auch diesen lässt er durch den Raum gleiten. Entblößt scheint er aus nichts als Knochen zu bestehen. Er trägt jetzt nur noch viel zu weite, urinbefleckte Unterwäsche, die er festhalten muss und die bequem aussehenden Hausschuhe.


Fabienne: Pa, Patritzia, Frau Patritzia, bitte helfen sie mir, ich will auf der Stelle hier raus...

Putzfrau: Huuuh, Grundgütiger, also, das ist, einfach, nicht zu fassen, ist das, einfach-nicht zu-fassen!

Fabienne: Patritzia, hören sie mich nicht?? Rufen sie die Polizei, nun machen sie schon, sehen sie denn nicht...

Putzfrau: Es-soll-mich um Gottes-Wil-len der Schlag, wer soll das alles wieder putzen, ich könnte, ich könnte, vor Wut, bersten könnte ich.
Es ist doch zum... Huuh.

Fabienne: Oh mein Gott, haben sie denn hier alle den Verstand verl...

Hildebrandt: Kind, denken sie denn, sie kann sie hören?
Denken sie Patritzia die Putzfrau, personifizierte Alliteration, die sie darstellt, kann sie hören?
Nein, Frau Stern, nein, Kind.
Sie kann sie nicht hören, nein, so habe ich sie nicht geschrieben, Lalala, sie hört schlecht seit ihrem zweiten Hörsturz, wissen sie doch, Lala la...
Ich habe alles hier geschrieben, wie gefällt es ihnen?
Die große, schwere Tür, den Flur, das Gemälde darin und die Wendeltreppe, die Couch auf der sie sitzen, meinen Thron hier, Patritzia freilich.
Njah, der Garten wehrt sich etwas. Sie wissen, werte Kollegin, Natur beschreiben will gelernt sein. Aber es wird schon noch werden, schließlich habe ich ja Zeit wie Sand am Meer, seit ich nicht mehr lehre, La lalalaaa.


Regieanweisung: Im Hintergrund breitet sich langsam ein Feuer aus, das von Hildebrandts weggeworfener Pfeife geschürt wurde.


Hildebrandt: Sagen sie, riechen sie das?

Fabienne: (weint inzwischen) Bitte, bitte lassen sie mich gehen...

Hildebrandt: Es riecht nach...

Fabienne: Verdammt, sind sie blind und taub? es brennt!!

Hildebrandt: (verträumt) Oh, ja, für eine Sekunde dachte ich, so müsste auch Frau Wanner riechen, zwischen ihren...

Fabienne: (verzweifelt) Herr Professor, Herr Professor Hildebrandt, ich will jetzt bitte gehen, ich, ich werde niemandem etwas davon erzählen, ich verspre...

Hildebrandt: Niajaja aber sie können es nicht, weil ich sie nicht lasse.
Da sehen sie den Unterschied zwischen uns beiden.
Ich beherrsche meine Figuren, ich führe sie.
Denn auch sie, mein Kind, entstammen meiner Feder, ja auch sie habe ich geschrieben, mit ihrem gelben Parker und ihrer Hornbrille.
Sie erinnern sich, ich habe ihnen die Frisur meiner Mutter gegeben, habe ihnen die grünen Augen meiner kleinen Laura geliehen und selbst ihren Namen, ihr Zuname, nichts weiter als ein Anagramm, Lalala, ein Anagramm des Namens meines guten alten Väterchens, sie erinnern sich? Ich sagte ihnen doch er hieß Ernst! Lalala.
Jaja, Ach wissen sie, ich-schrei-be für mein Le-ben-gern. Es beruhigt mich einfach, ist sogar gut für meinen Blutdruck und ich kann Welten um mich schaffen,
und sie wieder einreißen, Frau Stern, Wel-ten.
.
Ach und Kind, jetzt, da sie es wissen.
Die Augen! Passen sie nur gut auf sie auf, ich will sie wiederhaben,
eines Tages.


Regieanweisung: Hier verliert Fabienne das letzte Restlein ihrer Fassung, springt auf die Couch, als nähme sie sich vor einer Ratte in Acht und bricht in schrillstes Brüllen aus, krallt sich ins Haar und verschließt abwechselnd Augen und Ohren.


Hildebrandt: Jetzt,
jetzt können sie gehen, und schreiben sie es auf, schreiben sie, wofür ich sie geschrieben habe, Lalala. Schreiben sie nur, jaja, schreiben sie nur.
.
Und senden sie mir ein Exemplar, legen sie die Augäpfel mit bei, sie wissen ja wo ich wohne, kennen die Adresse, Lalala Laaaah.

Putzfrau: Grund-gütiger, also, ist es denn zu? Huuuh, wer in der Welt soll denn das alles wieder in Ordnung bringen, man sollte, also man müsste, es ist einfach nicht zu glauben, ist das.


Regieanweisung: Der Raum steht jetzt lichterloh in Flammen, als Hildebrandt Fabienne endlich gewähren lässt und diese weinend an der fluchenden Putzfrau vorbei aus dem Wohnzimmer in den Flur (Szenenidee: Ist Gartenschere nun Füllfederhalter?) aus dem Gebäude läuft. Das Diktiergerät fällt ihr aus der zitternden Hand, während sie dabei zusieht, wie das Haus zu den Klängen der Walküre im lodernden Flammenmeer in sich zusammenbricht.


Diktiergerät: (spult)... eltsamerweise zu aller erst einmal, wie sie ihr den letzten Nerv hatte rauben können? Sie hatte die ganze Zeit über keinen Mucks gemacht, keinen Mucks! (sie hebt es hastig auf und drückt auf stop).

Ende.

 

Hallo,

das ist alles, aber keine Geschichte, keine Erzählung. Ich weiß nicht, soll das witzig sein mit den "Regieanweisungen" und dem "sagt mürrisch", "sagt hastig"?
Für mich ist das gar nichts, ich konnte das auch nicht zu Ende lesen. Ich denke, du nimmst dir mit einem solchen Formalismus die Leser.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Jimmy,

das ist der Versuch eines Theaterstücks. Die Regieanweisungen und Anmerkungen in Klammern sind Vorschläge zum Aufführen, bzw. um es sich vorstellen zu können.

Gruß Arvid

 

das ist der Versuch eines Theaterstücks.
Dann gehört das hier nicht hin. Allerdings: Wir haben eine Extra-Rubrik für so Bühnen-Zeugs unter "Projekte". Vielleicht gelingt es dir ja, die aus dem Dornröschenschlaf zu wecken ;)
Ich verschiebe mal ...

 

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