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Kohlhase vs. Kohlhaas

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12.04.2007
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Kohlhase vs. Kohlhaas

Wi(e)der gelesen die Geschichte des Hanß Kohlhase​

Das Leben nennt der Derwisch eine Reise,​
Und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen
Diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter.
Ich will auf halbem Weg mich niederlassen!
(Prinz Friedrich von Homburg IV, 3)​

„Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt …“,
singt wohlgemut der Volksmund. Doch nachdem dem Hans Kohlhase aus Cölln an der Spree nach geltendem Rechte Knochen gebrochen und Glieder zerschmettert worden, wird der Aufrührer und Mordgesell am 22. März 1540 aufs Rad geflochten und öffentlich zu Berlin hingerichtet - gleichermaßen zur Abschreckung aller Untertanen wie zur Erbauung des Publikums durch puren Horror.

Da hatte der Produktenhändler versucht, in einem siebenjährigen Streit allgemein geltendes Recht gegen den kursächsischen Adeligen Günther von Zaschwitz durchzusetzen. Auf Befehl nämlichen Junkers waren am 1. Oktober 1532 zwo Pferde dem Händler aus Kurbrandenburg auf der Straße von Wittenberg nach Leipzig gestohlen worden. Der Rechtsstreit drohte im Sande zu verlaufen. Doch statt einzulenken - K ... hätte von materieller Seite her sicherlich den Verlust der Pferde verschmerzen können - ging's dem Handelsmann eher ums Prinzip, als im Februar 1534 ein Fehdebrief des Kohlhas’ erschien: „Weil ich nun nichts mehr als meinen Leib und mein Leben vorzusetzen habe, so will sich gebühren, dass ich meine Ehre und meinen Glimpf, wie das einem Ehrliebenden zusteht, zur Notdurft verteidige; ich will aller Welt List und Behendigkeit gebrauchen, will sein Gottes und aller Welt Freund, allein Günther von Zaschwitz und dem ganzen Land zu Sachsen abgesagter Feind, wo ich sie bekomme, an Händen und Füßen lähmen, auch rauben und brennen, sie hinwegführen und schatzen, bis mir Günther von Zaschwitz Abtrag tut, und meinen Schaden, so ich allenthalben darüber genommen, zur Billigkeit erstattet."
Damit zeigte der „nicht unbegüterte“ Händler Hans Kohlhase, dass er bereit war, sich mit Gott, dem Adel und dem Rest der Welt anzulegen, war doch das Rechtsinstitut der Fehde mit dem Ewigen Landfrieden im gesamten Heiligen Römischen Reich seit nahezu vierzig Jahren verboten, dass Kohlhasens Landesvater, Kurfürst Joachim I. Nestor erklärte, es sei fast so, „wie der Kohlhase schreibt, dass er durch sächsische Justiz um seinen Glauben und ins Verderben gekommen ist."

Kohlhase – um den sich eine Schar Unzufriedener gesammelt hatte – zündelte am 9. und 10. April 1534 an drei Stellen Wittenberg. Trotz der konkret werdenden Warnung blieben neue Verhandlungen ergebnislos. Die Fehde eskalierte, dass Johann Friedrich, den die Nachwelt den Großmütigen nennt, Kurfürst von Sachsen und Erzmarschall des Reiches zunehmend den Kollegen Erzkämmerer, den Kurbrandenburger Joachim II. Hektor um Beistand bitten muss. Endlich! Am 2. Januar 1539 gab der nach und hieß seine Untertanen, den Sachsen „zur Einbringung Kohlhasens“ behilflich zu sein.

Schon 1534 hatte Kohlhase Luther um Hilfe gebeten. Der riet mit Schreiben vom 8. Dezember 1534 (liegt dem Verfasser vor) seinem „guten Freund“ Kohlhase, im Vertrauen auf Gott nachzugeben. Vergeblich!, wie wir wissen. Bekannt ist aber auch, dass Kohlhase sich persönlich an Luther wandte und dieser Hilfe versprach. Erfolglos!, müssen wir annehmen, denn Kohlhase konnte nach Berlin gelockt werden.

Sein Ende haben wir zu Anfang erfahren.

Im Juni 1808 erscheint zu Dresden, der kurfürstlichen Residenz zu Sachsen, im sechsten Heft des von A. H. Müller und Heinrich von Kleist herausgegebenen Phöbus ein erstes Fragment des Michael Kohlhaas, in dem der Schauplatz der Handlung unbestimmt gelassen wird – Kleist will wohl seinem Zeitschriftenprojekt nicht schaden. Bis zur Vollendung der historischen Novelle wird es noch bis zum Sommer 1810 dauern.
Quellen dieser mit ca. 130 Seiten Manuskript zu 60 Anschlägen je Zeile, und 30 Zeilen je Seite längsten Erzählung Kleists sind eine „Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober-Sachsen und angrenzenden Ländern" von Schöttgen und Kreysig (1731), wo aus dem „Mikrochronologicum" des Schulrektors Peter Hafftiz (zweite Hälfte des 16. Jh.) die umfangreiche Nachricht des Hanß Kohlhasen abgedruckt ist. Seit 1805 verfolgt den notorisch und konsequent erfolglosen Dichter die Geschichte, deren einleitender Satz eigentlich schon alles enthält:

„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“, ein Satz der Ort und Zeit benennt wie den Horror aus Rechtschaffenheit. Ein Satz so präzise wie ungenau zugleich: Präzis hinsichtlich der Erzählung, das selbst ein Mark Twain trotz all seiner Skepsis gegenüber der deutschen Grammatik seine Freude gehabt hätte, ungenau in den Fakten (Havel, Roßhändler, Schulmeister u. a.). Sehen wir davon ab, dass Kleist den Stoff nicht mit den Augen eines Historikers sieht, so fällt selbst in einer Zeit ohne einheitlicher Rechtschreibung vor allem der geänderte Vorname auf. Was dem Leser Warnung genug sein müsste:

Johannes/Hans kommt vom hebräischen Johanan, „Gott ist gnädig“, Michael hingegen bedeutet „Wer ist (wie) Gott“ und bezeichnet in all seiner Überhöhung nach Daniel 10 im Alten Testament den Erzengel wie den Führer der himmlischen Heerscharen wider Satan (Johannes 12, NT). Er steht fürs Volk Israel („Gott kämpft“) wie für das Volk, das die größte Schuld gegen die Kinder Israels auf sich laden wird: Michael ist Schutzpatron der Deutschen, die mit dem deutschen Michel im 30-jährigen Krieg einen Reitergeneral gefunden hat, der die Deutschen wachrütteln wollte – was daraus geworden ist, bedarf der Zipfelmütze und sonst keines weiteren Wortes.

Zudem ist Kleist kein neutraler Beobachter – Kleist selbst ist Partei und identifiziert sich mit dem Protagonisten, der im Kleinen durchzieht, was dem Sprössling einer brandenburgisch-preußischen Offiziersfamilie durch die zu Angsthasen mutierten Hohenzollern versagt bleibt: Ein der spanischen Guerilla vergleichbarer Volksaufstand gegen Napoleon.

Was unterm Schlagbaum bei der Tronkaburg mit einem Wortgefecht wie in einem Lustspiel beginnt, schaukelt sich mit jedem Abschnitt hinauf zur Tragödie – und immer der Bezug zum Vornamen: Mit der Erstürmung der Tronkaburg:

„Der Engel des Gerichts fährt … vom Himmel herab“ [S. 32]

Vor Leipzig nennt Kohlhaas sich „ … »einen Statthalter Michaels, des Erzengels, der gekommen sei, an allen, die in dieser Streitsache des Junkers Partei ergreifen würden, mit Feuer und Schwert, die Arglist, in welcher die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen«.“ [S. 45]

Im Gespräch mit Luther: „Setzt Euch und hört mich an; unter den Engeln, deren Psalmen Ihr aufschreibt, seid Ihr nicht sicherer, als bei mir.“ [50 f.]

Und letztlich aus der Sicht der anderen: „Die Nachricht, daß der Würgengel da sei, der die Volksbedrücker mit Feuer und Schwert verfolgte, hatte ganz Dresden, Stadt und Vorstadt, auf die Beine gebracht; man mußte die Haustür vor dem Andrang des neugierigen Haufens verriegeln, und die Jungen kletterten an den Fenstern heran, um den Mordbrenner, der darin frühstückte, in Augenschein zu nehmen.“ [S. 63]

Form und Inhalt des Kohlhaas korrespondieren miteinander. Die Kleinkrämerseele hätte ihre helle Freude an scheinbaren Verstößen wider alle Grammatik. Da ist diese willkürlich erscheinende Interpunktion, die erst dann begriffen wird, wenn einer weiß, dass Kleist sich – wie ein anderer großer Novellist, Gottfried Keller nämlich – als Dramatiker versteht. Es sind Regieanweisungen, wie der Autor gerne einen Auftritt zu erleben wünscht. Ulrich Greiner bringt es auf den Punkt: „Kleist benutzt die Satzzeichen als rhythmische Markierungen, er verwendet sie wie ein Schlagzeug, um den Exzess anzufeuern. Nicht allein das, was diese Satzkaskade schildert, ist Gewalt, sondern der sprachliche Sturzbach selber ist Gewalt, eine Gewalt, die das Sprachgefüge bis ins Innerste zum Beben bringt, aber niemals zum Einsturz.“

Die Prosa muss dem ungeübten Leser wie ein „hypotaktische Horror“ erscheinen. Und doch ist die Architektur der Kleist’schen Sprache einzigartig, „und man kann sagen, dass Kleists Beitrag zur Verbesserung des Deutschen hauptsächlich darin bestand, dessen Ausdrucksfähigkeit an die Grenze des Möglichen und Erträglichen ausgedehnt zu haben.“
Sein Thema ist nicht, wie das Leben sein soll, sondern aufzuzeigen, wie es ist. Darum lässt Gewalt sich nicht ausgrenzen –

und kein deutscher Dichter ist mir bekannt, der solche Gewaltphantasien auslebt wie z. B. wieder zurück zur Erstürmung der Tronkaburg: „Kohlhaas, der, beim Eintritt in den Saal, einen Junker Hans von Tronka, der ihm entgegen kam, bei der Brust faßte, und in den Winkel des Saals schleuderte, daß er sein Hirn an den Steinen versprützte, …“ [S. 32 f.] -

und Aberglaube (in der Wiedergängerin Lisbeth) nicht ausschließen.

Die Novelle lässt sich als je aktuelle Auseinandersetzung mit Rechtspositionen lesen. Wer hätte nicht schon einmal das Gefühl gehabt, dass „die“ Gesetze für den Wohlhabenden weniger gälten als für den Besitzlosen (kann der doch nicht mal ordentlich Steuern hinterziehn und sich freikaufen!).
Die Rolle der Staatsrepräsentanten im Verhältnis zu Eliten (Vitamin B/eziehung) kommt zur Sprache wie das Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Freilich: er verfremdet die Aktualität, ohne der Brecht’schen Theatertheorie vorzugreifen, indem er eine uralte Geschichte in Form einer Chronik erzählt, ohne die Psychologie der Figuren vorm Leser breitzutreten.
Zweifellos legitimiert die offizielle Ökonomie die Enteignung derer, die eh nix haben, wenn Eliten das Motto ausleben, so gerissen als möglich zu sein und gleichzeitig zu nehmen, woher auch immer und so viel man kann. Wo ganze Bevölkerungsgruppen vom Status verleihenden Konsumgut ausgeschlossen werden, werden die food riots des 18. Jh. auferstehen und nicht auf Frankreich (2005) oder aktuell dem UK begrenzt bleiben, als würde nur dort eine „industrielle Reservearmee“ (Karl Marx) mit einem stockenden und quasi verewigten Anteil vorgehalten. Der eigenen Enteignung setzt man die Plünderung entgegen. Es ist, als lauerte diese sprachlose – sieht man von Pidgin und Kreolisch ab - und doch durchaus nicht stumme Masse auf „rechtschaffen(d)e“ und doch „entsetzliche“ Menschen, die zugleich mehr sind als bloße bushranger.

Den Michael Kohlhaas gibt es in diversen Einzelausgaben wie Sammelwerken div. Verlage, aber auch hier im Internet als PDF-Datei im

Kleist-Archiv Sembdner, Internet-Editionen,
oder auch bei gutenberg.de, deren Fassung ich hier missbraucht habe, indem ich es auf das traditionelle Manuskript im Format von 60 Anschlägen/Zeile und 30 Zeilen/Seite ohne Trennung zurückführte und die Zeilenzählung bei den Zitaten verwendete, dass jeder relativ schnell die Stelle in seinem Exemplar finden und nachschlagen könnte.

Die Zeit Nr. 2 vom 5. Januar 2011, S. 37 ff., befasste sich ausführlich mit Kleist. Von den Artikeln wurden hier eingeflochten
Ulrich Greiner: Bis an die Grenze des Sagbaren, aaO, S. 41,
Philipp Reemtsma in einem Gespräch mit der Zeit, aaO, S. 38 und
der einleitende Artikel von Adam Sobocynski: Schöne Abgründe, aaO, S. 37 f., ein treffender Titel zu einem Dichter, bei dem die Liebe ein zum Fressen gern haben bedeutet.

 

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