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J. Ouwens: Die Zeitmeisterin - K. Kruse: Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

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31.08.2008
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J. Ouwens: Die Zeitmeisterin - K. Kruse: Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

Jutta Ouwens: Die Zeitmeisterin
Kuno Kruse: Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

Zwei Bücher über Schicksale mißbrauchter Menschen, eines über eine Frau, eines über einen Mann. Eines über Mißbrauch in der Familie, eines über Mißbrauch in einer Institution. Die Frau erleidet die Aufspaltung ihres Bewußtseins, der Mann einen Gedächtnisverlust. Beide Fälle sind authentisch, werden jedoch in Form eines Romanes vorgestellt.

Jutta Ouwens ist vom Fach, mit großer Kompetenz und Feinfühligkeit bringt sie uns das Schicksal einer Frau nahe, die als Kind im Elternhaus mißhandelt und mißbraucht wurde. Die Betroffene entwickelt eine dissoziative Persönlichkeitsstörung, d.h. ihr Bewußtsein spaltet sich in einzelne, voneinander getrennt agierende Einheiten auf, die wenig Zugang zueinander haben; sie kann sich oft nicht erinnern, was sie gerade eben – unter Kontrolle eines anderen Teils von ihr – getan hat. Auf diese Weise fehlen „ihr“ immer wieder Zeiträume in „ihrem“ Leben – einem Teil fehlt die Erinnerung, was ein anderer Teil erlebt hat.
Die Autorin erzählt chronologisch, in der Kindheit beginnend bis zum Aufbrechen der Störung und zur Therapie im Erwachsenenalter. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist die größere Nähe zur Protagonistin und das Verständnis, was dem Leser vermittelt wird. Vom literarischen Standpunkt her ist es spannender, wie beim Therapiefortschritt rückschreitend zu erzählen und den Ursprung des Leidens zum Schluß offenzulegen. Der käme dann allerdings als Abgrund, ohne Auflösung – so kommt er als Erleichterung; man freut sich mit der Protagonistin, daß sie ihren Ursprung gefunden und nun Aussicht auf Heilung hat.
Der Gesundheitsapparat funktioniert in dieser Geschichte vorbildlich; die Prot. hat eigentlich immer die optimale Unterstützung, wenn man davon absieht, daß bei ihrer medizinischen Untersuchung im Kindesalter zwar die schweren Verletzungen durch Schläge, aber nicht die Vergewaltigungen aufgedeckt werden. Kindliche Opfer haben viele Chancen, im Leben immer wieder Opfer zu werden – das bleibt dieser Prot. erspart.
Ein einfühlsames Buch über die Entstehung der dissoziativen Persönlichkeitsstörung.

Kuno Kruse ist Journalist und versteht es, seiner Geschichte noch mehr Romangestalt zu geben als Jutta Ouwens ihrer, obwohl er sein Buch nicht Roman nennt. Er beschreibt das Schicksal von Jonathan Overfeld, den es wirklich gibt und der hier nicht anonymisiert wird. Der Prot. findet sich eines Tages auf einer Parkbank und kann sich an nichts erinnern, nicht an seinen Namen, seinen Beruf, seine Freundin, sein Leben. Er wird aufgefunden und behandelt, aber immer wieder wird ihm mit Mißtrauen begegnet: ist dieser Mensch ein Simulant? Ist er ein Krimineller? Wie kann es ein, daß er nicht weiß, was er in seinem Leben getan hat, aber phantastisch Klavier spielt?
Der Autor führt auf diese Weise den Leser in die Natur der Amnesie ein, in ihre Bedeutung als Schutzmechanismus und das selektive Wirken, daß sich auch mit neurologischen Untersuchungen darstellen läßt: es sind nur solche Teile des Großhirns stillgelegt und zeigen keinen Stoffwechsel, in denen das biographische Gedächtnis funktioniert. Und: der Autor arbeitet sich, anders als Jutta Ouwens, rückwärts zur Ursache vor, so, wie die Therapie das Gedächtnis stückweise wieder herstellt und das Grauen der Kindheit des Prot. offenbar wird.
Jonathan Overfeld hat in einem katholischen Heim jahrelang Zwangsarbeit, Folter und sexuellen Mißbrauch erlitten. Man liest von regelmäßigen Vergewaltigungen, Schlägen, betäubenden Cocktails, gewerbsmäßige Verleihung der Kinder für den Mißbrauch durch Fremde außerhalb des Heimes, Abtransport der Leichen toter Jungen in grünen Müllsäcken. Dem Leser bleibt nichts erspart; das System, mit dem die Priester die Jungen ausbeuteten, wird schonungslos offengelegt, die Schuldigen werden benannt. Der Haupttäter genießt heute seine Pension, in der Vitrine das Bundesverdienstkreuz.- Mord verjährt nicht; angesichts dieser Offenlegungen fragt man sich, wo der Staatsanwalt bleibt.
Jonathan Overfeld wird wiederhergestellt, er kann seine Geschichte integrieren und wird zu einem Vertreter der Opfer. Im Zusammenhang mit dem „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ (als wäre in den 70er und den 80er Jahren alles ok. gewesen; wie steht es denn heute?) muß er miterleben, wie unter Leitung von Antje Vollmer das Thema sanft zugedeckelt wird: es gibt keine Entschädigung für entgangenen Lohn und Rentenanspruch für jahrelange Zwangsarbeit, keine Entschädigung für gebrochene Biographien, endloses Leiden. Die zur Verfügung gestellten Summen sind pro Opfer vierstellig und betragen damit rund ein Zehntel dessen, was z.B. in Irland gezahlt wurde, vielleicht ein Hundertstel dessen, was rein zivilrechtlich für entgangenen Lohn mit Verzinsung und Rentenanspruch fällig wäre. „Die Ansprüche aus Geschehnissen in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre waren zu Beginn des Runden Tisches generell verjährt. Eine Lösung, die auf geltendem Recht fußt, war daher von vornherein nicht denkbar“, schreibt Antje Vollmer im Abschlußbericht. Das ist eine bewußte Ablenkung mit Verweis auf das Strafrecht; zivilrechtliche Ansprüche dagegen verjähren nicht. Man wollte von Anfang an nicht entschädigen, sonder nur symbolisch mit einem kleinen Betrag das Thema abschließen. Die Zahlungen sind noch nicht gesichert und werden überhaupt erst nach langer Einzelfallprüfung getätigt: Opfer werden wieder Opfer, ein ganzes Land in Amnesie. Während die Täter ihre Pension genießen, bleiben die Opfer mittellos, wer sich engagiert, wird eingeschüchtert. Jonathan Overfeld wird im Auftrag der Täter verfolgt und zusammengeschlagen – da entläßt uns der Autor zum Schluß in die Bundesrepublik, wie sie heute ist.

Zwei Bücher über die Abgründe in Familie und Institution, über Spaltung und Verdrängung im Individuum und in der Gesellschaft, literarisch gut aufbereitet. Wer sich damit beschäftigen möchte: am besten beide lesen.

 

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