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Serie Weisheiten

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25.12.2010
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Weisheiten

Vor kurzem habe ich mit einem Mann gesprochen, der seit einigen Jahren mit einer Frau zusammenlebt. Zusammen ergeben die zwei ein glückliches Paar. Das habe ich schon wiederholt beobachtet. Sie wirken so eingespielt, so unauflöslich – so untrennbar. Als wären sie schon immer füreinander gemacht gewesen. Es fällt mir schwer mir vorzustellen, wie sich die zwei wohl kennengelernt haben, weil es für mich schon schwer ist mir vorzustellen, dass die zwei sich einmal nicht gekannt haben.
Als ich mit dem Mann gesprochen habe, zeigte der Kalender das August-Blatt und die Röcke und T-Shirts waren im Kleiderschrank weit vor Pullovern und Strumpfhosen. Es war ein warmer Sommertag, der einigen anderen warmen Sommertagen gefolgt war. Es war einer dieser Tage, an denen man schon am Morgen wusste, dass man entweder vor acht Uhr am Morgen oder nach acht Uhr am Abend Sport machen sollte. So ein Tag war das – ein normaler Tag Mitte August.
Der Mann und ich hatten unabhängig voneinander beschlossen vor acht Uhr am Morgen den Sport zu machen. Wir trafen uns im Wald, kurz vor acht, wenige Meter vor dem Erreichen des Zuhauses und nach zwölf geschafften Kilometern für mich. Wie viele Kilometer er bereits gelaufen war, weiß ich nicht – er sagte es nicht und ich fragte nicht.
Wir erledigten parallel Dehnübungen an einer Holzbank. „Heute wird es wieder heiß werden. Da kann man froh sein, wenn man den Sport schon geschafft hat.“, sagte ich, weil mir Stille die Situation zu intim machte. „Ja, da haben Sie recht. Es wird wieder ein heißer Tag werden. Da macht man am Tag am besten keine großen Sprünge mehr und hält sich möglichst viel im Schatten auf.“, entgegnete er höfflich. Er lächelte grundlos. Ich auch.
„Was werden Sie denn heute noch unternehmen, wenn es keine großen Sprünge sein sollen?“, fragte ich, und fand, dass die Frage viel intimer war, als die Gefahr einer auftretenden Stille. „Nichts mehr, was einem Sprung ähnelt. Zusammen mit meiner Frau werde ich auf unserem schattigen Balkon sitzen und die Hitze vorüberziehen lassen. Dabei werde ich ein Buch lesen und sie wahrscheinlich die Zeitung.“ – „Das klingt sehr harmonisch. Da kann ich mir gut vorstellen, dass sie die Hitzezeit gut verleben werden.“, sagte ich und log nicht. Ich war sogar ein bisschen neidisch auf ihn. Er erzählte von seinem Tagesplan so zufrieden, dass ich gerne an seiner Stelle gewesen wäre.
„Was lässt Sie annehmen, dass ich meine Hitzezeit gut verleben werde? Ich meine, ist es die Tatsache, dass ich einen schattigen Balkonplatz habe? Oder die Tatsache, dass ich eine Frau habe? Oder die Tatsache, dass ich ein Buch lesen werde? – Wo sehen Sie die Harmonie in meinem Tag?“, fragte er mich überraschend. „Nun – wahrscheinlich sehe ich die Harmonie im Verhältnis Ihrer Tätigkeiten. Das Lesen, die Frau und der schattige Platz an einem heißen Sommertag – das harmoniert doch sehr gut, finden Sie nicht auch?“, antwortete ich. „Ja schon, aber wenn der Balkon nicht wäre, wäre mein Tag dann in Ihren Augen immer noch harmonisch?“, fragte er. – „Ja, schon.“, antwortete ich und begann zu verstehen. „Wenn ich keine Frau hätte, wäre dann mein Tag harmonisch?“, fragte er weiter. „Ja schon – aber so, wie ich Sie und Ihre Frau bisher beobachten konnte, würde ich sagen, dass Ihre Frau die Harmonie in Ihrem Leben stark positiv beeinflusst. Somit würde ich sagen, dass eine Frau für einen Mann keine Voraussetzung für Harmonie an einem Sommertag auf einem schattigen Balkon mit einem Buch ist, jedoch für Sie auf Ihrem Balkon Ihre Frau ausschlaggebend Harmonie bringt. Wäre Ihre Frau auf Reisen, wäre die Harmonie gestört.“, erklärte ich. „Da könnten Sie Recht haben. Was sagen Sie zu meinem Buch und Ihrer Zeitung – sind diese zwei Gegenstände Summanden meiner Harmonie?“, fuhr er fort. „Nicht direkt. Für mich klingt allerdings harmonisch, dass Sie und Ihre Frau gemeinsam verschiedene Dinge tun können. Also natürlich lesen sie beide. Aber sie lesen nicht beide die Zeitung oder beide ein Buch – Sie lesen ein Buch, weil Sie gerne das Buch lesen und Ihre Frau liest die Zeitung, weil Ihre Frau gerne die Zeitung liest. Und beide tun sie das, während sie gemeinsam auf dem Balkon die Hitze Hitze sein lassen und auf den kühlen Abend warten. Das klingt für mich harmonisch.“, sagte ich. „Ja, auch hier haben Sie womöglich nicht ganz Unrecht. Möchten Sie wissen, wo ich die Harmonie sehe?“, fragte er. „Ja, bitte.“, antwortete ich gespannt. „Der Hauptgegenstand meiner Harmonie ist für Sie gar nicht offensichtlich auch wenn mir scheint, dass sie ihn schon mal gesehen haben, wenn Sie meine Frau und mich gemeinsam bei einem Spaziergang beobachtet haben. Der ausschlaggebende Punkt meiner heutigen Harmonie ist das Gefühl verstanden zu werden. Und das nicht nur heute, sondern seit einigen Jahren jeden Tag und auch noch an einigen kommenden Tagen. Stellen Sie sich vor, da wäre ein Mensch, der sie versteht. Ein Mensch, der versteht was sie wann wie wo tun. Es kann Ihnen egal sein, was die Welt denkt, weil es diesen einen Menschen gibt. Dieser eine Mensch, der sie versteht: Wenn es die Welt auch nicht tut – da gibt es jemanden, der Ihnen zuhört, der mit Ihnen redet. Ein Mensch, der ihrem Sein den Sinn bestätigt. Stellen Sie sich vor so einen Menschen hätten Sie um sich herum. Dann kann der Balkon auch ein feuchter Kellerraum oder ein renoviertes Schlosszimmer sein. Da kann das Buch auch ein Film sein, der im Fernsehen läuft. Da kann das Wetter heiß, kalt, nass oder trocken sein – das alles ist egal, wenn es diesen einen Menschen gibt, der Sie versteht. Und aus diesem Grund – weil ich diesen Menschen gefunden habe – erlebe ich seit Jahren harmonische Tage. Es ist nicht so, dass ich nur gute Tage erlebt habe. Es ist auch nicht so, dass ich sehr viel Glück habe. Nein. Es ist einzig und allein so, dass egal, wie schlecht ein Tag war oder wie viel Unglück mir zugestoßen ist da dieser eine Mensch ist, der mein Unglück oder meinen schlechten Tag versteht.“, sagte er und schaute mich lächelnd an. Dann drehte er sich in Richtung des Waldweges und wünschte mir im Weiterlaufen einen schönen harmonischen Tag.

 

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