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Der Untergrund

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10.08.2009
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Der Untergrund

DER UNTERGRUND
Eine Dialoggeschichte


„He, Sie!“
„Nanu?“
„Hee, Sie!“
„Ja? Wo sind Sie denn?“
„Hier unten.“
„Wo?“
„Na hier, in der Kanalisation.“
„Oh. Soll ich Ihnen helfen, den Gullideckel anzuheben?“
„Nein, Sie sollen zu mir herunter kommen.“
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin kein Kanalisationsarbeiter.“
„Ich weiß, ich weiß.“
„Wieso flüstern Sie denn so?“
„Weil alles geheim ist.“
„Was ist geheim?“
„Das sage ich Ihnen, wenn Sie zu mir herunter kommen.“
„Hören Sie, ich habe eigentlich überhaupt keine Zeit. Ich komme gerade von der Arbeit und will nur noch nach Hause und mich ausruhen.“
„Das können Sie später immer noch. Verschieben Sie es doch einfach. Nun kommen Sie schon.“
„Also, ich finde Ihr Verhalten ziemlich merkwürdig. Was ist nun, wenn Sie mich ausrauben wollen?“
„Dann hätte ich Ihnen schon längst meine Pistole auf die Brust gesetzt und Sie gezwungen zu mir herunter zu kommen.“
„Wie wollen Sie mir denn die Pistole auf die Brust setzen, wenn Sie höchstens an meine Beine heran kommen? Ich meine, dann müssten Sie schon raus kommen, wenn Sie Ihre Waffe auf mich richten wollten. Aber alleine schon der Punkt, dass Sie überhaupt eine Waffe mit sich führen, lässt mich schon zweifeln. Es sei denn, Sie sind ein Polizist.“
„Nein, das bin ich nicht, Gott sei Dank. Ich versichere Ihnen, dass Ihnen nichts geschehen wird.“
„Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sicher sein kann.“
„Dann seien Sie doch einfach sicher, dass Sie nicht sicher sein können.“
„Aber dann wäre ich ja in Gefahr.“
„Das Einzige was nicht sicher ist, ist die Antwort auf die Frage, was für ein Leben Sie führen werden, wenn Sie auf meine dezente Einladung verzichten.“
„Hm. Ich schätze, das wissen weder Sie noch ich selbst.“
„Oh doch. Ich weiß es. Ich habe Sie schon seit längerem beobachtet.“
„Ach ja? Also Stalking. Das ist strafbar, falls Sie das nicht wissen.“
„Es ist alles nur zu Ihrem Besten. Geben Sie sich doch einfach mal einen Ruck und zeigen Sie ein wenig Vertrauen in die Menschen.“
„Ich soll also Vertrauen in die Menschen zeigen und SIE laufen mit einer Pistole herum?“
„Das verstehen Sie nicht. Und um es Ihnen zu erklären, müssen Sie hier herunter kommen.“
„Selbst wenn ich mich dazu entschlösse, zu Ihnen zu kommen ... Ich habe nicht mal das passende anzuziehen. Ich wäre völlig overdressed für die Kanalisation.“
„Nein, Sie tragen genau die richtige Kleidung. Sie wissen doch gar nicht, wie es hier unten aussieht.“
„Sicherlich völlig nass, verdreckt und stinkend.“
„Prickelt es denn noch nicht in Ihrer Nase?“
„Ja. Aber hier riecht es nach Parfum. Kommt sicher aus dem Laden um die Ecke. Ich weiß, die führen ein großes Sortiment an Parfum und Deo etc.“
„Beugen Sie sich doch einmal herab und atmen Sie tief ein.“
„Ach ja? Sie meinen, damit Sie mit Ihrer Pistole auf einer Höhe mit meinem Gesicht sind.“
„Nein, damit Sie den Duft erkennen können, der hier unten herrscht.“
„Al ... Also gut. Aber nur ganz kurz.“
„So ists brav.“
„Hm. Sie haben Recht. Es riecht nach Duftöl in der Kanalisation, sehr stark sogar. Aber wie ist das möglich?“
„Seien Sie kein Feigling und finden Sie’s heraus!“
„Und wie lange soll ich die Kanalisation betrachten?“
„So lange oder so kurz Sie wollen. Sie sind frei jeder Zeit zu gehen.“
„Hmmm Na gut. Ich hoffe nur, ich weiß, was ich da tue.“
„So ists brav.“
„Ich habe kein Geld dabei, für den Fall, dass Sie mich doch ausrauben wollen.“
„Keine Sorge. Davon haben wir hier unten genug.“
„Nur gut, dass Sie sich einen Eingang gesucht haben, der ein wenig abseits liegt. Wenn das die anderen Passanten mit bekommen würden, wäre das sicher problematisch.“
„Ja, genau. Deshalb haben wir eine etwas verlassenere Gegend gesucht um neue Opfer ... äh ... Verzeihung – Neue Mitglieder zu finden.“
„Opfer??!!“
„Das habe ich doch nur so zum Spaß gesagt.“
„Na, Sie wissen aber wirklich nicht, wie man neue Mitglieder oder wie Sie es nannten gewinnt. Angst machen ist nicht gerade ein verlockendes Mittel dazu. Aber Sie haben mich dennoch überredet. Ich komme jetzt.“
„So ists brav. Ich schiebe jetzt den Gullideckel zur Seite ... So ... Kommen Sie rein und machen Sie den Gullideckel hinter sich zu, wenn Sie herunter kommen, sonst schöpft noch jemand Verdacht.“
„Okay.“
„So. Folgen Sie mir einfach.“
„Es ist reichlich dunkel hier drin.“
„Einen Moment noch ... So ... Besser?“
„Sie haben elektrisches Licht hier in der Kanalisation?“
„Ja. Aber wir bevorzugen die Bezeichnung Untergrund.“
„Untergrund. Hm. Naja, passt ja auch nicht schlecht.“
„Es passt sogar wie angegossen.“
„He, wie weit nach unten führt denn diese Leiter?“
„Sehr weit.“
„So weit ich das von hier oben erkennen kann sind das mindestens 30 Meter.“
„Ja, das kommt ungefähr hin ... So jetzt sind wir da. Wir müssen nur noch durch diese Tür hier gehen und dann heiße ich Sie herzlich willkommen im Untergrund.“
„Eine Tür? In der Kana ... äh ... im Untergrund?“
„Jawohl. Ich öffne Sie nun ... So ... Und durch wir gehen. He he he.“
“Mir gefällt Ihr Lachen nicht.”
„Warum denn nicht?“
„Ich bevorzuge Ha ha ha.“
„Sie werden es nicht glauben, aber wir haben hier ein Mitglied, das lacht: Hi hi hi.“
„Oh, das ist aber völlig daneben. Ist das nicht völlig außer Mode?“
„Ja, aber hier unten ist alles erlaubt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Schauen Sie sich einfach mal um und lassen Sie alles auf sich wirken. Erst mal auf sich wirken lassen und dann können Sie mir ja sagen, was Sie davon halten.“
„Oh mein Gott. Das ist ja ... Das ist ja der reinste ... Was ist das?“
„Lassen Sie uns doch durch diesen Saal gehen und Sie sagen mir einfach was Sie rechts und links von sich sehen.“
„Erstmal sehe ich viele Menschen. Bestimmt 50. Der Saal ist riesig. Die Decke ist mindestens 20 Meter hoch. Geradeaus geht es bestimmt 300 Meter lang. Weiter kann ich von hier aus nicht sehen. In die Breite geht es anscheinend mindestens 50 Meter.“
„Sie sollen hier keine Vermessungen vornehmen, sondern mir sagen, was Sie sehen.“
„Ich sehe rechts und links von mir Tische auf denen Waffen liegen. Die unterschiedlichsten Waffen. Pistolen, Maschinengewehre, Panzerfäuste, Messer, Schwerter. Das ist unglaublich. Wie viele sind das denn?“
„Wir verfügen hier über etwa 477 Waffen. Suchen Sie sich eine aus!“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, greifen Sie zu! Lieber ne Knarre oder lieber was altmodisches wie Schwert und Degen?“
„Ich mochte schon immer Schwerter.“
„Aber denken Sie dran. Wenn Ihnen jemand eine Pistole an den Kopf hält um Sie zu überfallen, wird Ihnen Ihr Schwert nicht weiter helfen.“
„Ich schätze, wenn mir jemand eine Pistole an den Kopf hält, wird mir überhaupt nichts mehr helfen.“
„Aber manchmal ist ja auch Angriff die beste Verteidigung. Und dazu empfehle ich Ihnen nun eine Wahl zu treffen.“
„Gut, dann ... Ich weiß nicht ... Hm ... Ich nehme die Panzerfaust.“
„WAAAS? Aber wir sind doch nicht im Krieg. Seien Sie doch bitte realistisch bei Ihrer Wahl.“
„Na gut, dann nehme ich einfach so eine von den Pistolen ... Jaaa, ich glaube die gefällt mir besonders gut. Die nehm ich.“
„Gute Wahl. Das ist ein ganz besonders schönes Stück.“
„Aber sagen Sie mir doch bitte – Wozu brauche ich eine Waffe?“
„Die Welt ist hart und ungerecht und leider auch gewaltig gewalttätig, äh ... gewaltvoll, ich meine ... Na, Sie wissen schon was ich meine.“
„Sie meinen, ich bräuchte das zur Selbstverteidigung oder zum Eigenschutz.“
„Genau. Und jetzt laufen Sie weiter und sagen Sie mir, was Sie auf der linken Seite sehen.“
„Einen meterhohen Stapel von CD’s und Schallplatten und Filmen.“
„Ja, hier gibt es alles was das Herz begehrt. Selbstverständlich hauptsächlich Underground-Musik und Underground-Filme, aber auch Perlen, die es nirgendwo sonst mehr gibt, außer hier bei uns.“
„Oh mein Gott, Sie haben DIE HEIRAT von Mussorgsky. Die habe ich schon seit Ewigkeiten gesucht.“
„Klemmen Sie sie sich doch unter den Arm. Gehört Ihnen.“
„Und hier – MARX BROTHERS: HUMOR RISK. Dieser Film soll doch angeblich verschollen sein.“
„Wir haben ihn. Ich persönlich bevorzuge das Horror-Genre. Da vorne gibt es DAWN OF THE DEAD, in der 177-Minuten-Fassung.“
„Unglaublich. Ich wusste gar nicht, dass solch eine lange Fassung existiert.“
„Ich auch nicht.“
„Und was geschieht in diesen zusätzlichen Minuten?“
„Es wird ein genaueres Augenmerk auf die Verspeisung von Gedärmen und das Lebendigfressen der Insassen des Kaufhauses gelegt.“
„Ich kenne diesen Film noch aus meiner Jugend. Bei einem Freund, der nur auf europäische Dramen steht, habe ich damit angegeben, dass der Regisseur eine Satire auf die Konsumgesellschaft drehen wollte. Damit habe ich einen Pluspunkt bei ihm gesammelt. Ich hätte ihm nie erzählt, dass Romero einfach nur die Sau rauslassen und Blut fließen lassen wollte. Haa ha ha.“
“Ja, das war wahrscheinlich ein weiser Entschluss. Aber genug mit dem Ausflug ins Film-Gefilde. Sehen Sie sich doch weiter um.“
„Ah. Bücher. Sicherlich auch nur Verbotenes und Raritäten, was?“
„Aber wo denken Sie denn hin? Wir haben hier nichts Verbotenes, sondern nur Indiziertes und keine Raritäten, sondern Schätze. Aber warum gehen wir nicht einfach weiter? Ich stehe nicht so auf beschriebene Seiten, außer auf die, welche über gezeichnete Bilder verfügen, Bilder in denen so lustige kleine Sprechblasen enthalten sind. Ha ha ha. Aber lassen Sie uns doch weiter gehen. Wir kommen nun in eine relativ große Abteilung. Na, können Sie sich schon vorstellen, worum es geht?“
„Was ist das für weißes Pulver, das da auf den Tischen liegt?“
„Ahnen Sie es nicht?“
„Mehl?“
„Mehl? Haa ha ha. Ja, es ist schon ein besonderer Kuchen, der hier gebacken wird. Riechen Sie doch mal dran.“
„Hm. *schnüffel* Ich kenne diesen Duft nicht.“
„Riechen Sie doch mal heftiger daran. Ich meine so, dass dieses Mehl wie Sie es nennen direkt in Ihrer Nase landet.“
„Ich weiß nicht. Muss ich dann nicht niesen?“
„Normalerweise nicht. Nur manchmal. Machen Sie nur. Keine Hemmungen. Es wird nichts passieren. Zumindest nichts Negatives. Ziehen Sie richtig fest daran, nur so können Sie erkennen, um was es sich handelt.“
„Also gut. *schnief*“
„So ists brav. He he he.“
“Ich weiß nicht. Ich merke nichts.“
„Dann darf ich Sie darüber informieren, dass Sie soeben Kokain inhaliert haben.“
„Oh mein Gott. Das habe ich noch nie gemacht.“
„Dann ist heute Ihre Premiere.“
„Und was passiert jetzt mit mir?“
„Na, Sie werden sich umgehend pudelwohl fühlen.“
„Ich merke nichts.“
„Warten Sie ab. Es dauert manchmal ein wenig, bis die Wirkung eintritt. Wenn Sie möchten, können Sie um dem ganzen die Krone aufzusetzen noch ein wenig von diesen schönen Pflanzen dazu nehmen. Das gibt den besonderen Kick.“
„Kick?“
„Ja, diese grünen Wunderpflanzen lassen Sie in ganz andere Welten abtauchen.“
„Sie meinen, so wie beispielsweise in den Untergrund?“
„Zum Beispiel ja. Der Witz an der Sache ist, Sie sind dann zwar im Untergrund, aber fühlen sich, als wären Sie im Himmel, so konträr ist die Angelegenheit.“
„Ich glaube, ich warte erst mal, was sich mit dem Kokain ergibt. Mit dem Koka ... Dem Koka ... Heyyy, was passiert mit mir? Ich fühle mich auf einmal so leicht und fröhlich.“
„So ists brav. Genießen Sie den Trip.“
„He, wo kommt denn auf einmal der Dinosaurier her?“
„Wie bitte? Also, Sie haben eigentlich Kokain zu sich genommen und nicht LSD.“
„Haaa ha ha. Jetzt habe ich Sie aber dran gekriegt, was? Haaa ha ha. Hier ist nämlich überhaupt kein Dinosaurier. Oh, mein Gott fühle ich mich gut. Haben Sie etwa auch LSD?“
„Ja, ja. Aber eins nach dem anderen.“
„Sie sagen es – Eins nach dem anderen. Das Andere habe ich zu mir genommen und deshalb kann ich jetzt die Eins nehmen. Hab ich Recht oder stimmt’s?“
„Stecken Sie sich eins von den LSD-Häppchen in die Tasche, aber benutzen Sie es erst später, sonst müssen Sie sich noch übergeben.“
„Aber ich übergebe mich doch so gerne. Ich übergebe mich der Polizei und sage was hier unten gespielt wird. Dieser ganze illegale Schuppen wird dann mir nichts Dir nichts beschlagnahmt und alle Mitglieder kommen ins Kittchen. Nur ich alleine werde davon kommen, weil ich so ehrlich war und gestanden habe. Ich habe gestanden auf meinen beiden Füßen, die sich wie Feuer anfühlen, so als könnte ich gerade einen Marathonlauf rennen und dabei singen und Gewichte heben. Gedichte schweben. Schweben mir vor dem inneren Auge und ich möchte sie aufsagen. Aufsagen. Saufagen. Aufsaugen. Oder wie nennt man das? Ich will jetzt ein Gedicht aufsaugen und es geht ein bisschen etwas wie das: Ich stehe hier im Untergrund, die Welt hier ist so kunterbunt. Der Mann vor mir der guckt zu mir, sein Blick, der ist ein bisschen wirr. Er schüttelt jetzt den Kopf so schnell. Ich sehe, sein Zopf ist so hell. Ja blond das ist er allemal, für ihn vielleicht ne kleine Qual. Denn Witze reißt man über ihn, ich würd ihm gern eins überziehn. Er guckt mich an, lacht nicht einmal. Er spuckt mich an, hier in dem Saal. Haaa ha ha. Na, wie findest Du das? Achso, wir siezen uns ja noch, oder? Also, was hältst Du davon, wenn ich allerwelt erzähle, was hier unten so vor sich geht?“
„Ich schlage vor, Sie kommen erst noch mit bis zum Ende des Ganges, dann wird sich Ihre Meinung sehr wahrscheinlich ändern.“
„Ich komme mit bis zum Ende des Ganges? Wissen Sie eigentlich, wo der Ganges liegt? Der liegt in Indien. Sagen Sie bloß, Sie verfügen hier über eine Abkürzung nach Indien? Das wär toll. Ganz umsonst nach Indien reisen.“
„Kommen Sie mit, Sie Schwachkopf. Die Kokaineinnahme muss einen erheblichen Effekt auf Sie gehabt haben. Sie reden als wären Sie besoffen.“
„Und Sie spucken mich an, als wären Sie nüchtern.“
„So. Trotz aller Ausschweifungen spielen wir weiter unser Spiel. Sie sagen mir einfach, was Sie sehen und was Sie davon halten, okay?“
„Das ist ein komisches Spiel. Ich kenne ja: Ich seh etwas, das Du nicht siehst. Aber: Ich sehe etwas, das Du auch siehst, kannte ich noch nicht.“
„Das ist von hoher Wichtigkeit, denn wie soll denn sonst der Leser wissen, was vor sich geht. Schließlich handelt es sich bei uns doch um eine Dialoggeschichte.“
„Hä? Du meinst jemand liest uns gerade jetzt in diesem Moment?“
„Aber selbstverständlich. Und Du spielst eine der Hauptrollen.“
„Komm, verarsch mich nicht. Ich hab doch das Kokain genommen und nicht Du. Du kannst mich nicht auf den Arm nehmen. Ich bin zu schwer.“
„Dann schau Dich doch mal um. Schau mal nach oben und dort wirst Du sehen, dass jemand gerade dabei ist, uns zu lesen. Wir sind eine Dialoggeschichte.“
„Du wiederholst Dich. Also gut. Dann schau ich mal nach oben ... Oh, mein Gott. Wir werden tatsächlich gelesen ... Shut my mouth!!! Das darf ja wohl nicht wahr sein! Wir werden gelesen ... Ich winke unserem Leser mal zu ... Hallo Leser! Siehst Du mich? Also, ich sehe Dich. Wie geht es Dir? Findest Du uns spannend? Entschuldige bitte, ich glaube, ich vertrage dieses Kokain nicht so gut. Du bist ein Leser, für den ich dankbar bin, dass er sich solch eine lange, ausführliche und dazu experimentierfreudige Geschichte durchliest ... Gehen wir weiter.“
„Das wollte ich auch gerade vorschlagen. Los geht’s.“
„Und was machen wir jetzt mit dem Leser?“
„Komm schon, wir müssen weiter, sonst geht es mit unserer Geschichte nicht voran und sowie der Leser aus dem ersten Staunen heraus ist, weil wir ihn entdeckt haben, wird er sich langweilen.“
„Du? Wie heißt Du eigentlich? Ich glaube, das ist wichtig für den Leser, da er sonst irgendwann möglicherweise nicht mehr weiß, wer wer ist.“
„Also Du bist derjenige, den ich hier zu uns in den Untergrund gebracht habe. Man erkennt Dich daran, dass Du völligen Schwachsinn redest und vermutlich eine Überdosis zu Dir genommen hast.“
„Also ich heiße Jay.“
„Angenehm, mein Name ist Ray.“
„Na super. Meinst Du, dass der Leser damit klar kommt?“
„Ich denke schon.“
„Weißt Du was, Ray?“
„Was, Jay?“
„Kann es sein, dass der Leser Gott ist? Ich meine, er ist doch auch dort oben. Wir blicken herauf und sehen ihn und er ist vor allen Dingen auch größer als wir.“
„Du hast unserem Leser schon wieder ein Kompliment gemacht. Wer hört schon nicht gerne, dass er Gott sei?“
„Da hast Du Recht. Komm, lass uns weiter saufen äh laufen.“
„Das muss ICH eigentlich sagen, aber seis drum.“
„Wo sind denn die Tische?“
„In diesem Teil des Saals stehen keine Tische mehr, wie Du siehst. Dafür steht aber etwas anderes.“
„Ja, überall stehen Frauen vor irgendwelchen Türen und sie ziehen ihren Rock hoch und zeigen was darunter ist – Reizwäsche. He, da vorne die spielt mit ihren Brüsten, Mann, die hat aber auch einen Ausschnitt. Wieviele Frauen sind das wohl?“
„Exakt 127.“
„Meine Güte. Aber aus welchem Grund stehen die da so vor den Türen herum?“
„Ahnst Du es nicht?“
„Achso, ja. Klar. Ich bin ja auch ein Dummkopf. Das sind Türsteher. Weibliche Türsteher.“
„Äh – Falsch geraten. Was sollte sich denn dann Deiner Meinung nach hinter diesen Türen befinden?“
„Ich weiß nicht. Irgendwelche illegalen Clubs.“
„Nein, nein, nein, mein Guter. Diese Frauen sind nicht dazu da jemanden aufzuhalten, sondern im Gegenteil – mit ihm durch die jeweilige Türe und in das dahinter befindliche Zimmer zu gehen.“
„Aha.“
„Ja, und hinter dieser Tür lassen die Beiden der Natur ihren freien Lauf.“
„Du meinst, sie urinieren?“
„Nein, ich spreche von einem anderen Lauf der Natur. Das alte Rein und Raus, wie es in A Clockwork Orange so passend beschrieben wird.“
„Aus welchem Grunde sollten die denn einmal rein ins Zimmer und dann wieder raus?“
„Nicht ins Zimmer. In SICH gegenseitig.“
„Achsoooo. *rot anlauf* Jetzt dämmert es mir. Aber wer sind denn diese Frauen und welche Männer dürfen zu ihnen?“
„Die Frauen sind kostenlose und willige Prostituierte und zu ihnen dürfen alle Mitglieder des Untergrunds.“
„Hmm.“
„Na, bist Du jetzt immer noch so erpicht darauf uns alle anzuzeigen?“
„Ich glaube, das überlege ich mir dann doch noch mal.“
„Wenn Du willst, kannst Du Dir direkt eine aussuchen und mit ihr verschwinden.“
„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe noch nicht genug Drogen in mir.“
„Dann nimm doch Deine Portion LSD, die Du Dir eingesteckt hast.“
„Oh, ja. Das ist eine hervorragende I.D. Eine hervorragende Identifikation. Ich identifiziere mich und meine Auserwählte nachdem ich diese drei Buchstaben geschluckt habe. He, die sehen ja wirklich wie Buchstaben aus.“
„Das ist Russisch Brot, was Du Dir da eingesteckt hast.“
„Ich esse einfach die Buchstaben L, S und D und schaue dann mal was passiert.“
„Du bekommst höchstens einen Zuckerschock.“
„Zuckerschock? Ist das hilfreich beim alten Rein und Raus?“
„Wie man’s nimmt.“
„Von vorne – Missionarsstellung.“
„Dann ist es auf jeden Fall hilfreich.“
„Du bist der Boss. So ... Jetzt esse ich die drei Buchstaben ... Oh, mein Gott. Mein Kopf explodiert. Was geht denn jetzt ab? Die hatten es aber ganz schön in sich. Bist Du sicher, dass da nur Zucker drin war?“
„Mein lieber Jay. Außer den Prostituierten ist hier nichts nur aus Zucker.“
„Dann wähle ich jetzt meine Auserwählte, okay?“
„Ja, mach nur. So ists brav.“
„Okay, ich nehme ... Dich. Wie heißt Du?“
„J“
„Nein, ICH heiße schon Jay. Du musst Dir einen anderen Namen auswählen.“
„Nein, nein. Das verstehst Du falsch. J ist die Abkürzung für Jaroslawinjenitschka.“
„Ich glaube, ich nenne Dich dann doch lieber J. Aber auf deutsch. Das heißt: Jot.“
„Ray! Ich gehe jetzt mit Jot ins Bett. Wir sehen uns.“
„Ja, klar. Bis dann und viel Spaß.“
„So, Jot. Dann lass mich mich mal in Dich integrieren.“
„Ich liebe es integriert zu werden.“

***

„Puh. Das war aber ganz schön lang. Hätte nicht gedacht, dass ich trotz meinem Rausch so lange durch halte.“
„Ja, ich bin noch nie so lange und so intensiv integriert worden.“
„Wann sehen wir uns wieder?“
„Wie meinst Du das?“
„Wann ist der Zeitpunkt an dem wir erneut unsere Augen auf einander richten?“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich fürchte die Kapazität meiner Intelligenz ist nicht suffizient genug um Dir auf intellektuelle Weise noch konvenabler zu verdeutlichen was ich meine.“
„Ich meine nur, dass ich nicht weiß, wie Du auf die Idee kommst, dass wir uns wieder sehen.“
„Werden wir denn nicht?“
„Nein. Warum auch. Wir hatten unseren Spaß und ich möchte noch weiteren Mitgliedern diese Freude machen.“
„Du möchtest weiteren Mitgliedern die Freude machen, sie sehen zu lassen, wie wir zusammen Spaß haben?“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Aber das hast Du damit ausgedrückt, wenn auch vielleicht nicht absichtlich.“
„Was ich sagen wollte war, dass ich das, was ich mit Dir erlebt habe, auch noch mit anderen Mitgliedern erleben möchte und die Anzahl unserer Mitglieder steigt täglich. Da kannst Du Dir ausrechnen, wie Deine Chancen stehen, mit mir noch einmal zusammen zu kommen.“
“Aber ich ...“
„Ja?“
„Ich liebe Dich.“
„Ach, Du meinst diesen Zustand, in dem man andauernd den selben Partner haben will, weil man glaubt, sich so sehr an ihn gewöhnt zu haben, dass man nicht mehr ohne ihn auskommt?“
„Äh ... Sozusagen, ja.“
„Und sowas hast Du jetzt?“
„Ja. Ich liebe Dich. Ich habe so etwas bisher noch nie gefühlt.“
„Ich auch nicht.“
„Wirklich? *lächel*“
„Ja, ich habe wirklich noch nie gefühlt, was Liebe bedeutet und werde es auch nie tun.“
„Achso.“
„Ja, so ist das.“
„Umffgh.“
„Wie bitte?“
„Ich sagte Umffgh. Urrks. Mir wird schlecht.“
„Da vorne ist die Toilette, da in der Ecke. Hier in diesem Zimmer ist alles enthalten: Küche, Schlafecke, Wohnecke, Klo, Flur. Sogar der Balkon ist im Zimmer.“
„Ich muss jetzt urrks. Ganz schnell. Aaaaaaauuurkkkks ... Entschuldige bitte die Sauerei.“
„Drück doch einfach den Knopf für die Spülung.“
„Ja, aber ich habe es nicht ganz geschafft. Ein bisschen ist nebendran gegangen.“
„Schon gut. Ich wische das weg. Und jetzt hau ab.“

***

„Na, wie war’s Jay?“
„Schrecklich, Ray.“
„Wie bitte? Das hat bisher noch niemand gesagt. Vor allem nicht bei Jaroslawinjenitschka.“
„Ich habe mich in sie verliebt, aber sie sich nicht in mich.“
„Liebe? So etwas gibt es hier nicht. Dies ist der Untergrund.“
„Ich fürchte nur, ich komme nicht ohne aus. Womit ich allerdings ohne auskomme ist eine Waffe. Hier hast Du sie zurück. Ich bin nicht gewalttätig. Und Deine Drogen kannst Du auch behalten. Anscheinend vertrage ich sie überhaupt nicht. Ich habe mich eben bei Jot übergeben.“
„Aber doch hoffentlich nicht während des alten Rein und Raus?“
„Nein, danach. Mein Kopf dröhnt. Ich glaube, ich gehe heim.“
„Was ist mit Deiner Absicht uns alle zu verraten?“
„Macht doch was Ihr wollt hier unten. Mir doch egal.“
„Ich muss Dich davon in Kenntnis setzen, dass wir überall unsere Spione haben. Sie würden Dich eliminieren, bevor Du den ersten Schritt ins Polizeipräsidium tust. Unsere Organisation darf nicht auffliegen. Wir werden irgendwann noch einmal die Welt erobern. Wir haben die philosophischste Philosophie die auf diesem Planeten existiert.“
„Eine Frage habe ich noch.“
„Schieß los!“
„Ich habe meine Waffe bereits abgegeben. Was mir noch nicht klar ist, ist aus welchem Grunde Sie mich beobachtet haben?“
„Wir suchen uns unsere Mitglieder nach erlesenen Maßstäben aus. Wer ein gutes Auge hat, sieht welche Menschen nach dem Untergrund lechzen ohne es zu wissen. Gelegentlich geschehen Missgeschicke. Man kann sich ja wohl mal irren. Doch bei 437,5 Mitgliedern haben wir uns nicht geirrt. Und diese Zahl wird steigen. Naja, die Zahl selbst wird natürlich nicht steigen, aber die Anzahl wird sich erhöhen. Wir bekommen pro Tag etwa 7 neue Mitglieder und wir haben Zweigstellen auf der ganzen Erde. International verfügen wir bereits über 137264,9 Mitglieder. Viele mussten liquidiert werden. Doch der Drang nach Waffenfreiheit, Gewalt und Verteidigung, der Drang nach permanent ausgelebter Sexualität, unabhängig von einem festen Partner, der Drang nach schwer zu beschaffenden Konsumgütern und der Drang nach dem Verdrängungsmechanismus Nummer 1 - den Drogen bleibt und wächst täglich. Ja, ich sage: Wir werden irgendwann noch einmal die Welt erobern. Hi hi hi.“


ENDE

 

Hallo Achmed

Eine absurde Parabel, bei der mir spontan Kafka in den Sinn kam. Eigentliche Spannung löst sie nicht aus, doch kam Neugierde, das Verlangen zu wissen wohin es führt. Doch gegen Ende des zweiten Teils ist die Versuchung auszusteigen, es einfach abzubrechen. Ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, hierfür ist es etwas dürftig. Ich denke, das wesentliche was fehlt ist lebendige Atmosphäre, Umschreibungen, statt endlosem Dialog den Goethe selbst im Grab noch einschlafen lässt. Der Idee selbst kann ich aber Sympathie abgewinnen.

Stolperstein war mir:

„Dann ist heute Ihre Prämiere.“
… Premiere. Es geht um das Erstmalige und nicht um eine Auszeichnung. Falls es als Versprecher gedacht war, zieht es nicht, hat keine freudsche Prämisse.

Statt suffizient und konvenabler gibt es übrigens treffrendere Beschreibungen.

Dennoch nicht ungern gelesen. In einer schmuckeren Fassung könnte ich mir vielleicht gar denken, Lesenswert. :)

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

ja, ich wusste auch nicht genau, wie solch eine Art von Experiment bei dem Leser ankommt. Anscheinend funktioniert ein reiner Dialog nicht so gut, wie ich es mir gedacht habe, oder man muss es interessanter gestalten (obwohl ich gerade eine weitere ganz kurze Story hier veröffentlicht habe, die auch -fast- nur aus Dialog besteht. Die ist allerdings so kurz, dass es unter Umständen etwas kurzweiliger wirkt) Dann werde ich mich in Zukunft vielleicht doch wieder eher Geschichten widmen, die auch Erzählpassagen beinhalten. Das mit der Pr(ä)emiere war ein Versehen. Habe ich irgendwie durcheinander gebracht. Ich änder das gleich mal ab. Danke für Deine ehrliche Meinung.

Grüße
Achmed

 

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