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Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof, 2009

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Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof, 2009

Eine langjährige, sorgfältige Arbeit trägt Früchte… Jutta Ditfurth hat sich Ulrike Meinhof sehr persönlich genähert, mit viel Akribie Zeugen ausfindig gemacht und ihren Werdegang beschrieben, immer mit der Frage: Wie wurde sie radikal? Wir lernen eine Frau mit besonderer seelischer Stärke kennen, aber auch mit großen Schwächen und erschreckender Naivität. Die einfühlsame Beschreibung der Kindheit Ulrike Meinhofs und der Beziehung zu Mutter und Stiefmutter ist gelungen. Nebenbei werden eine Reihe Klischees abgeräumt, die die Medien und andere Autoren geschaffen haben. Wie Ulrike Meinhof dahin gekommen ist, die Gewalt gegen Menschen gutzuheißen, bleibt trotzdem schwer nachvollziehbar.

 

Ja, da bin ich eigen, eine längere Ergänzung einzustellung als der "Mutter"Text ist. Aber Marianne Faithfull hat gerade in einem Interview auf die Sechziger als kalten Kaffee hingewiesen (woraus die WAZ von heute in ihrem Pidgin eine „große Sixties-Lüge“ konstruiert, als hätte alle Welt sich ihrem wohlhabenden & -behüteten Heim allein durch Sex & Drugs & Rock’n’Roll entzogen und sich als Groupie durch die Betten der Stones wühlen können), dass ich an dem Artikel Was ist eine gute Mutter?, in: Chrismon 02.2011, S. 22 ff., nicht vorbeikomm. Der nämlich ist mE lesenswert, knüpft er doch zu zwo hier besprochenen Werken ein Band und zeigt Parallelen zwischen institutionalisierten Weltanschauungen und zugleich die kapitalistischen Blüten der Moderne auf. Ich hätt’ es nun auch unterm Moses Roman einstellen können, denk aber, dass Sets Arbeit auch nicht vergessen werden darf, zudem die Namen Meinhof - Röhl hier besser untergebracht sind!

Auf die Frage, ob sich das Verhältnis zur eigenen Mutter durch die Geburt des eigenen Kindes verändert habe, antwortet Bettina Röhl (48; Tochter der Ulrike Meinhoff und des Rainer Röhl): „Nein. Ich dachte zu der Zeit wenig über das Verhältnis zu meiner eigenen Mutter nach. Als meine Tochter geboren wurde, hatte ich diesen Stoff schon durchgearbeitet, und ein Buch daraus gemacht. […] Ich hatte schwierige Eltern, so muss man wohl sagen. Meine Generation ist verunsichert durch verschiedene Bewegungen, durch den Feminismus oder das Diktat der freien Liebe, der sexuellen Revolution. Meine Generation hat viele Singles hervorgebracht und Frauen, die ihre Kinder spät bekommen, weil sie sich beruflich engagiert und auch Irrwege zurückgelegt haben. Insofern bin ich wohl eher ein Kind meiner Zeit. […] Ich habe sieben Jahre mit meiner Mutter zusammengelebt. 1970 entschied sie sich für den Terrorismus, sie nannte das den bewaffneten Kampf. Sie war Kommunistin. Es herrschte die Ideologie, dass man für die Revolution das Privatleben opfern müsse. Das war keine Erfindung von Ulrike Meinhof. Das hat etwas Schwärmerisches: Man verlässt alles für die Revolution. Meine Mutter entschied sich nicht nur, ihre Kinder zu verlassen, sondern sich innerlich von ihren Kindern zu trennen. Sie brachte uns nicht zu unserer Oma oder unserer Tante Holde, wo wir gut aufgehoben gewesen wären. Nein, die RAF ließ uns in ein Baracken-
lager auf Sizilien verschleppen. Ziel war nicht, dass es uns gut gehen sollte. Das war ein Angriff auf die Kinder. Auch sie sollten zu Revolutionären gemacht werden. […] Ich bin froh, dass Sie [Anm.: gemeint ist Margarete Mitscherlich] meine Mutter an diesem Punkt nicht verstehen. Denn viele Menschen finden ihr Verhalten verständlich. Aber ich will auch dem Mythos widersprechen, dass meine Mutter vorher eine gute Mutter gewesen wäre. Ihre Entwicklung in den beiden Jahren zuvor war bereits katastrophal. Die Frage ist, ob Ulrike Meinhof so etwas wie einen Mutterinstinkt besaß. Sie hat Kinder bekommen, weil das dem damaligen Wunschbild Familie entsprach. Aber sie konnte nicht mit Kindern zusammen sein. Insofern kam ihr die Revolution entgegen. […] Ich erinnere ein unendliches Wegorganisieren. Ich war vormittags in der Schule, am Nachmittag bis abends um 7 Uhr in einem der ersten Kinderläden in Berlin und sollte möglichst bei anderen Eltern übernachten. Wir mussten mit fünf und sechs Jahren auf dem Weg zur Schule dreimal im Berliner Stadtverkehr alleine umsteigen, wir hatten keine Monatskarte und meistens kein Kleingeld für die Busfahrkarte und kein Schulbrot. Das Königin-Luise-Stift hatte sie ausgesucht, weil es auch ein Internat war. Meine Mutter hatte ein großes Problem mit der Selbstverständlichkeit des Mutterseins. […] Ich habe meine Mutter als Kind geliebt, von der anderen Seite aber eine Abstoßung erfahren, die ich mit noch mehr Liebe kompensierte. Ich habe versucht, sie zu einer Mutter zu machen. Von Meinhofs Anhängern wird mir vorgeworfen, ich würde meine Mutter hassen. Es wird verkannt, dass Meinhof ihre Kinder gehasst hat. Welche Mutter will, dass ihre Kinder in ein palästinensisches Waisenlager in einem Kriegsgebiet kommen, wo sie zu Terroristen ausgebildet werden und jeden Tag sterben können? Diese Realität wollen ihre Anhänger bis heute nicht wahrhaben.“
Mitscherlich verweist an dieser Stelle auf „die Kluft zwischen den hohen Idealen und der Realität“, denn Ulrike Meinhof vertrat zwar Ideale, die Wirklichkeit reichte aber bis hin zur Verfolgung Andersdenkender [was wieder Ähnlichkeiten mit der Geschichte Gottes weckt]. Dabei greift die Ideologie in die Kindererziehung hinein, bis Kinder nicht mehr anders „denken und entscheiden können als die Eltern“ [Bibl. gesprochen schafft man sich also Menschen nach seinem eigenen Bilde], was idR katastrophal endet. Mitscherlich vermutet, dass Meinhof selber sehr früh in ihr Korsett hineingezwängt wurde.
Röhl: „Ulrike Meinhof hat ununterbrochen von Kindererziehung gesprochen. Nur durch Gespräche über Erziehung konnte sie überhaupt Kontakt zu uns aufnehmen. Die Kinder sollten sich gegen die Eltern auflehnen. Und das wollte sie sehr autoritär! Das wollte ich nicht. Ich wusste gar nicht, was sie meint. Sie war sehr depressiv zu der Zeit.“ […]
Leute, die Meinhof idealisieren, „wollen ein Meinhof-Mutter-Märchen von mir hören. Und das sind unendlich viele Menschen, die an diesem öffentlichen Märchen hängen. Dabei ist der falsche Eindruck entstanden, wir seien Personen des öffentlichen Interesses. Das lag an einer verfehlten Medienpolitik meines Vaters. Seit 1970, seit meine Mutter im Untergrund war und wir beim Vater in Hamburg aufwuchsen, hat er den Meinhof-Mythos vermarktet: den Mythos der zwischen Journalismus, Revolution und Kindern zerrissenen Mutter. Das setzte sich in modernen Theaterstücken und Fernsehspielen fort. Ich wehre mich dagegen, dass meine Schwester und ich als irgendwelche Kunstfiguren benutzt werden, die in Theaterstücken, Filmen und Büchern für immer neue Projektionen herhalten sollen. […] Klaus Röhl, bei dem ich nach der Befreiung aus sizilianischer Gefangenschaft, also seit meinem achten Lebensjahr, aufwuchs, brachte einige Probleme mit sich. Im Mai 2010 habe ich in einem längeren "Spiegel"-Essay die pädophilen Entgleisungen des Klaus Röhl mir gegenüber öffentlich benannt. […] Meine Eltern hatten ein Haus in Blankenese gekauft. Das hatte meine Mutter ausgesucht. Sie war sogar diejenige, die viel mehr ins Establishment strebte als mein Vater. […] Diese Frage [, ob sie ihrer Mutter verziehen habe,] ist nicht auf meiner Agenda. Weder habe ich sie angeklagt noch ihr verziehen. […] Ich war selten an ihrem Grab in Berlin. Im Jahr 2002 habe ich herausgefunden und dann veröffentlicht, dass man nach dem Tod von Ulrike Meinhof ihr Gehirn entnommen und nicht mit beerdigt hat. Zwei Forscher hatten sich das Gehirn unter den Nagel gerissen, um eine Art pathologischen Terrorismus-Beweis zu führen. Ich habe dann durchgesetzt, dass das Gehirn verbrannt und in ihrem Grab beigesetzt wird. Da haben wir eine Beerdigungszeremonie vollzogen. Das war uns wichtig, schließlich konnten meine Schwester und ich 1976 an der Beerdigung unserer Mutter nicht teilnehmen, damals hieß es von Polizeiseite, 5000 latent gewaltbereite Sympathisanten, Anschlagsgefahr etc. Ich habe mit Aussöhnung kein Problem, ich habe das Problem, dass die Gesellschaft immer wieder ihre Meinhof-Projektionen auf uns richtet. Für viele Millionen ist Meinhof fester Bestandteil ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Biografie.“

 

Gäbe es eine Abstimmung darüber, welche von den RAF-Gestalten man zuerst vergessen sollte, ich würde für Frau Meinhof stimmen.

 
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Was ist eine gute Mutter?
Wir sind es gewohnt, diese Frage anklagend in den Raum zu stellen ohne Blick darauf, daß wir alle meist das sein können, was wir erlebt, und das geben können, was wir empfangen haben. Desgleichen gilt für "Was ist ein guter Vater?"- Ulrike Meinhof hatte fünf Jahre lang einen, und konnte als Fünfjährige allein in das Krankenhaus fahren, um diesem Vater Geschichten zu erzählen.

Ich bin Friedrichard dankbar, Ulrike Meinhof im Blick ihrer Tochter aufleuchten zu lassen: bisher kannte ich nur die Teilzitate, bei denen ich mich über die Tochter nur wundern konnte. Nun erscheint die Sicht differenzierter; die Verwundung wird in ihrer Vielschichtigkeit deutlich. Es ist dieselbe Verwundung, die Ulrike Meinhof erfahren und offensichtlich weitergereicht hat: erst eine scheinbar heile Welt, eine behütete Kindheit, die nach und nach zerbrach, dem äußerst sensiblen Kind einer sicher ebenso sensiblen, aber auch ebenso labilen Mutter, dann das nackte Grauen. Mit fünf Jahren verliert sie ihren Vater, mit 13 ihre Mutter, um darauf bei der Lebensgefährtin ihrer Mutter die Pubertät zu durchleben: Renate Riemeck kommt so zum "eigenen" Kind und es fehlt ihr so ziemlich alles, um auch Mutter zu werden. Riemeck ist - wie Ulrike Meinhofs Vater - eine Opportunistin, die von ihrer Nähe zu den Nazis schamlos profitiert und damit auch gut in das Oldenburg der Nachkriegszeit gepaßt hat.
Ulrike Meinhof ist ein menschliches Dilemma wegen der Extreme: der Intelligenz (bestes Abitur des Jahrgangs der Stadt, gefördert durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes), ihr soziales Engegement (ihr ZDF-Film "Bambule" wurde zwar nicht ausgestrahlt, aber er steht für die Bewegung, die in kurzer Zeit den Mißhandlungen in den Heimen ein Ende bereitet hat), ihre menschlichen Verirrungen (wie kommt so eine Frau dazu, einen Mann wie Rainer Röhl zu heiraten???), ihre Depressionen (unerträglich die Interviews kurz vor ihrem Abtauchen), der Hinwendung zur Revolution, die ein bißchen wie ein Karl-May-Abenteuer erlebt, also überhaupt nicht begriffen wird.- Man muß schon reichlich übertünchen, um aus diesem Leben eine Projektionsfläche für allfällige Klischees zu machen.

Gäbe es eine Abstimmung darüber, welche von den RAF-Gestalten man zuerst vergessen sollte, ich würde für Frau Meinhof stimmen.

Wen, bitte, sollte man denn als zweite(n), und wen als letzte(n) vergessen? Und warum? Ich habe mich mit fast allen beschäftigt, die nicht nur als ungreifbare Phantome durch die Geschichte geistern, sondern durch sich selbst oder andere beschrieben sind; ich wüßte keine Konkurrenz. Vielleicht ist es das.
Zur Erleichterung der Auswahl stelle ich mal eine Übersichtsrezension ein.

 

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