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China Miéville: Perdido Street Station

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China Miéville: Perdido Street Station

Der Großstadtmoloch New Crozubun hat - Jabber weiß - genug Probleme: Allein zwei Serienmörder sorgen regelmäßig für Schlagzeilen, in der Patchworkstadt lebt eine Patchworkbevölkerung, die immer nur haar(oder kaktusstachel-)scharf davon entfernt ist, sich gegenseitig das Licht auszupusten, ein Streik der Hafenarbeiter steht ins Haus und der Bürgermeister hat seine Hände nicht nur in dreckigen Angelegenheiten, nein er badet darin. Die allgegenwärtige Stadtmiliz, die mit dem Prinzip der dezentralisierten Angst, den Deckel auf dem Pulverfass hält, hat alle Hände voll zu tun.
Aber an all das ist man gewöhnt, mit all dem würde die Stadt schon irgendwie fertig werden, aber als dann wundersame Wesen durch die Nachtluft schweben und den Einwohnern selbst noch den Schlaf und ihre Träume rauben, droht die ganze Stadt in die Luft zu fliegen.

Es ist ein zehn Jahre alter Roman, der mit eine eigene Stilrichtung, den "New Weird" eingeführt hat. Es ist Steampunk-Science-Fiction-Social-Fantasy, wenn man so will und es ist natürlich Literatur. Die Parabelhaftigkeit ist auf jeder Seite spürbar, es werden absurde Parameter für eine Gesellschaft gesetzt und dann konsequent und kompromisslos zu Ende gedacht.
Wenn in einer Stadt wie London die Andersfarbigen, die Ausländer, schon ein Ghetto haben und es immer wieder zu Unruhen kommt, was ist denn erst, wenn man sich vom Nachbarn nicht nur durch die Hautfarbe, sondern durch die Anzahl der Gliedmaßen unterscheidet?
Was für eine Verwaltung wäre nötig, um so etwas effizient unter Kontrolle zu halten? Und wenn es Magie gäbe, wie würde man sie in unserer Zeit einsetzen, und ohne die lästigen Skrupel?
Der Roman beginnt mit einem einer Liebesgeschichte zwischen einem Menschen und der Angehörigen einer äußerst merkwürdig Spezies. Er beginnt mit einem Vogelmenschen, der nicht mehr fliegen kann. Mit einer Feuilletonistin, die nebenbei ihren Hals riskiert, wenn sie für ein Untergrundmagazin schreibt. Er beginnt mit einer neuen Droge, er beginnt mit einem Bürgermeister, der regiert, um zu regieren. Ein Perpetuum Mobile, das ohne Reflektion reagiert, um den Status quo zu schützen, um zu verhindern, dass alles noch viel schlimmer kommt. Es ist ein herrlich-technokratischer, kalter Erzschruke, dieser Bürgermeister. Und er ist nicht inkompetent, als die Katastrophe schließlich einsetzt (ein Eingriff ins Ökosystem, als hätte man irgendwelche Kröten nach Australien importiert, und das ganze mal zehntausend), ruft er seine stehende Verbindung zur Hölle an, doch der Botschafter winkt nur ab: zu gefährlich. Und dann muss er auch noch zu dem einzigen Wesen gehen, das ihm noch unangenehmer ist, als die Dämonen, zum Weber.

Es ist ein Füllhorn an Ideen in diesem Roman. Figuren noch und nöcher, es wird mit Klischees gespielt, es wird angedeutet, vorausgedeutet und viel Spaß gehabt. Es ist ein großartiger fehlerhafter Roman.
Die erste Hälfte des Buches wird ein Stein nach oben gerollt, es wird Krisis-Energie erzeugt (die auch noch eine Rolle spielt), die Charaktere werden eingeführt, gezeichnet, entwickelt, diese absurde Welt, die bei Terry Pratchett alle 10 Zeilen für einen Lacher sorgen würde, ist hier konsequent und gnadenlos zu Ende gedacht. Natürlich ist es absurd, aber es ist großartig, es strengt die Vorstellungskraft an vielen Stellen an, der Autor hat es sich zum Ziel gesetzt, wenigstens in jedem zweiten Satz ein Wort zu verwenden, dass man entweder zum ersten Mal hört oder tief in seinem passiven Wortschatz gespeichert hat.
Und dann in der zweiten Hälfte des Buchs, als der Stein vom Berg rollt, als das Kartenhaus zusammenbricht, dann entsteht ein Sog, aber das Buch hat dann dasselbe Problem, wie jeder Kriegsfilm. Unter Feuer erkennt man nicht mehr, wer wer ist. Da werden die armen Protagonisten fast 500 Seiten lang von einer Krise in die nächste gejagt, von einem Trauma ins andere, sie werden gehetzt, gejagt und zur Strecke gebracht - und sie sind, das muss man dem Autor ja anrechen, eben keine Superhelden, sie brechen zusammen, aber da brechen auch die 500 Seiten Lektüre vorher zusammen, denn der eloquente, herzliche Wissenschaftler, der sich immer so durchmogelt, ist ein Wrack. Für die Feuilletonistin kommt ein Konflikt wie aus dem Nichts, und soll dann 100 Seiten für Potential sorgen, aber es tut sich so recht nichts, das gibt ihre Figur in der Situation gar nicht mehr. Sie atmet noch, sie redet noch, sie denkt noch, aber das sie, so stehend ko wie sie ist, noch irgendetwas fühlt, man nimmt es ihr nicht mehr ab. An der Stelle sind sowohl die Figuren als auch der Leser emotional ausgetrocknet, da geht nichts mehr, die Klaviatur der Gefühle ist ausgereizt.
Und es gibt auch einige schlechte Einfälle und Ideen, wie aus einer Hollywood-Drehbuchautoren-Schmiede.Da beißt sich der literarische Anspruch und die Ernsthaftigkeit der Figuren vielleicht auch ein wenig mit den Forderungen des Spannungs-Schreibens. Die Funktion vieler Szenen doppelt sich. Die Monster sind schrecklich, ja, wo einem anderen Autoren vielleicht eine Szene, vielleicht zwei genügt hätten, um die Monstrosität dieser Wesen darzustellen, da nimmt Mieville ein halbes Dutzend, und jede muss die vorherige noch übertreffen.
Und es verlaufen Handlungsstränge im Nichts. Es gibt den Satz: Wenn man ein Gewehr an die Wand hängt, muss man dafür sorgen, dass es im Verlauf der Geschichte noch abgefeuert wird. Mieville hängt eine Waffensammlung an die Wand, und sucht sich dann aus, mit wem er feuert.
Natürlich wird mit jedem Detail die Welt ein wenig konkreter, natürlich hat er tolle Einfälle, aber er hat auch einige Male böse danebengegriffen. Da wird eine Wendung im Plot, die einem anderen Autoren für den ganzen Roman genügt hätte, in einem halsbrecherischen, ja, fast trashigen Kapitel abgehandelt und bleibt dann ohne jede Konsequenz. Da wird über Seiten eine Parabel zu Hiroshima und Nagasaki gezogen, Mutationen, Szenarien, Monstrositäten werden ausgemalt, um dann schließlich zu sagen: Ja, reden wir nie wieder drüber. Das war wirklich schlimm.
Und - wie gesagt, das schlimmste - da werden all die schönen Charaktere und Verästelungen unter dem Bombardement der Ereignisse gleichgedrückt und plattgemacht. Es ist megalomanisch, das Buch brennt Wunderkerzen ab, wie sie nur kommen. Und manchmal, hat man das Gefühl einer hätte dem Autor mal sagen müssen: "Ja, es ist fantastisch, ja, es klasse, und jetzt schalt mal einen Gang runter, du hast doch bewiesen, was für geniale absurde Ideen du hast." Und grade wenn man das sagt, steuert das Buch auf seinen Höhepunkt zu und man muss sich vor dem Autor verneigen: Er setzt tatsächlich nochmal einen drauf, verbindet ein halbes Dutzend loser Fäden und serviert einen tatsächlich genialen Plan zur Auflösung.

Es gibt Fehler in diesem fanatstischen Buch, aber das sind nur kleine Makel, und sie tragen - auch in dieser Fehlerhaftigkeit - zum Gesamteindruck bei. Das Buch ist - wie die Stadt ,in der es spielt - unberechenbar.
Und für uns Autoren noch interessant: Ein modernes Buch mit modernen Erzähltechniken.

 

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