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Leben, um von zu erzählen, dass kein Krieg um Troia sei

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12.04.2007
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Leben, um von zu erzählen, dass kein Krieg um Troia sei

Leben, um von zu erzählen, dass kein Krieg um Troia sei
- Eine Montage nebst eines Anhangs -

I Homer, Keller & ich – Leben, um davon zu erzählen*,

II Eine Eulenspiegelei, ein Tunichtgut & Taugenichts und sechs Todesfälle

III Zürich, Heidelberg, Berlin und zurück oder wie Reisen bildet

IV Hoyhnhnms, Yahoos und der Traum vom bessern Leben

V Bürgerliches Glück & persönliches Leid

VI Aufschneider, Venus oder Muttergottes & der Minnesang

VII Odysseus oder Parzival? – Odysseus, Parzival und Eulenspiegel!

Anhang

*nebst einer Abschweifung, die der von allen Hunden Gehetzte überfliegen mag

Leben, um von zu erzählen, dass kein Krieg um Troia sei
- Eine Montage nebst eines Anhangs -

Einer Schweizer Brieffreundin und der deutsch-französischen Freundschaft gewidmet

„Es wandert eine schöne Sage
Wie Veilchenduft auf Erden um,
Wie sehnend eine Liebesklage
Geht sie bei Tag und Nacht herum.“

Gottfried Keller, Frühlingsglaube

I Homer, Keller & ich

Am Anfang war der Streit. Sieben Städte stritten einst darum, welche von ihnen Heimat des Homer sich nennen dürfe. Darüber kräht heut der Modegockel und sein abgebrühtes Suppenhühnchen gackert: „Was bekümmert uns der Streit im fernen Ironien um einen lahmenden Hexenmeter, der nicht mal den begrenzten Horizont eines Schusterlehrlings hat und gar nicht lesen, geschweige denn, spannend schreiben kann. Musste doch erst Hollywood und der Herr Petersen dieser blind naiven Nuss zeigen, wie man eine Geschichte spannend erzählt!“, und schon meinen mehr als sieben Städte der ach so aufgeklärten Moderne, den Streit vom Kopf auf die Füße stellen zu müssen.
Stritten einst sieben Städte um die Ehre, in welcher von ihnen Homer geboren wäre, streiten einst mehr denn sieben darum, welche von ihnen Geschöpf des neuen Homer wäre. So haben schon seinerzeit sieben Städte dem neuen Homer die Ehrenbürgerschaft angeboten, wenn sich der nur für sie erklärt hätte. Da aber die Bewohner weder dumm noch eitel sind und zudem geschäftstüchtig, schmückt jede Stadt sich fürsorglich mit dem Titel.
Dabei ist doch die gesuchte Stadt im Werk des Meisters beschrieben – wenn auch nur vage: es rage in jeder Stadt, in jedem Tale ein Türmchen des Ortes. Der sei aufgrund der zusammengestellten Türmchen als ideale Ortschaft anzuschauen, welche nur auf allgemeinen Nebeln der Geschichte gemalt wäre. Mit den Nebeln zög’ er weiter, bald über diesem, dann über jenem Gau. Hinweg über Grenzen des Ländchens im Herzen Europas, aus dem uns der neue Homer gekommen ist. Weit über die angrenzenden Länder hinaus gehts in fernste Gegenden Eurasiens. Meere werden überquert und fremde Kontinente erobert, dass kein Halten wäre vor fremder Kultur. So haben denn Zürich, Genf und Basel ihren Rang an die City of London, die Wallstreet zu NYC und Mainhattan verloren. Ja selbst das winzige Luxemburg macht nebst den kleinen Inselwelten der Barbados, Guernsey und Malta den alten Stätten den Rang streitig, ganz zu schweigen von einem mickrigen Hongkong, Shanghai und Tokio, dass zu befürchten steht, dass in unserer Postmoderne sieben mal sieben Stätten sich um den Titel streiten. Also wandeln sich Zeit und Sitte, gleichen sich an in aller Welt: Türmchen erwachsen zu Türmen, Türme werden Tower, gegen die der Turm zu Babylon immer ein Türmchen geblieben wäre und doch schon die Zukunft der Tower abgäbe als Symbol geistiger Verirrung und Bauruine. In den Towern hausen die neuen Jesuiten, betreiben ihre wundersame Metaphysik in Aktien und Derivaten, beten Gott Mammon an. Die dicken Brieftaschen dieser Mönche verschwinden, wie das Notizbuch sich zum Laptop wandelt, mit dem die Jesuiten Buch führen über Baumwolle, Kaffee, Öl und allerlei nützlichem und unnützem Zeug. Schon greifen sie nach Wind und Wasser, verleihen Mütter und versteigern Embryos, privatisieren genetische Codes, dass Dr. Frankenstein erbarm! Ehrbare Börsen wandeln sich zu zweifelhaften Wettbüros, in denen auf mäandernde Kurse gesetzt, Zukunft gegen Futures gewechselt wird und Krisen Gewinn versprechen. Bürger wandeln als Litfaßsäulen und wo immer ein Unternehmen sich auftut und sei’s im hintersten Winkel der Welt, moderne Jesuiten fallen drüber her gleich dem Heuschreck. Ist ein Gewinn erhascht, zieht der Nimmersatt weiter, bis auch das letzte Hälmchen abgegrast sei und nichts bleibe denn Wüste. Aus schwärmen sie als biblische Plage, kommen mit aller Welt in Berührung und spielen mit angesehenen Geschäftsmännern und Politikern, verstehen vortrefflich zu eigenen Gunsten Antworten auf schwierigste Geschäftsfragen zu geben, ziehen ihre Spielpartner bis aufs Höschen aus.

Da muss ich als Student Nietzsches Hinweis großzügig übersehen haben, dass die Leute von Seldwyla zum Schatz deutscher Prosa gehörten und immer wieder verdienten, gelesen zu werden (Vgl. Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 2, zweite Abteilung, Aph. 109*), denn Gottfried Keller blieb mir fast ein Leben lang bedeutungslos. Zwar hatte ich - wie die gleichaltrigen pubertären Halbwüchsigen der Klasse an der Realschule – im Deutschunterricht die Novelle Kleider machen Leute mit Vergnügen gelesen, doch sollte das Reclam-Heftchen für eine kleine Ewigkeit meine einzige Lektüre Gottfried Kellers bleiben, obwohl ich die Verfilmung mit Heinz Rühmann als Wenzel (Helmut Käutner/1940) immer wieder gerne sehe. Allein die Verfilmung hielt die Erinnerung an Seldwyla wach, wobei es unbewusst immer näher an Schilda rückte, ohne aber jemals nach Calau abzustürzen - oft beschreitet der Kopf seltsame Wege in der Erinnerung. Bis ich eines Tages eher zufällig, inzwischen mit ergrautem Vollbart fand ich mich bereits in der Mitte des sechsten Jahrzehnts, die Verfilmung des Grünen Heinrich (Thomas Koerfer/1989) sah. Nun wurde zunächst Der grüne Heinrich in einer wohlfeilen Ausgabe besorgt – doch zunächst nur quer gelesen, als wär’s ein Sach- oder Fachbuch. Mit 59 Jahren erst gerieten mir sämtliche Geschichten der Leute von Seldwyla unters Auge. „Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz“, (01.7) beginnt die Novellensammlung und ich wurd in einen Rausch versetzt, alles von und über Gottfried Keller zu lesen, was mir in die Hand fiel. Dieser verspätete Rausch ist umso erstaunlicher, da ich kein Geheimnis daraus mache, die Alten zu lieben und höher einzuschätzen als neunzig von hundert Modernen, Mittelhochdeutsches zu pflegen und Luthers Bibelübersetzung moderner und peppiger zu befinden als deren schicke Übersetzung durch modisch angepasste Kirchenmüttter und Laumänner. Zwar verwendet Keller bei der Namensgebung der Ortschaft den im alemannischen Gebiete der Schweiz häufig vorkommenden Typ „wyl“ = villa, ville/Weiler für die Endsilbe, es bezeichnet aber die erste Silbe die alte „saelde“ („Glück/Wonne/Segen“) und das Mittelhochdeutsche „wil(e)“ („Weile“ i. S. einer/s Zeitdauer/-raums), was den Ort ergibt, an dem das Glück eine Zeitlang wohnt.

Leben, um davon zu erzählen,

nennt der große Gabriel García Márquez seine Autobiographie von 2001. Ein ähnlicher Titel wird hier gewählt, da er eben so gut oder schlecht auf die im Folgenden erzählte Lebensgeschichte zutrifft, die zugleich Werkgeschichte ist. Aber diese Geschichte zu erzählen wäre „eine müßige Nachahmung …, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten“, (01.64) die Chance zu nutzen und Stellung zu beziehen. Mit diesen einleitenden Worten zur Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe von 1855 ließe sich ein Teil der Poetik Kellers beschreiben. Fußt diese Novelle auf einem realen Vorfall bei Leipzig (Zürcher Freitagszeitung vom 03. September 1847), so nimmt Keller hier Anleihen bei Shakespeare und dem „Shakespeare des Dorfes“, seinem älteren Schweizer Zeitgenossen Jeremias Gotthelf, so wie ich mir hier Anleihen aus Kellers Werk, den Briefwechseln und Notizen nehme, ohne zu beanspruchen, der Weisheit letzten Schluss zu liefern, mich aber nicht scheue, Reclam-Heftchen wie einst der Schüler, und nicht entblöde, das Internet zu nutzen. Ob ich dem Thema gerecht werde, müssen andere entscheiden, womit wir uns bereits inmitten einer Abschweifung befinden, auf der niemand uns heutigentags begleiten muss, sofern er nicht will.

* Eine Abschweifung, die der von allen Hunden Gehetzte überfliegen mag[/B]

Das vollständige Nietzsche-Zitat lautet: „Wenn man von Goethes Schriften absieht und namentlich von Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es gibt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig, was es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla, - und damit wird es einstweilen am Ende sein“, und wer wollte daran zweifeln? (Zitat aus: Menschliches, Allzumenschliches, zweiter Band, zweite Abteilung, Der Wanderer und sein Schatten, Aph. 109, wo es unterm Titel „Der Schatz der deutschen Prosa“ in: Friedrich Nietzsche, Das Hauptwerk Band 1, hgg. v. Jost Perfahl, München 1990, S. 585.)

Um den Lesefluss nicht durch Fuß- oder Endnoten zu hemmen und den Apparat nicht ausufern zu lassen, wird hinterm jeweiligen Zitat in Klammern ein Hinweis aufs zitierte Werk gegeben, der i. d. R. aus einer Ordinalzahl und der Seitenangabe hinter dem Punkt besteht, so wäre das Nietzsche Zitat mit „(15.585)“ anzugeben. Die Werke sind nach den Autorennamen alphabetisch sortiert.

Wo hab ich nun im Einzelnen meine „Anregungen“ her?
Nach mehr als dreitausend gelesenen Seiten Gottfried Keller ist zuvörderst die dreibändige Dünndruckausgabe des erstmals 1960 f. bei Winkler, München, verlegten Werkes in der Ausgabe von 1978 mit den hervorragenden Nachwörtern und Anmerkungen von Helmut Nürnberger zu nennen. Nürnberger lieferte den Wegweiser, wie der Weg zu begehen wäre:

01.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte. Vollständige Texte nach
den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der von Jonas Fränkel und Carl Helbling besorgten kritischen Gesamtausgabe. Mit Anmerkungen, einer Zeittafel und einem Nachwort von Helmuth Nürnberger.
Soweit nicht anders vermerkt werden die Gedichte in der hier vorliegenden Fassung zitiert.

02.
Ders.: Erzählungen. Vollständige Texte nach den Ausgaben letzter Hand; für das Sinngedicht wurde die von Jonas Fränkel besorgte kritische Ausgabe hinzugezogen. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Helmuth Nürnberger.

03.
Ders.; Der grüne Heinrich. Vollständige Ausgabe. Nach dem Text der Ausgabe von 1879/80. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Helmuth Nürnberger.

An der folgenden schönen Veröffentlichung des Aufbau-Verlages wird deutlich, wie wichtig parallel zum Dichten und Erzählen von Anfang an der Schriftverkehr für Keller gewesen ist, dass die Briefe eine eigene literarische Qualität gewinnen. Zugleich finden sich hier die einzelnen zerstreuten, oft aphoristischen Elemente zur Poetik, wie Keller sie entwickelte.
04.
Ders.: Schön ist doch das Leben! Biographie in Briefen, hgg. v. Peter Goldammer, Berlin 2001.
Wird darinnen neuere Rechtschreibung verwendet, so sind zitierte Briefe in der ursprünglichen Schreibung unter 3w.gottfriedkeller.ch, der homepage zu finden. Der umfangreicher Bestand an Briefen ist weitestgehend auch an anderer Stelle im Internet veröffentlicht, wie auch alle Gedichte, einige mitsamt Interpretation.
Unter gutenberg.spiegel.de finden sich die wichtigsten erzählenden Werke Gottfried Kellers, auch Tage- und Traumbuch.

05.
Ders.: Der Grüne Heinrich, Ausgabe 1853 ff., zitiert nach GHA unter 3w.gottfriedkeller.ch/GH/GH_Parallel.htm.
Für die Qualität der homepage garantiert schon allein der Name Walter Morgenthaler, der eine elektronische Edition des Gesamtwerkes angegangen ist. Weit schon ist diese Datenbank gediehen. Hier finden sich auch beide Fassungen des Grünen Heinrich. Und die größte Überraschung: Fassung 1853/55 und Fassung 1879/80 sind hier synoptisch eingestellt.

06.
Zwei autobiographische Schriften aus: Gottfried Keller’s Nachgelassene Schriften und Dichtungen, S. 1 – 22, 1876 u. 1889, hgg. v. Jakob Baechtold, 1893 unter Wikisource, der
freien Quellensammlung eingestellt.

Eine Variante zur Heimkehr bietet der immer wieder lesenswerte Peter Bichsel mit
07.
Drei Ellen guter Bannerseide. Gottfried Kellers «Martin Salander» oder das Drama der Rückkehr in die Heimat unter 3w.nzz.ch/2002/11/02/li/article8HOLR.html.
Freilich, Bichsels Vortrag beginnt mit der Behauptung, Martin Salander wäre „eine Autobiographie, die Autobiographie Gottfried Kellers“, was insofern schon nicht stimmen kann, da Keller kein Geschäftsmann/Kaufmann war. Dazu fehlte ihm das gewisse Talent. Zugleich aber ist die Behauptung wahr, denn der Salander „ist dem Leben nachgezeichnet, ein wenig erfolgreich und irgendwie dann doch ein bisschen an sich selbst gescheitert - wie sein
Autor.“ Lese er den Salander, „dann erinnert mich wenig an gestern, und vieles an heute.“ Er fürchtet, die Weidelich Zwillinge lebten noch, doch wir wissen es: sie leben als moderne Jesuiten.

08.
Bernd Breitenbruch: Gottfried Keller mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1968/15. Aufl. 2002.

09.
Evelyn Finger: Sonne, die uns täuscht. James Frey hat einen großen Stadtroman über Los Angeles geschrieben, einen Bericht vom Ende der westlichen Welt, in der Literaturbeilage der ZEIT Nr. 49, November 2009, S.22 ff.

10.
Winfried Freund: Gottfried Keller (1819-1890), in: Novelle, Stuttgart 1998, S. 167 ff., wobei er m. E. das Kunststück fertig bringt, Goldacher und Seldwyler zu verwechseln.

11.
Ferdinand Kürnberger, unter 3w.phf.uni-rostock.de/institut/igerman/forschung/litkritik/litkritik/start.htm?/ institut/igerman/forschung/Litkritik/Litkritik/Rezensionen/Realismus/Tgkuernberger4orig.htm

12.
Peter von Matt: Wetterleuchten der Moderne. Krisenzeichen des bürgerlichen Erzählens bei Gottfried Keller unter 3w.nzz.ch/2006/06/03/li/articleE3MFF.html.

13.
Conrad Ferdinand Meyer: Gesammelte Werke, hgg. v. Wolfgang Ignée, München 1985
13a. Erster Band
13b. Fünfter Band

14.
Bernd Neumann: Gottfried Keller: Kleider machen Leute. Der Löwe in der Eselshaut, in: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Interpretationen Bd. 2, Stuttgart 1990, S. 235
ff.


15.
Friedrich Nietzsche, Das Hauptwerk Band 1, hgg. v. Jost Perfahl, München 1990.

Dass auch Benno von Wiese ein wenig abgegrast werde, sei genannt
16.
Wolfgang Preisendanz: Keller . Der grüne Heinrich, in: Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. II, hgg. v. Benno von Wiese, D’dorf 1963, 18, - 20. Tsd., S. 76 ff.

17.
Heinrich Walter: GOTTFRIED KELLER: DER SEKRETÄR DES SCHWEIZERISCHEN CENTRAL-COMITÉS FÜR POLEN - UND DIE NOVELLE ‚KLEIDER MACHEN LEUTE’ IM SPIEGEL DIESER TÄTIGKEIT, 2001 unter 3w.ori-ginal.ch/_files/34.pdf.,

was natürlich nicht alles gewesen sein kann, denn allein schon im Werke Kellers finden sich Einflüsse der Altvordern Homer und Cervantes, die aggressive Satire eines Swift gemildert um den Humor eines Jean Paul, der Witz eines Voltaire in Konkurrenz zu dem eines Heine, das Märchenhafte eines Hauff liiert mit Hoffmanns Erzählungen und ganz ohne
Schauerromantik, der sorgenfreie Goethe verschärft um die Würze des Jean Paul, der unerreichte Shakespeare mit der Ikone Schiller und der Schlichtheit Gotthelfs, dem Shakespeare des Dorfes u. v. a., dass ich beim besten Willen nicht weiß, ob ein Gedanke von mir selbst oder ob er mir von einem andern käme.

und zum Anhang

18.
Keller-homepage 3w.gottfriedkeller.ch/Aufsätze zu Kellers Leben und Werk/…
18a.
W. Morgenthaler, ebd./Zeitgeschehen in „Martin Salander“
18b.
Michael Böhler, ebd./“Fettaugen über einer Wassersuppe“ – frühe Moderne-Kritik beim späten Gottfried Keller
Die Diagnos einer Verselbständigung der Zeichen und der Ausdifferenzierung autonomer Kreisläufe
18c.
ders., ebd./»Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß!«
‚Phantasmorgien der Moderne’ oder Verklärungsrealismus?

19.
Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologue der deutschen Sprache, Bd. 7, 3. Aufl., Mannh., Leipzig, Wien, Zürich 2001

20.
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in MEW Berlin 1976 ff.
20a. Bd. 1, MEW Bd. 23, Berlin 1977
20b. Bd. 2, MEW Bd. 24, Berlin 1976
20c. Bd. 3, MEW Bd. 25, Berlin 1979

II Eine Eulenspiegelei, ein Tunichtgut & Taugenichts und sechs Todesfälle

An den Anfang dieser Lebensgeschichte ist eine Eulenspiegelei zu stellen. Denn wurd seinerzeit Ulenspegel dreimal getauft, hat unser kleiner Held amtlich beglaubigt und mit kirchlichem Segen versehen bereits vier Male alle viere von sich gestreckt, bevor er noch richtig ins Leben tritt und überhaupt zu Bewusstsein kommt. Der Name unseres Helden findet sich viermal im Totenregister, bevor er auch nur einmal korrekt eingetragen wird mit Datum vom 15. Juli 1890.
Gottfried Keller wird am 19. Juli 1819 in Zürich als Sohn eines Drechslermeisters geboren. Vier Geschwister sterben früh. Wenn die zuvor genannte Eulenspiegelei mit einer dieser armen Seelen auffliegt, wird der Name Gottfried durchgestrichen und durch den korrekten Vornamen des verstorbenen Geschwisterchens ersetzt, was nix gegen gewissenhafte Gemeindediener und Statthalter Gottes zum Lobe und Wohlgefallen der Herrn der Himmel und der Höllen auf Erden besagt, ist das Totenregister doch ein feines Dokument, welches Endgültiges beschreibt und darum niemand bezweifeln sollte. Zudem höre ich, dass ihm später ähnliches widerfährt, wenn er vorzeitig totgesagt wird, was ihn dann umso mehr mit Heine verbände, denn selbst, wenn es nur zur Hälfte wahr wäre, so wäre es doch gut erfunden!

Als der Vater stirbt, ist Gottfried gerade einmal fünf. Lapidar wird er sagen: „Mein Vater starb so früh, daß ich ihn nicht mehr von seinem Vater konnte erzählen hören; ich weiß daher so gut wie nichts von diesem Manne; nur so viel ist gewiß, dass damals die Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner engeren Familie war. Da ich nicht annehmen mag, dass der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz gewesen sei, so halte ich es für wahrscheinlich, dass sein Vermögen durch eine zahlreiche Nachkommenschaft zersplittert wurde; wirklich habe ich auch eine Menge entfernter Vettern, welche ich kaum noch zu unterscheiden weiß, die, wie die Ameisen krabbelnd, bereits wieder im Begriffe sind, ein gutes Teil der vielzerhackten und durchfurchten Grundstücke an sich zu bringen. Ja, einige Alte unter denselben sind in der Zeit schon wieder reich gewesen und ihre Kinder wieder arm geworden“, (03.9) zeigt an allem Anfang, dass er den Vater vermisst. Alles, was er vom Vater weiß und niederschreibt, kommt ihm von andern. Vor allem Erzählungen der Mutter halten die Sehnsucht nach dem Vater wach.
Zeitlebens wird der Tod ein treuer und vertrauter Begleiter Gottfrieds sein. Darüber wird er schwermütig und immer wieder von Depressionen heimgesucht werden, wie es heute alltäglich und pauschal heißt. Wie anders sollte sich diese Erfahrung der Kleinkinderzeit auf die fernere Entwicklung des jungen Menschen auswirken, als in Zweifeln, im Zerwürfnis und im Scheitern. Lange vor Freud ist Keller davon überzeugt, „daß die Kindheit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzüge der menschlichen Zerwürfnisse im Kleinen abspiegele, so daß später nur wenige Erlebnisse vorkommen mögen, deren Umriß nicht wie ein Traum schon in unserm Wissen vorhanden, wie ein Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh zu erfüllen ist, wenn aber Uebles, als frühe Warnung gelten kann, so würde ich mich nicht so weitläufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschäftigen.“ (05.GHA1.09.380)

Die Mutter kann die kleine Familie, die zwo Jahre jüngere Schwester Regula zählt noch dazu, im Haus Zur Sichel am Rindermarkt gerade über Wasser halten und wird doch den Sohn ihr Leben lang alimentieren, so gut sie kann. Er charakterisiert in zwei Sätzen die Mutter, welche „mit wahrem Fanatismus das Hauswesen“ führt. „Sie war der Schrecken der Marktweiber und die Verzweiflung der Schlächter…“ (03.16)
Eine erneute Ehe der Mutter scheitert, wird geschieden.

Sechs Jahre lang besucht der Junge die Armenschule – hier werden dürftiger Leute Kinder nach Methoden Pestalozzis unentgeltlich unterrichtet. Er begreift und lernt schnell. Schließlich besucht er das weiterführende Landknabeninstitut auf der Stüssihofstatt und ab 1833 die kantonale Industrieschule im ehemaligen Chorherrengebäude zum Großmünster - bis er am 5. Juli 1834 wegen disziplinarischer Vergehen, einem Schülerstreich!, von der Schule verwiesen wird, was ihm wie eine Hinrichtung erscheinen muss: von „stund an“ wird der Junge „entlassen ... Das Gefühl des Unwillens und erlittener Ungerechtigkeit, welches sich sogleich in mir äußerte, war so überzeugend, daß meine Mutter nicht länger bei meiner Schuld verweilte, sondern sich ihren eigenen bekümmerten Gefühlen überließ, da der große und allmächtige Staat einer hilflosen Witwe das einzige Kind vor die Türe gestellt hatte mit den Worten: Es ist nicht zu brauchen!“ (03.141)
Der weitere schulische Bildungsgang ist versperrt. Sein Notizbuch aus dieser Zeit nennt er Meine Launen, die er ein Leben lang pflegen wird, wenn auch mit dem Alter auf subtilere Weise. Klein und untersetzt von Wuchs, mit feurigen dunklen Augen gibt Gottfried sich eher wortkarg, doch ärgert er sich, wird unverhohlen die Meinung geäußert und oft genug sein natürliches Handwerkszeug genutzt, um die Meinung nach- und ausdrücklich mit hammerharter Faust zu vertreten. So gilt Gottfried als aufbrausend und tut sich ein Leben lang mit persönlichen Freundschaften schwer.

Gottfried kommt zu einem stümperhaften Lithographen und Vedutenmaler – dem Habersaat und Schwindelhaber seiner Aufzeichnungen - in die Lehre und wandelt seitdem auf künstlerischen Pfaden mit dem Ziel, Landschaftsmaler zu werden. Gleichwohl verschlingt er an den Winterabenden 1834/35 Jean Paul. Der ist ihm „ein reicher, üppiger Blumengarten und segenvolles Fruchtfeld zugleich.“ Auch wenn er den ganzen Tag nix anderes tue, als „in ihm lesen, so glaube ich doch gearbeitet oder etwas Reelles getan zu haben. Er ist beinahe der größte Dichter, welchen ich kenne, wenn man die Natur mit ihren Wundern und das menschliche Herz als die ersten und größten Stoffe oder Aufgaben der Poesie anerkennt. Nur lässt er seine Helden allzu viel weinen, und seine Tränen- und Blutstürze sowie die Gestirne und die Sonne sind gar zu oft auf dem Schlachtfeld. Auch unterbricht er sich selbst, manchmal in den schönsten Stellen durch seinen Witz, welcher, sei er noch so gut und schön, doch manchmal dem Leser ein wenig Ungeduld verursacht. Bewundernswert ist die unerschöpfliche Quelle seiner treffenden Gleichnisse aus allen Zweigen des Wissens“, (04.50) wird er trotz Erfahrungen anderer, vielleicht größerer Dichter im Tagebuch vom 7. August 1843 gestehen. Seit dem November 1837 unterrichtet ihn nicht mal ein halbes Jahr ein Zeichner und Aquarellist, der von seiner Umwelt als geistig gestört eingestuft und der Römer seiner Notizen wird. Dieser macht ihn zugleich mit Homer und Ariost bekannt. „Den Homer forderte er mich auf zu lesen, und ich ließ mir dies nicht zweimal sagen. Im Anfange wollte es nicht recht gehen, ich fand wohl alles schön, aber das Einfache und Kolossale war mir noch zu ungewohnt, und ich vermochte nicht lange nacheinander auszuhalten. Aber Römer machte mich aufmerksam, wie Homer in jeder Bewegung und Stellung das einzig Nötige und Angemessene anwende, wie jedes Gefäß und jede Kleidung, die er beschreibe, zugleich das Geschmackvollste sei, was man sich denken könne, und wie endlich jede Situation und jeder moralische Konflikt bei ihm bei aller fast kindlichen Einfachheit von der gewähltesten Poesie getränkt sei. ‚Da verlangt man heutzutage immer nach dem Ausgesuchten, Interessanten und Pikanten und weiß in seiner Stumpfheit gar nicht, daß es gar nichts Ausgesuchteres, Pikanteres und ewig Neues geben kann als so einen homerischen Einfall in seiner einfachen Klassizität! Ich wünsche Ihnen nicht, lieber Lee, daß Sie jemals die ausgesuchte pikante Wahrheit in der Lage des Odysseus, wo er nackt und mit Schlamm bedeckt vor Nausikaa und ihren Gespielen erscheint, so recht aus Erfahrung empfinden lernen! Wollen Sie wissen, wie dies zugeht? Halten wir das Beispiel einmal fest! Wenn Sie einst getrennt von Ihrer Heimat und allem, was Ihnen lieb ist, in der Fremde umherschweifen, und Sie haben viel gesehen und viel erfahren, haben Kummer und Sorge, sind wohl gar elend und verlassen: so wird es Ihnen des Nachts unfehlbar träumen, daß Sie sich Ihrer Heimat nähern; Sie sehen sie glänzen und leuchten in den schönsten Farben; holde, feine und liebe Gestalten treten Ihnen entgegen; da entdecken Sie plötzlich, daß Sie zerfetzt, nackt und staubbedeckt einhergehen; eine namenlose Scham und Angst faßt Sie, Sie suchen sich zu bedecken, zu verbergen und erwachen in Schweiß gebadet. Dies ist, solange es Menschen gibt, der Traum des kummervollen umhergeworfenen Mannes, und so hat Homer jene Lage aus dem tiefsten und ewigen Wesen der Menschheit herausgenommen!’“ (03.369) Hier findet Gottfried bedeutende Teile seiner Poetik.
Nach den Ältern wagt er sich in die Klassik. Goethe verdrängt Jean Paul – einstweilen. Vierzig Tage lang verschlingt er alles, was ihm vom Olympier unter die Augen kommt – solang als Moses auf dem Sinai und Jesus in der Wüste um Erkenntnis rangen …
Seit 1836 lassen sich erste novellistische, seit 1838 erste lyrische Versuche nachweisen.
Im Mai des Jahres stirbt seine Jugendliebe an der Schwindsucht. Dem Mädchen ist ein Denkmal gesetzt in der Anna.
Er wird sich noch oft und immer wieder unglücklich verlieben.

Im April 1840 geht’s zur weiteren Ausbildung nach München, wo er zwar eine Kneipzeitung redigiert, sich aber sonst unter keinem glücklichen Stern findet.

III Zürich, Heidelberg, Berlin und zurück oder wie Reisen bildet

Als Keller nach zwoeinhalb Jahren wieder zurückkehrt ins Haus der Mutter, wendet er sich langsam von der Malerei ab. Vertan ist die Jugend, planlos, elend und gelangweilt vegetiert er durch den Winter, bis er erste politische Lyrik im Stile Herweghs und Freiligraths schreibt. Es ist die Zeit der ersten Sonderbundkämpfe: die konservativen katholischen Kantone Schwyz, Uri, Unterwalden, Luzern, Zug, Freiburg und Wallis schließen sich zum Sonderbund zusammen gegen die mehrheitlich reformierten und liberalen Kantone.
Pathos und Parteilichkeit treiben Keller zu dichten. Das Herz klopft heftig bis zum Hals, wenn er zornig Verse skandiert. Sein Jesuitenlied wird gedruckt!, trägt ihm aber zugleich schiefe Blicke der Zürcher Nachbarschaft ein.
Er nimmt Kontakt zu deutschen Emigranten des Vormärz in Zürich auf, beteiligt sich 1844/45 an zwo Freischarenzügen gegen Luzern, wo es wegen der Jesuitenfrage zu ersten offenen Kämpfen zwischen der konservativen Regierung und der radikalen Opposition kommt. Keller hasst die Konservativen, „Sie kommen, die Jesuiten!“ wird zum buchstäblich geflügelten Wort - als Flugblatt. Die jungen radikalen Wilden unterliegen zunächst. Die Ereignisse werden später in der Novelle Frau Regel Amrain und ihr Jüngster ironisch aufgearbeitet. Gleichwohl wird der Sonderbund 1847 im Bürgerkrieg unterliegen, aus dem lockeren Staatenbund der feste Bundesstaat Schweiz werden. Die Ereignisse sind durchaus nicht mit den Revolten der 1960-er Jahre zu vergleichen, selbst wenn sich Ähnlichkeiten aufzeigen lassen.
Früh ist der junge Gottfried Keller politisiert, früh schon wird er sich selbst historisch: „Allerlei erlebte Noth und die Sorge, welche ich der Mutter bereitete, ohne daß ein gutes Ziel in Aussicht stand, beschäftigten meine Gedanken und mein Gewissen, bis sich die Grübelei in den Vorsatz verwandelte, einen traurigen kleinen Roman zu schreiben über den tragischen Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn, an welcher Mutter und Sohn zu Grunde gingen. Dies war meines Wissens der erste schriftstellerische Vorsatz, den ich mit Bewußtsein gefaßt habe, und ich war ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt. Es schwebte mir das Bild eines elegisch-lyrischen Buches vor mit heiteren Episoden und einem cypressendunkeln Schlusse wo alles begraben wurde. Die Mutter kochte unterdessen unverdrossen an ihrem Herde die Suppe, damit ich essen konnte, wenn ich aus meiner seltsamen Werkstatt nach Hause kam.“ (06.19 und 03.814) Wo einem potentiellen Oedipus der Vater vorzeiten abhanden kommt, tritt ein ausgesprochener Mutterkomplex auf. Lange wird es dauern, bis er den ab- und aufgearbeitet hat: Schreiben als Selbsttherapie! Fast sollte man meinen, dass Ignées Bemerkung, dass Günter Grass „so klug und berühmt“ geworden wäre, „weil er seiner armen, einfachen Mutter im nachhinein zu ‚imponieren’ versuchte“ (13a.IX) ebenso sehr für C. F. Meyer als für Gottfried Keller gälte.
Aufzeichnungen zum Grünen Heinrich entstehen, erste Gedichte werden veröffentlicht unterm ironisierenden und doch wahrhaftigen Titel Lieder eines Autodidakten , 1846 folgen ein erster Gedichtband, nüchtern Gedichte betitelt, und Einundzwanzig Liebeslieder. Der junge Mann erhält ein erstes Honorar und hofft auf eine schöne Zukunft.

Aber wieder fällt er – unglücklich in die Schwägerin Freiligraths verliebt, Marie Melos – in ein tiefes Loch, weil er nicht den Mut findet, sich zu bekennen, fühlt sich lebendig begraben, wie auch eine Gruppe von 19 eher mittelmäßigen Gedichten aus dieser Zeit benannt wird. In der gleichen Zeit aber schmiedet Keller diese romantisch anmutender Verse, die es mit Versen Goethes oder Mörikes aufnehmen können:
„Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee.
Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.

Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Ästen klomm die Nix herauf,“ –
ich hoffe im Stillen, dass selbst der größte Gläubige der Fantasygemeinde nicht an die Existenz von Nixen glaube und fahre fort –
„Schaute durch das grüne Eis empor.

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.

Mit ersticktem Jammer tastet' sie
An der harten Decke her und hin –
Ich vergeß das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!“ (Winternacht)
Durch fremden Mund benennt er sein eigentliches Problem, wenn er Lys im Grünen Heinrich sagen lässt „‚Gerätst du einst zwischen zwei Weiber, so wirst du wahrscheinlich beiden nachlaufen, wenn dir beide angenehm sind, das ist einfacher, als sich für eine zu entschließen! Und vielleicht wirst du recht haben! wisse: das Auge ist der Urheber und der Erhalter oder Vernichter der Liebe …“, (03.549) denn kaum, dass die Freiligraths nach London ziehen, glaubt Keller, eine andere zu lieben und wird geradezu närrisch…
Im Frühjahr 1877 wird Marie, inzwischen wieder in deutschen Landen, erneut Kontakt aufnehmen. Auch Marie Melos ist ledig geblieben. Sie wäre vielleicht die richtige Partnerin Kellers geworden, voller Ironie und Interesse für Politik und Literatur. Ich vermeine, Marie in der Judith des Grünen Heinrich, die „Rheinnixe“ Kellers (Brief vom 30.12.1882) zu erkennen. Der erneute Kontakt erfolgt so rechtzeitig, dass Keller einige Judith-Passagen des Grünen Heinrich neu fassen kann. Aus Düsseldorf kontert Marie: „Wäre ich … wirklich zur Rheinnixe geworden, so würde ich die neue Verwandlung sofort benutzt haben, um rheinauf zu schwimmen - in die Limmat einzubiegen u. dann in Zürich zu landen, um Ihnen einen Besuch abzustatten …“ (am 22. 1.1883)
Muss es da nicht seltsam anmuten, dass die Figuren seiner Geschichten allesamt reale Pendants haben, nicht aber die Judith nach Auffassung der schriftgelehrten Zunft? Ausgerechnet die Figur, die neben der Mutter von Anfang bis Ende den Grünen Heinrich begleitet wäre reine Fiktion? -
Wer von den still einander Liebenden hat da mehr als dreißig Jahre zuvor auf ein erlösendes Wort des andern gewartet? Nicht immer glänzt Schweigen gülden! Hypothetisch löst er das Problem im Roman. Anna und Judith bilden Gegensätze – Preisendanz verweist auf hegelsche Dialektik – zu Anna und Judith als These und Antithese zählt Dortchen als Synthese (16.91 f.), aber auch vom Dualismus spiritueller und sexueller Liebe: Sind Anna und Heinrich getrennt, überwältigen ihn die Gefühle. Anna ist das idealisierte Bild einer Liebe, insofern abstrakt. Und umgekehrt bei Judith: in ihrer Nähe wird ihm warm, die Knie werden weich, was ihn verunsichert, dass er sich letztlich scheut, sie zu treffen. Judith „bleibt bildlos“ (16.94) und doch konkret. Ironie der Geschichte: „Diese fortwährende Erinnerung an sie [Anna]und ihre Abwesenheit machten mich insgeheim immer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde; ich begann lange Liebesbriefe an sie zu schreiben, die ich zuerst verbrannte, dann aufbewahrte, und zuletzt wurde ich so verwegen, alles, was ich für Anna fühlte, auf ein offenes Blatt zu schreiben, in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen, und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende Tat für mich und ein Bekenntnis meines Geheimnisses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte unterwegs doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte“, (03.236) wie er später erfährt.
In der zweiten Fassung schiebt er die Novelle des Zwiehan ein, der sich auch zwischen zwei Frauen nicht entscheiden kann. Ach ja, „zwie han“ heißt nichts anderes als „zwei haben“ (wollen).
Überhaupt steigert Liebe sein Lebensgefühl, inspiriert ihn und befördert somit seine Kunst.
Auch sucht er nicht Gründe und Schuld fürs Scheitern bei andern. Keller beschreibt seine Moral:
„Willst du, o Herz! Ein gutes Ziel erreichen,
Mußt du in eigner Angel schwebend ruhn;
Ein Tor versucht zu gehn in fremden Schuhn,
Nur mit sich selbst kann sich der Mann vergleichen!

Ein Tor, der aus des Nachbars Kinderstreichen
Sich Trost nimmt für das eigne schwache Tun,
Der immer um sich späht und lauscht und nun
Sich seinen Wert bestimmt nach falschen Zeichen!

Tu frei und offen, was du willst nicht lassen,
Doch wandle streng auf selbstbeschränkten Wegen
Und lerne früh nur deine Fehler hassen!

Und ruhig geh den anderen entgegen;
Kannst du dein Ich nur fest zusammenfassen,
Wird deine Kraft die fremde Kraft erregen“, eine Erkenntnis, so auch der Titel dieses Sonetts, die hier angezeigt wird: Keller gibt sich darin stolz und autonom, sucht die Schuld zu eignen Fehlern nicht bei andern, sucht sie nicht mit Fremdem zu begründen; er gibt sich demütig und zeigt zugleich Gemeinsinn, denn er will nicht bevormunden, aber erst recht nicht bevormundet werden. Hier findet sich bereits sein didaktisches und republikanisches Konzept, ist der Wille formuliert, sich selbst nichts vormachen zu wollen, ehrlich gegen sich selbst zu sein, was er auch leben wird.

1847 volontiert Keller in der Staatskanzlei des Kantons Zürich unterm Staatsschreiber Escher, dem Vorsteher der Kanzlei. Gedichte und verstreute Aufsätze zu Literatur und Kunst bleiben nicht unbemerkt. Die Regierung wird aufmerksam auf Gottfried Keller – gewährt ihm ein Stipendium zur weiteren Ausbildung.
Ab Oktober 1848 studiert er in Heidelberg, wo Ludwig Feuerbach großen Einfluss auf ihn gewinnt. Wie Rausch und Taumel kommt das Glück des Wissens über ihn: Nun behauptet Keller, dass er tabula rasa machen werde mit all seinen religiösen Vorstellungen, bis er auf dem Niveau Feuerbachs sei, denn dem ist die Welt eine Republik, die weder einen absoluten noch konstitutionellen Gott verträgt und dem fast Dreißigjährigen ist Gott nurmehr Präsident oder Erster Konsul, den es abzusetzen gelte (Januar 1849 an Baumgartner). Der Taumel ist nach einem Jahr vorbei, denn als Keller Gott und der Unsterblichkeit entsagt, glaubt er, ein besserer und strengerer Mensch zu werden. Aber er findet sich weder besser noch schlechter geworden, sondern ganz der Alte – im Guten wie im Schlechten (April 1850 an Freiligrath). Obwohl ihm Gott wie der Glaube an die Unsterblichkeit abhanden kommen, wird er kein Atheist, bleibt Zwingli ein Vorbild und Keller Mitglied der reformierten Kirche, was weiter unten sich selbst erklären wird.

Ein weiteres Stipendium des Kantons lässt Keller 1850 über Köln und Düsseldorf nach Berlin ziehen, wo’s ihm nicht gefällt. Es gibt für ihn keinen bessern Bußort, keine bessre Korrektionsanstalt als Berlin, das er als pennsylvanisches Zellengefängnis empfindet. Aber diese hundsföttischen Jahre nutzt er, knüpft Kontakte zu Theaterleuten, verkehrt in den literarischen Salons der Lewald und Varnhagen von Enses, ist vor allem andern produktiv und quält sich trotz zunehmender Selbstzweifel ans Ende des Grünen Heinrich, - „Könnte ich das Buch noch einmal umschreiben, so wollte ich jetzt etwas Dauerhaftes und Tüchtiges daraus machen. Es sind ein Menge unerträglicher Geziert- und Flachheiten, auch große Formfehler darin; dies alles schon vor dem Erscheinen einzusehen, mit diesem gemischten Bewußtsein auch noch daran schreiben zu müssen, während gedruckte Bände lange vorlagen, war ein Fegefeuer, welches nicht jedem zugute kommen dürfte heutzutage“.
Wieder verliebt er sich, heftiger denn je, und wieder unglücklich, was mit Dortchen Schönfund im Grünen Heinrich, aber auch als Lydia im Pankraz Eingang findet und somit die vollständige Herausgabe des Werkes weiter verzögert. Um zu vergessen wird er – ganz Heinrich Lee - sich besaufen und angelegentliche Prügel verteilen.
Zudem erarbeitet er eine ersten Fassung des satirischen Versepos Der Apotheker von Chamounix, oder Der kleine Romanzero – der Untertitel verrät’s: ein satirischer Reflex auf Heines Romanzero, dessen Rückkehr zu Gott & Unsterblichkeit. Mit Heines Tod erscheint ihm eine Veröffentlichung pietätlos. Dreißig Jahre später kommt es überarbeitet ans Licht der Öffentlichkeit. Es sind bei weitem nicht seine besten Verse - Heine bleibt ihm unerreichbar. In einem Gedicht wird er über Epigonen spotten – und sich selbst treffen:
„Unser ist das Los der Epigonen,
Die im weiten Zwischenreiche wohnen;
Seht, wie ihr noch einen Tropfen presset
Aus den alten Schalen der Zitronen!
Geistiges ist mäßig noch vorhanden,
…“ (Gaselen 1)
In einem Zug bringt er den ersten Band der Leute von Seldwyla zu Papier, manches, das zwanzig Jahre später seinen Ruhm begründen wird, wird in den Berliner Jahren entworfen (Sieben Legenden, Sinngedicht, Das Fähnlein der sieben Aufrechten, älteste und zugleich bekannteste der späteren Züricher Novellen).

Noch vorm Grünen Heinrich gibt Keller selbst ein lyrisches Selbstportrait:

„Ich schmiede Verse, schreibe Bücher,
Ich schreibe wochen-, mondenlang,
Laß Helden große Worte sprechen,
Stets gibt die Schelle ihren Klang.

Ich schreibe an gelehrte Freunde,
An zier- und geistbegabte Fraun,
An lebensfrohe Witzgenossen,
Weiß alle leichtlich zu erbaun.

Nur wenn ich an die ungelehrte
Und arme Mutter schreiben will,
Steht meiner Torheit fertge Feder
Auf dem Papiere zagend still.

Da gilt es erstlich groß zu schreiben
Und deutlich für das Mutterauge,
Daß für das alternd' tränenblöde
Des Söhnleins Schrift zum Lesen tauge

Und dann, o welche schmerzenvolle
Und schwere Kunst, das Wort zu wählen,
Das schlichte Wort, das Hoffnung spendet
Und wahr ist mitten im Verhehlen!

O wie gesteh ich all mein Fehlen
Und töte ihren Glauben nicht?
Soll ich voll List den Trotzgen spielen,
Zu locken ihre Zuversicht?

Brech ich die alte schlichte Weise
Und nehme heißes Schmeichelwort,
Das ich so gerne spräche? Aber
Scheucht dies nicht ihr Vertrauen fort?“ (01.1000 f.),
was mir natürlich kalte Schauer übern Rücken jagt, denn wie könnt ich selbst besser beschrieben werden?

IV Hoyhnhnms, Yahoos und der Traum vom bessern Leben

Mit einem Paukenschlag betritt Keller die Bühne der Weltliteratur: Die drei ersten Bände des Grünen Heinrich erscheinen zu Weihnachten 1853, vordatiert auf 1854, der vierte Band folgt 1855. Das Vorwort ist eine Entschuldigung gegenüber Verleger, Gott und Welt, wie auch gegenüber seinen Briefpartnern, nimmt er doch den Schriftverkehr ernst, dass den Briefen eine eigene literarische Qualität zukommt: „Von diesem Buche liegt der erste Band schon seit zwei Jahren, der zweite seit einem Jahre fertig gedruckt, während die Beendigung des dritten und vierten Bandes durch verschiedenes Ungeschick bis vor Kurzem verzögert wurde. Absicht und Motive blieben dabei unverändert dieselben, wie am ersten Tage der Conception, während in der Ausführung während mehrerer Jahre der Geschmack des Verfassers sich nothwendig ändern mußte, oder ehrlich herausgesagt: ich lernte über der Arbeit besser schreiben. Die ersten Bogen dieses Romanes datiren noch aus dem Jahr 1847, die letzten entstanden in diesen Tagen, und die Entstehungsweise des Ganzen gleicht derjenigen eines ausführlichen und langen Briefes, welchen man über eine vertrauliche Angelegenheit schreibt, oft unterbrochen durch den Wechsel und Drang des Lebens. Man läßt den Brief ganze Zeiträume hindurch liegen, man wird vielfältig ein Anderer; aber wenn man das Geschriebene wieder zur Hand nimmt, fährt man genau da fort, wo man aufgehört hatte, und wenn sich auch in dem, was man betont oder verschweigt, der Wechsel des Lebens kund thut, findet sich doch, daß man gegen den, an welchen der Brief gerichtet, und in dieser Sache der Alte geblieben ist. Man hat den Brief mit einer gewissen, redseligen Breite begonnen, welche eher von Bescheidenheit zeugt, indem man sich kaum Stoffes genug zutraute, um den ganzen schönen Bogen zu füllen. Bald aber wird die Sache ernster; das Mitzutheilende macht sich geltend und verdrängt die gemüthlich ausgeschmückte Gesprächigkeit, und endlich zwingt sich von selbst, und noch gedrängt durch die äußeren Ereignisse und Schicksale, nicht eine theoretische, sondern im Augenblick praktische Oekonomie in die in der Eile besonnene Feder, so daß nur das Wesentliche sich lösen darf aus dem Fluge der Gedanken, um sich gegen den Schluß des Briefes hin wenigstens so viel Raum zu erkämpfen, als nöthig ist, mit der warmen Liebe des Anfanges zu endigen. So entsteht freilich nicht ein streng gegliedertes Kunstwerk, aber vielleicht ein um so treuerer Ausdruck dessen, was man war und wollte mit dem Briefe. Eine andere Frage aber ist es nun, ob das Gleichniß hinreiche, eine gewisse Unförmlichkeit vorliegenden Romanes zu entschuldigen oder zu beschönigen. Ich bin weit entfernt, dies versuchen zu wollen; einzig und allein möchte ich durch das Gleichniß die Hoffnung andeuten, der geneigte Leser werde wenigstens, wenn auch nicht den Genuß eines reinen und meisterhaften Kunstwerkes, so doch den Eindruck einer wahr empfundenen und mannigfach bewegten Mittheilung davon tragen. – Besagte Unförmlichkeit hat ihren Grund hauptsächlich in der Art, wie der Roman in zwei verschiedene Bestandtheile auseinander fällt, nämlich in eine Selbstbiographie des Helden, nachdem er eingeführt ist, und in den eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzählt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen gelöst wird. Der eine dieser Theile ist viel zu breit, um als Episode des anderen zu gelten, und so bleibt nur zu wünschen, daß die Einheit des Inhaltes Beide genugsam möge verbinden und die getrennte Form vergessen lassen. – Ueber den eigentlichen Inhalt weiß ich hier Nichts zu sagen, als daß man das Buch leider als ein Tendenzbuch wird ansehen können, während es in der That nur insofern ein solches ist, als es mit Absicht Nichts verschweigt, was in den nothwendigen Kreis seines Stoffes gehört. Stoff und Form aber will ich hiermit bescheidenst dem ungewissen Stern jedes ersten Versuches anheim stellen.“ (05.GHA 1.00.I ff.) –
Dreißig Jahre später wird der zwoten Fassung des Grünen Heinrich kein Vorwort, keine Entschuldigung mehr vorangestellt, was anzeigen soll, dass Keller seiner selbst bewusst geworden ist.

Der Verleger hält den Roman für ein Meisterwerk (Eduard Vieweg am 12.01.1853 „…, denn ich kann Sie versichern daß ich in Ihr Buch förmlich verliebt bin! Ich habe wenig Romane gelesen, die mich so wie der Ihrige erfreut hätten, wenig Schilderungen der Natur und der Entwicklung des Seelenlebens, der Kunst-Anfänge im Menschen, die mir schöner und wahrer erschienen wären, ja ich mögte keinen Roman gleichen Genres dem Ihrigen an die Seite stellen! … Ich halte Ihren Roman für ein Meisterwerk, ob ihn die Kritik dafür hält und ob ihn das Publikum kauft, werden wir sehen, und rathe Ihnen sehr, kürzen Sie jetzt, nachdem Sie einmal den Stoff so verarbeitet haben, nicht mit Hast und mit ängstlicher Rücksicht auf den Raum. Das Buch könnte sehr dadurch verlieren und das wünschte ich um Alles nicht. Geben Sie lieber noch einen vierten Band, …“), zahlt aber das Honorar für einen Anfänger. Was Keller wurmt. Die Miete kann er nicht zahlen. Der Magen knurrt. Unterm Hungertuch wird nicht nur Aggression erzeugt, sondern körpereigene Opioide versetzen ihn – absurd - in einen Rauschzustand der Glückseligkeit, der das Knurren übertönt. Und wenn der Schlaf ihn heimsucht, findet sich der Meister des poetischen und bürgerlichen Realismus in einer Traumwelt, die ihn zugleich zum Bindeglied zwischen Romantik und Surrealismus macht. Rationalität ist ausgeschaltet, führt zu Auflösung von Logik und Syntax. Er liefert ebenso sehr Bilder wie von Dali in „glühendsten Farben,“ dem „reichsten Gestaltenwechsel“, als auch Erklärungen zum Traum und Rausch lange vor Freud, was uns somit eine Traumdeutung entbehrlich macht „mit ihrer Nacherinnerung aber auch den Wachen für alles Uebel vollkommen schadlos hielt und das Unerträgliche erträglich machte, ja sogar zu einer Art von bemerkenswerthem Glücke umwandelte.
Ganz wie es ihm einst Römer, sein unkluger und doch so erfahrener Lehrer, verkündet, sah er nun im Traume bald die Stadt, bald das schöne Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert, ohne je hinein gelangen zu können, oder wenn er dort war, mit einem plötzlichen traurigen Ausgang und Erwachen“, durchreist ein idealisiertes Land hin zu „der Stadt, worin das Vaterhaus lag.“ (05.GHA 4.07.221 f.) Es geschehen die absonderlichsten Dinge, deren bedeutsamsten hier aufgezeigt seien – in der ursprünglichen Fassung und somit statt eines Icherzählers in der Er-Form, denn Gottfried Keller ist nicht Herr seiner selbst, bleibt sich selbst fremd: „Ein Landmann pflügte mit einem goldenen Pfluge am Ufer mit milchweißen Ochsen, unter deren Tritten große Kornblumen aufsproßten; die Furche füllte sich mit goldenen Körnern, welche der Bauer, indem er mit der einen Hand den Pflug lenkte, mit der anderen aufschöpfte und weithin in die Luft warf, worauf sie in einem goldenen Regen über Heinrich herabfielen, der sie in seinem Hute auffing“. (05.GHA 4.07.222 f.) Verwandle sich der Goldregen zunächst in unzählbare Münzen, wandle er sich schließlich in einen „prächtigen Goldfuchs“, den buchstäblich der Hafer steche (da das Pferd den Hafer nicht frisst, stattdessen sich lieber in süßen Mandelkernen und Weintrauben wälzt, und der hungrige Heinrich kann’s nicht verhindern). Heinrich besteigt das Pferd und hat bei dem beschaulichen Ritt mancherlei sonderbare Erscheinung, die wir heute als psychedelisch einordnen würden, bis er in das Dorf einreitet, in dem sein Oheim wohnt, das ihm aber fremd bleibt, ist doch vieles neu darinnen. In einem „Bienenhause aber lag sein alter Liebesbrief, den der Wind einst dahingetragen, vergilbt und vom Wetter zugerichtet, ohne daß ihn die Jahre her Jemand gefunden, obgleich er offen dalag; er nahm ihn und wollte ihn entfalten, da riß ihn Jemand aus seiner Hand, und als er sich umsah, huschte Judith damit lachend um die Ecke und küßte Heinrich aus der Entfernung durch die Luft, daß er den Kuß auf seinem Munde fühlte; aber der Kuß verwandelte sich sogleich in ein Apfelküchlein, das er begierig aß, da er im Schlafe mächtigen Hunger empfand. Dies sah er auch sogleich ein und überlegte, daß er ja träume, daß aber der Apfelkuchen von jenen Aepfeln herkomme, welche er einst küssend mit Judith zusammen gegessen. Aber das Stückchen Kuchen machte ihn erst recht heißhungrig und er gedachte, daß es nun Zeit sei, in das Haus zu gehen, wo wohl eine gute Mahlzeit bereit sein würde. Er packte also einen schweren Mantelsack aus, welcher sich unversehens auf seinem Pferde befand, nachdem er dasselbe an einen Baum gebunden, …“ (05.GHA 4.07.227) Schließlich „berührte ein süßer duftiger Hauch seine Wangen, den er so recht durch allen Traum hindurch empfand, und Anna stand vor ihm und führte ihn freundlich in das grüne Haus hinein. Er stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube, wo der Oheim, die Tante, die Basen und die Vettern sämmtlich versammelt waren und ihn herzlich begrüßten.“ (05.GHA 4.07.229) Auffällig ist, dass vordem Anna immer die erste Stelle eingenommen hat, die der Traum nun der Judith in einem fernen Amerika zugesteht. Der Traum weiß also distanzlos die Lebenden von den Toten zu scheiden. Aber noch etwas fällt an diesem Traum auf, was verschlüsselt daherkommt: der Apfel steht seit der Verführung im Paradies für die Frauenbrust, die nicht nur vom Manne liebkost wird, sondern vor allem als die nährende Mutterbrust: Judith ersetzt im Traum die Mutter, obwohl diese dem Heinrich räumlich viel näher steht, keines Surrogats bedürfte.
Wie der Ort, so hat sich auch im Hause alles geändert „und Anna war als Mädchen von vierzehn Jahren in jenem rothgeblümten Kleide und mit der lieblichen Halskrause.
Was aber sehr sonderbar war: Alle, Anna nicht ausgenommen, trugen lange feine kölnische Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Taback und Heinrich ebenfalls. Dabei standen sie, die Verstorbenen und die noch Lebendigen, keinen Augenblick still, sondern gingen mit freundlichen frohen Mienen unablässig die Stube auf und nieder, hin und her, und dazwischen niedrig am Boden die zahlreichen Jagdhunde, das Reh, der Marder, zahme Falken und Tauben in friedlicher Eintracht, nur daß die Thiere den entgegengesetzten Strich mit den Menschen gingen und so ein wunderbares Weben durcheinanderging“,(05.GHA 4.07.230) paradiesische Verhältnisse, denn eine duftende und reichlich Mahlzeit ist aufgetischt, und gleich der Absturz, denn niemand geht zu Tisch, stattdessen gibt’s absurd scheinende Monologe und Dialoge, bis der Oheim endlich zu Tisch befiehlt. „Alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden, je drei und drei, wie die Soldaten die Gewehre. Darauf schienen sie unversehens wieder zu vergessen, daß sie sich eigentlich zu Tisch setzen wollten zum großen Verdruß Heinrich's; denn sie gingen nun ohne die Pfeifen wieder umher und fingen allmälig an zu singen“, (05.GHA 4.07.231) und Heinrich singt mit, bis er in Tränen gebadet aufwacht, um gleich wieder vor Sehnsucht weiter zu träumen und heimzukommen. In der romantischsten aller denkbaren Idyllen, in der er sich wiederfindet, ist er auf einem „schmalen Brettersteig“, (05.GHA 4.07.233) der Traum deutet sich selbst als auf dem Holzweg! Und es zeigt sich das personifizierte schlechte Gewissen, als er nach dem Höhenflug in einen Abgrund schaut: „Auf dem Grunde war eine kleine Wiese an einem klaren Bache; mitten auf der Wiese saß auf ihrem kleinen Strohsessel Heinrich's Mutter in einem braunen Einsiedlerkleide und mit eisgrauen Haaren. Sie war uralt und gebeugt, und Heinrich konnte ungeachtet der fernen Tiefe jeden ihrer Züge genau erkennen. Sie hütete mit einer grünenden Ruthe eine kleine Heerde großer Silberfasanen, und wenn einer sich aus ihrem Umkreise entfernen wollte, schlug sie leise auf seine Flügel, worauf einige glänzende Federn emporschwebten und in der Sonne spielten“, ein Symbol der mütterlichen Erziehung. „Am Bächlein aber stand ihr Spinnrad, das mit Schaufeln versehen und eigentlich ein kleines Mühlrad war und sich blitzschnell drehte; sie spann nur mit der einen Hand den leuchtenden Faden, der sich nicht auf die Spule wickelte, sondern kreuz und quer an dem Abhange herumzog und sich da sogleich zu großen Flächen blendender Leinwand bildete. Diese stieg höher und höher hinan, und plötzlich fühlte Heinrich ein schweres Gewicht auf seiner Schulter“ (05.GHA 4.07.235 f.) – und Heinrich fliegt davon, was kein Wort-, sondern ein Buchstabenspiel ist: Heinrich flieht (= flüchtet) auf einen steilen Berg gegenüber der Geburtsstadt, die er auch so recht nicht wiedererkennen mag. Am Münster der Stadt erscheinen ihm tanzende Mädchen und nun träumt ihm beim Abritt vom Berge von spannenlangen pudelnackten Weibchen unbeschreiblichen Ebenmaßes. Und doch neigt sich die traumhafte Idylle dem Ende entgegen, denn das Pferd ist nicht nur goldig, sondern auch ein schlauer Fuchs, die Menschenkinder sind nur Yahoos, dass Jonathan Swift wiehert und gackernd Jean Paul sich schüttelt, als Heinrich nach den allerliebsten Wesen fragt. „‚Ei was wird's sein?’ erwiederte das Pferd, indem es springend den Kopf zurückwandte, ‚das sind nur die guten Dinge und Ideen, welche der Boden der Heimath in sich schließt, und welche derjenige herausklopft, der im Lande bleibt und sich redlich nährt!’“ (05.GHA 4.07.239), - Sprichwörter und Volksmund werden persifliert und Heinrich nimmt sich einiges vor – für den folgenden Tag!
Ross und Reiter kommen nun an eine Brücke über den Fluss, und auch hier hat sich alles geändert, ist prächtiger denn je. Fluss, Brücke und das Volk, welches zwischen den Ufern verkehrt, symbolisieren den Wirtschaftskreislauf und wir erleben eine ökonomische Vorlesung und Bilder zum Tableau économique M. Quesnay, denn „der ganze Verkehr war wie ein Blutumlauf in durchsichtigen Adern. In dem geschliffenen Granitboden der Halle waren verschiedene Löcher angebracht mit eingepaßten Granitdeckeln, und was sich Geheimnißvolles oder Fremdartiges in dem Handel und Wandel erblicken ließ, wurde durch diese Löcher mit einem großen Besen hinabgekehrt in den unten durchziehenden Fluß, der es schleunig weit wegführte“ (05.GHA 4.07.242), alles erscheint unbegrenzt, da die Grenzen nicht bewacht und kontrolliert werden – wer erinnert sich nicht gerne der „Deregulierung“ neuester Zeit?
„‚Nun möcht' ich wohl wissen,’ sagte Heinrich vor sich hin, während er aufmerksam Alles auf's Genaueste betrachtete, ‚was dies für eine muntere und lustige Sache hier ist!’
Das Pferd erwiederte auf der Stelle: ‚Dies nennt man die Identität der Nation!’
‚Himmel!’ rief sein Reiter, ‚Du bist ein sehr gelehrtes Pferd! Der Hafer muß Dich wirklich stechen! Wo hast Du diese gelehrte Anschauung erworben?’
‚Erinnere Dich,’ sagte der Goldfuchs, ‚auf wem Du reitest! Bin ich nicht aus Gold entstanden? Gold aber ist Reichthum und Reichthum ist Einsicht.’
Bei diesen Worten merkte Heinrich plötzlich, daß sein Mantelsack statt mit Wäsche jetzt gänzlich mit jenen goldenen Münzen angefüllt und ausgerundet war, welche er mit den alten Kleidern in das Wasser geworfen hatte. Ohne zu grübeln, woher sie so unvermuthet wieder kämen, fühlte er sich höchst zufrieden in ihrem Besitze, und obschon er dem weisen Gaule nicht mit gutem Gewissen Recht geben konnte, daß Reichthum Einsicht sei, so war er doch schon insoweit von seiner Behauptung angesteckt und fand sich doch plötzlich so leidlich einsichtsvoll, daß er wenigstens nichts erwiederte und gemüthlich weiter ritt auf der schönen Brücke.
‚Nun sage mir, Du weiser Salomo!’ begann er nach einer Weile wieder, ‚heißt eigentlich die Brücke oder die Leute so darauf sind: die Identität? oder welches von beiden nennst Du so?’
‚Beide zusammen sind die Identität!’ sagte das Pferd.
‚Der Nation?’ fragte Heinrich.
‚Der Nation, zum Teufel noch einmal, versteht sich!’ sprach der Goldfuchs.
‚Gut! aber welches ist denn die Nation, die Brücke oder die Leute, so darüber rennen?’ sagte Heinrich.
‚Ei seit wann,’ rief das Pferd, ‚ist denn eine Brücke eine Nation? Nur Leute können eine Nation sein, folglich sind diese Leute hier die Nation!’
‚So! und doch sagtest Du soeben, die Nation und die Brücke zusammen machten eine Identität aus!’ – erwiederte Heinrich. ‚Das sagt' ich auch und bleibe dabei!’ versetzte das Pferd. ‚Nun, also?’ fuhr Heinrich fort.
‚Wisse,’ antwortete der Gaul bedächtig, indem er sich auf allen Vieren ausspreizte und tiefsinnig in den Boden hineinsah, ‚wisse, wer diese heiklige Frage zu beantworten, den Widerspruch zu lösen versteht, ohne den scheinbaren Gegensatz aufzuheben, der ist ein Meister hier zu Lande und arbeitet an der Identität selber mit. Wenn ich die richtige Antwort, die mir wohl so im Maule herumläuft, rund und nett zu formuliren verstände, so wäre ich nicht ein Pferd, sondern längst hier an die Wand gemalt. Uebrigens erinnere Dich, daß ich nur ein von Dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine subjective Ausgeburt und Grübelei Deines eigenen Gehirnes ist, die Du Aberwitziger mit über den Rhein gebracht hast. Mithin magst Du fernere Fragen Dir nur selbst beantworten aus der allerersten Hand!’
‚Ha! Du widerspenstige Bestie!’ schrie Heinrich in anthropologischem Zorne und spornte das Pferd heftig, ‚um so mehr, undankbarer Klepper, bist Du mir zu Red' und Antwort verpflichtet, da ich Dich aus meinem so sauer ergänzten Blute erzeugen und diesen Traum lang speisen und unterhalten muß!’
‚Hat auch was Rechtes auf sich!’ erwiederte das Pferd ganz gelassen. ‚Dieses ganze Gespräch, überhaupt unsere ganze werthe Bekanntschaft ist das Werk und die Dauer von kaum zwei Secunden und kostet doch wohl kaum einen Hauch von Deinem geehrten Körperlichen.’
‚Wie, zwei Secunden?’ rief Heinrich und hielt das schöne Goldthier an, ‚ist es nicht wenigstens eine Stunde, daß wir auf dieser endlosen Brücke reiten und uns umsehen in dem Getümmel?’
‚Gerade eine Secunde ist's,’ sagte der Gaul, ‚daß ein berittener Nachtwächter um die Straßenecke bog, und ein einziger Hufschlag hat in Dir meine Erscheinung erneuert, welche überhaupt veranlaßt wurde, als vor einer halben Stunde derselbe Nachtwächter des entgegengesetzten Weges kam. Auch ist dieses Minimum von Zeit ein und dasselbe Minimum von Raum, kurz die identische Kleinigkeit Deines in das Kopfkissen gedrückten Schädels, in welchem sich eine so weite Gegend und tausend belebte und verschiedene Dinge gleichzeitig ausbreiten und zwar Alles auf Rechnung des einen Hufschlages, welcher nichts desto minder nur als ein gemeiner Hammerschlag zu betrachten ist, der nur dazu dient, den Kasten Deines eigenen Wesens aufzuthun, worin Alles schon hübsch zusammengepäschelt liegt, was –’
‚Um's Himmelswillen!’ rief Heinrich, ‚vergeude nicht länger die kostbare Dauer des Hufschlages mit Deinen Auseinandersetzungen, sonst ist der nur allzukurze Augenblick vorbei, ehe ich über diese schöne Brücke im Reinen bin!’
‚Eilt gar nicht! Alles, was wir für jetzo zu erleben und zu erfahren haben, geht vollkommen in das Maß des wackeren Pferdetrittes hinein, und wenn der sehr richtig denkende Psalmist den Herrn seinen Gott anschrie: Tausend Jahre sind vor Dir wie ein Augenblick! so ist diese gut begründete Hypothese von hinten gelesen eine und dieselbe Wahrheit: Ein Augenblick ist wie tausend Jahre! Wir könnten noch tausendmal mehr sehen und hören während dieses Hufschlages, wenn wir nur das Zeug dazu in uns hätten, lieber Mann! Doch alles Pressiren oder Zögern hilft da nichts, Alles hat seine bequemliche Erfüllung und wir können uns ganz gemächlich Zeit lassen mit unserem Traum, er ist was er ist und dauert einen Schlag und nicht mehr noch minder!’ sagte das Pferd.
‚Gut, so beantworte mir ohne Anstand noch diese Frage!’ erwiederte Heinrich, ‚ich muß mir aber die Frage erst noch ein wenig zurechtlegen und deutlich abfassen; denn ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll. Bereite Dich indessen, da wir, wie Du sagst, ausreichende Traumeszeit haben, recht gründlich auf die Beantwortung vor!’
‚Wie kann ich mich zur Antwort vorbereiten, eh' ich nur die Frage kenne?’ sagte das Pferd verwundert.
‚Was?’ rief Heinrich erbost, ‚das weißt Du nicht? Deinen guten Willen und Dein bischen Ehrlichkeit sollst Du zusammennehmen und den Vorsatz fassen, ohne alle Heuchelei und Ausschmückung zu antworten, und selbst wenn Du gar nichts zu antworten weißt, so sollst Du dies mit gutem ehrlichen Willen bekennen, und dies wird alsdann die gesundeste Antwort sein. Kurz, Du sollst, während Du philosophirst, wirklich ein Philosoph sein und nicht etwa ein Buchbinder oder ein Kattundrucker!’
‚Es ist doch wunderbar mit den Menschen!’ bemerkte der Goldfuchs melancholisch. ‚Bist denn Du etwa jetzt ein Philosoph, während Du Dir erst ein Pferd träumst, um Dir von demselben Fragen beantworten zu lassen, welche Du Dir einfacher und unmittelbar aus Dir selbst beantworten kannst? Muß denn Dein träumender Verstand wirklich erst ein Pferd formen, es auf vier Beinen dahinstellen und sich rittlings daraufsetzen, um aus dem Munde dieses Geschöpfes das Orakel zu vernehmen?’
Heinrich lächelte vergnügt und selbstzufrieden wie Einer, der es wohl weiß, daß er sich selbst einen Spaß vormacht, und versetzte: ‚Antworte! Ich sehe hier eine Brücke; dieselbe ist aber vollkommen gebaut und eingerichtet wie ein Palast oder großer Tempel, so daß es in dieser Hinsicht wieder mehr als eine Brücke zu sein scheint, während eine solche vielmehr nur der Weg etwa zu einem guten Tempel oder derartigen Bauwerke zu sein pflegt. Auch beginnt am Ausgange dieser herrlichen Palastbrücke oder dieses Brückenpalastes eine herrliche alte Stadt, deren himmelhohe Lindenwipfel und goldene Thurmknöpfe wir wohl unter diese Bogenwölbungen können einherfunkeln sehen, wenn wir uns bücken, so wie wir ja auch aus der schönsten Landschaft herkommen und soeben über die treffliche ideenhaltige Krystalltreppe heruntergestolpert sind. Trotzdem scheint Alles auf dieser Brücke so zu leben und zu weben, als ob Nichts als diese Brücke da wäre, und ich bin nun begierig, zu hören, ob dies stattliche Brückenleben eigentlich ein Uebergang, wie es einer Brücke geziemt, oder ein Ziel, wie es ihr auch wieder geziemen könnte, da sie so hübsch ist, ein Zweck oder ein Mittel sei? Ein bloßes Bindemittel oder eine in sich ruhende Vereinigung? Ein Ausgang oder ein Eingang, ein Anfang oder ein Ende? ein A oder ein O? Dies nimmt mich Wunder!’
Das weise Pferd erwiederte: ‚Alles dies ist zumal der Fall und das ist eben das Herrliche und Bedeutungsvolle an der Sache! Ohne die schönen Ufer wäre die Brücke nichts und ohne die Brücke wären die Ufer nichts. Alles, was auf der Brücke geht, ist und bedeutet nur etwas, insofern es aus dem Gelände hüben und drüben kommt und wieder dahin geht und dort etwas Rechtes ist, und dort kann man es wiederum nur sein, wenn man als etwas Rechtes über die Brücke gegangen ist. Wenn man auf der Brücke ist, so denkt man an nichts Anderes und stürzt sich in den Verkehr, indessen man doch unversehens hinüber gelangt und wieder in seiner besonderen Behausung ist. Dort duselt und hantirt man in Küche und Keller, auf dem Estrich und in der Stube herum, als ob man nie auf der Brücke gewesen wäre, bis man plötzlich einmal den Kopf aus dem Fenster steckt und sieht, ob sie noch stehe; denn von allen Punkten aus kann man sie ragen und sich erstrecken sehen. So ist sie ein prächtiges Monument und doch nur eine Brücke, nicht mehr als der geringste Brettersteg; eine bloße Geh- und Fahrbrücke und doch wieder eine statiöse Volkshalle.’
Plötzlich bemerkte Heinrich, daß er von allen Seiten mit biederer Achtung begrüßt wurde, welche sich besonders dadurch kund gab, daß Manche mit einem vertraulichen Griffe und wichtiger Miene seinen strotzenden Mantelsack betasteten, wie etwa die Bauern auf den Viehmärkten die Weichen einer Kuh betasten und kneifen und dann wieder weiter gehen.
‚Der Tausend,’ sagte Heinrich, ‚das sind ja absonderliche Manieren! ich glaubte, es kenne mich hier kein Mensch.’
‚Es gilt auch,’ sagte das Pferd, ‚nicht sowohl Dir, als Deinem schweren Quersack, Deiner dicken Goldwurst, die auf meinem Kreuz liegt.’
‚So?’ sagte Heinrich, ‚also ist das Geheimniß und die Lösung dieser ganzen Identitätsherrlichkeit doch nur das Gold, und zwar das gemünzte? Denn sonst würden sie Dich ja auch betasten, da Du aus dem nämlichen Stoffe bist!’
‚Hm,’ sagte das Pferd, ‚das kann man eigentlich nicht behaupten! Die Leute auf dieser Brücke haben vorerst ihr Augenmerk darauf gerichtet, ihre Identität allerdings zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu vertheidigen. Nun wissen sie aber sehr wohl, daß ein kampffähiger guter Soldat wohlgenährt sein muß und ein gutes Frühstück im Magen haben muß, wenn er sich schlagen soll. Da dies aber am bequemsten durch allerlei Gemünztes zu erreichen und zu sichern ist, so betrachten sie Jeden, der mit dergleichen wohl versehen, als einen gerüsteten Vertheidiger und Unterstützer der Identität und sehen ihn drum an. Sei dem wie ihm wolle, ich rathe Dir, Dein Capital hier noch ein wenig in Umlauf zu setzen und zu vermehren. Wenn die Meinung der Leute im Allgemeinen auch eine irrige ist, so steht es doch Jedem frei, sie für sich zu einer Wahrheit und so seine öffentliche Stellung angenehm zu machen.’
Heinrich griff in seinen Sack und warf einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe, welche sogleich von hundert in die Luft greifenden Händen aufgefangen und weiter geworfen wurden. Heinrich warf immer mehr Gold aus, und dasselbe wanderte von Hand zu Hand über die ganze Brücke und über dieselbe hinaus über das Land; Jeder gab es emsig weiter, nachdem er es besehen und ein bischen an seinem eigenen Golde gerieben hatte, wodurch sich dieses verdoppelte, und bald kehrten alle Goldstücke Heinrich's in Gesellschaft von drei bis vier anderen wieder zurück, und zwar so, daß die ursprüngliche Münze, auf welcher der alte Schweizer geprägt war, die übrigen anführte mit einem Gepräge aus aller Herren Länder. Er wies ihnen mit seinem Schwerte, welches jetzt ein Mercuriusstab war, den Platz an und es regnete von allen Seiten auf Heinrich ein. Das Gold setzte sich klumpenweise an alle vier Beine des Pferdes, wie der Blumenstaub, welcher die Höschen der Bienen bildet, so daß es bald nicht mehr gehen konnte. Da es aber immer mehr Gold regnete, so bildete dieses noch zwei große Flügel an dem Thiere und dieses glich nun wirklich mehr einer ungeheuren beladenen Biene als einem Pferde, und flog mit Heinrich lustig von der Brücke auf, welche jetzt endlich zu Ende war.“ (05.GHA 4.07.243 ff.)
Nach einer kleinen Ewigkeit gelangen Ross und Reiter in die Stadt. Aber alles ist anders als der Reiter es zu kennen glaubte - auch das Haus der Mutter, vor dem das Pferd sich zum Teil in das verwandelt, was es ursprünglich gewesen: Gold! Und „zum [andern] Theil in die schönsten und reichsten Effecten“ (05.GHA 4.07.257), aber auch kistenweise Spezereien und Gewürze. Schließlich in einem „herrlichen Garten …, der im Sonnenlichte lag, … glaubte er zu sehen, wie seine Mutter im Glanze der Jugend und Schönheit, angethan mit seidenen Gewändern, durch die Blumenbeete wandelte. Er wollte ihr eben sehnlich zurufen, als“ (05.GHA 4.07.260) der schöne Traum durch eine Rauferei mit einem auferstandenen Jugendfeind zerplatzt („Im Traum sah ich den schlimmen Jugendfeind, …“ (05.GHA 4.07.266) Das feine Hemd ist zerrissen, so steht er barfüßig vorm wirklichen Haus der Mutter, „verfallen, mit zerbröckelndem Mauerwerk, erblindeten Fenstern, in denen leere oder verdorrte Blumenscherben standen, und mit Fensterläden, die im Winde klapperten und nur noch an einer Angel hingen.“ (05.GHA 4.07.261) Verflogen der Reichtum, die Mutter alt und grau schaut sinnend durchs trübe Fenster, die Welt der Kindheit verfallen. Wieder meldet sich das schlechte Gewissen und erstmals Scham: „Heinrich streckte die Arme nach dem Fenster empor; als sich die Mutter aber leise rührte, verbarg er sich hinter einem Mauervorsprung und suchte angstvoll aus der stillen dunklen Stadt zu entkommen, ohne gesehen zu werden. Er drückte sich längs den Häusern hin und wanderte auch alsbald an seinem schlechten Stecken auf einer unabsehbaren Landstraße dahin zurück, wo er hergekommen war. Er wanderte und wanderte rastlos und mühselig, ohne sich umzusehen, und als er in sein wirkliches Elend aufwachte, fiel ihm ein Stein vom Herzen und er war so froh, als ob der glücklichste Tag ihn begrüßte.“ (05.GHA 4.07.262) Keller wundert sich über die Gier, die ihn überkommen, dass er in einem der folgenden Träume Abbitte leistet:
„ Klagt mich nicht an, daß ich vor Leid
Mein eigen Bild nur könne sehen!
Ich seh' durch meinen grauen Flor
Wohl euere Gestalten gehen.

Und durch den starken Wellenschlag
Der See, die gegen mich verschworen,
Geht mir von euerem Gesang,
Wenn auch gedämpft, kein Ton verloren!

Und wie die Danaide wohl
Einmal neugierig um sich blicket,
So schau' ich euch verwundert nach,
Besorgt, wie ihr euch fügt und schicket.“ (05.GHA 4.265, aber auch 03.673)
Im realen Leben wird dem Heinrich Lee die Wohnung gekündigt, dass er sich nun endlich auf den Heimweg mache … um Dortchen Schönfund zu finden.

Was als durchaus pikaresker Bildungs- und Künstlerroman daherkommt, versammelt zugleich Brief, Anekdote, Novelle und Essay, Prosa und Lyrik, Alltägliches mischt sich unters Außergewöhnliche. Die Sprache ist präzise und zugleich poetisch. Was scheinbar noch in der Romantik befangen wirkt, steht schon mitten in einer sich umwälzenden Welt. Mögen Glocken läuten, Grillen zirpen, die Sonne lachen, aus der Ferne dröhnt und droht der Fortschritt mit Stadt und Industrie. Was andere zum Ende ihres Lebens hin verfassen, steht hier zu Beginn! Denn diese Dichtung ist Kellers Art von Autobiografie. Er selbst verbirgt sich hinter dem Protagonisten Heinrich Lee, dem Grünen Heinrich, den man so nennt wegen seines grünen Wams’ – das von der Mutter aus der Jagdkleidung des Vaters geschneidert wird (03.74). Tatsächlich bleibt Heinrich Lee immer ein grüner Junge. Darum ist dieser alle Grenzen sprengende kleine Roman - das erste Manuskript umfasst nahezu 1.200 Seiten - auch gar nicht so recht ein Bildungsroman, als vielmehr Roman eines scheiternden Künstlerlebens, was für das Leben seines Autors nach bürgerlicher Auffassung bis zum 42., nach der Auffassung des Künstlers aber bis zu seinem 53. Lebensjahr gelten wird.

Verschwiegen werden in der romanhaften Autobiografie die gescheiterte Ehe der Mutter und Regula, Gottfrieds jüngere Schwester, die gleichwohl in den Leuten von Seldwyla - wie erst recht die Mutter - porträtiert wird (Pankraz, der Schmoller und Frau Regel Amrain …). Die Alimentierung stellt er dar als Diebstahl des Sohnes an der Mutter oder mit andern Worten: „Sie wird als ... lebende Sparbüchse behandelt und geleert …“ (16.104) Sein schlechtes Gewissen steigert er dadurch, dass der Protagonist bei der Heimkehr zu spät kommt, die Mutter tot (wie schon in ersten Konzepten angedacht) oder sterbend vorfindet (zwote Fassung).
Trotz literarischer Überhöhung wird ein authentisches Bild von Kindheit und Jugend Kellers geliefert, selbst Anekdotisches ist so gut wie wahr. „Dagegen ist die reifere Jugend des ‚grünen Heinrich’ zum größten Theile ein Spiel der ergänzenden Phantasie und sind namentlich die beiden Frauengestalten gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten“, (06.21) ein Geständnis, das ihm heutzutage kritische Blicke eintrüge, denn James Frey, dessen Roman A Million Little Pieces eine kleine Ewigkeit sich auf der Bestsellerliste der New York Times sonnen konnte, gilt inzwischen als geächtet, hätt’ er doch seine Leser absichtlich belogen, da nicht alles in dem Buche autobiografisch sei. So habe er zwar brillant über einen Gefängnisaufenthalt geschrieben, niemals aber – welch eine Schande! - persönlich gesessen, denn die Schickeria nimmt krumm. Frey haftet der Makel an, Fakten und Fiktion zu vermischen. Was Keller bestimmt gefiele: Hells Angels hätten Frey aufgenommen und mit einem Willkommen auf der dunklen Seite - der ehrlichen Seite - des Lebens begrüßt. (vgl. 09.24)

Oktober 1855 ist der erste Band der Leute von Seldwyla niedergeschrieben, der im Folgejahr erscheint. Roman und Novellensammlung sind Ausdruck der permanenten Lebenskrise – und Keller weiß es: Schon im September 1851 hat er an Wilhelm Baumgartner geschrieben: „… bin ich einmal aus dem Dreck heraus, so werde ich mich freuen, eine gute Zeit an Wind und Wetter gestanden zu haben. Denn meine Maxime ist geworden: Wer keine bitteren Erfahrungen und kein Leid kennt, der hat keine Malice, und wer keine Malice hat, bekommt nicht den Teufel in den Leib, und wer diesen nicht hat, der kann nichts Kernhaftes arbeiten.“
Neben Goethes Wilhelm Meister und Stifters Nachsommer ist Der grüne Heinrich schon in der Fassung des jungen Wilden einer der bedeutendsten Bildungsromane in deutscher Sprache, der vor allem stilistisch durch die Bearbeitung ein halbes und gereiftes Leben später noch gewinnen wird. Vor allem aber ist es der Bildungsroman in einer bürgerlichen Welt, in welcher der Adel nurmehr eine Nebenrolle spielt. Schon die erste Fassung ist Synthese aus Goethe und Jean Paul. Für den Feinschmecker wird Goethe kräftig mit Jean Paul gewürzt. Das wird vielen der heutigen Leser nicht gefallen, fehlen doch oft genug action und Spannungsbogen, werden durch philosophische und ästhetische Einschübe scheinbar langatmig und damit langweilig. Auch diesen eher schlichteren Menschen hat er ein Denkmal gesetzt: In seiner ersten Novelle überhaupt, dem Pankraz … Als der dreißig Jahre verschollene Sohn endlich heimkehrt und Mutter und Schwester seine fantastische Lebensgeschichte erzählt, schläft die Schwester ein. Muss sich darin nicht der gelangweilte, weil Hysterie, Horror und Hektik enthobene Leser wiederfinden? Dabei ist dies das früheste Bildnis der Schwester, die ihn auch bis zu ihrem Tode alimentiert, nach dem Tod der Mutter gar bemuttert. Gleichwohl: der geneigte Leser ahnt schon hier, dass die Liebe zu Mutter und die Achtung der Schwester größer ist, als der Grüne Heinrich zugibt.
Wie der Pankraz setzt auch Frau Regel Amrain und ihr Jüngster die Jugendgeschichte des Heinrich Lee fort, ist doch der Vorname der verwitweten Frau Amrain identisch mit dem der Schwester: Regula. In der Witwe Amrain verschmelzen Mutter und Schwester zu einer Person, die ihren Jüngsten bemuttert. Beide Novellen geben, neben dem Grünen Heinrich (siehe konkret die vorgenannte Episode mit den Silberfasanen) auch ein idealisiertes Bild der mütterlichen Erziehung, die keinem weiteren erzieherischen Konzepte folgt als dem Vorbild der Mutterfigur und konsequentem Handeln, denn bei Frau Amrain regiert eben nicht das einmal so und dann wieder anders, Heinrich und Pankraz, Fritz und Gottfried werden zu innengeleiteten Menschen erzogen in einer Welt, in der bald der außengeleitete Mensch i. S. eines David Riesman in der einsamen Masse untergeht. Nicht nur in den drei gerechten Kammmachern erweisen sich die Frauenzimmer als emanzipiert und klüger als die naiven Kerle. Zugleich erfährt der Leser, wie die Witwe Keller durch Vermietung des Hauses zwar bescheidne, aber sichere Einkünfte erzielt.
Die Leute von Seldwyla setzt fort und ergänzt den Grünen Heinrich mit andern Mitteln und ist für sich allein genommen Ansammlung seltsamer Geschichten und Lebensbilder im kleinstädtischen Milieu. Die Geschichten lassen sich lesen wie der Roman einer Kleinstadt, der zwanzig Jahre später mit dem zwoten Band unter gewaltig sich ändernden sozialen und ökonomischen Bedingungen fortgesetzt wird.

Bliebe noch zu nennen das den Novellenzyklus abschließende satirische Märchen Spiegel, das Kätzchen, in dem sich der Einfluss E. T. A. Hoffmanns ohne dessen Schauerromantik zeigt. Auch hier geht es in der Hauptsache um Emanzipation: Medium der Märchennovelle ist ein Kater namens Spiegel. In äußerster Not verkauft der sich für ein befristetes, sorgenfreies Leben an den städtischen Hexenverfolger und -meister Pineiß. Der Kater liebt die Liebe, schämt sich dessen nicht, dass er unter Katzen als ein rechter Don Juan gilt. Kurz vor Ablauf der Frist fällt dem Kater eine List ein: seine verstorbene Herrin hätt’ einen Schatz versenkt, der nur durch aufrichtige Liebe zu einer schönen, aber unbemittelten Frau gehoben werden könnte. Die hat der Kater auch schon in der Nachbarin entdeckt. Tatsächlich weiß der Kater durch seine nächtliche Züge, dass die verführerische, saubre, aber bescheidene Fassade täuscht, denn die Frau fährt in aller Regel zur mitternächtlichen Stunde hinauf durch den Schornstein. Der pervertierende Höhepunkt erfolgt, wenn der geldgierige Zauberer in die Fänge der machtgeilen Hexe gerät. Die Ehe ist die Hölle (wie alle Geschichten über Seldwyla letztlich die Sphinx in der Frau zeigen). Es ist ein Spie(ge)l des Hässlichen, handelt vom Hass. Glück verkehrt sich in Maskeraden einer korrumpierten Welt, in der Betrüger – hoffen wir’s -am End’ Betrogene sind.
Von der Satire fühlen sich Leute ertappt, denn es wird selbst von der Kanzel dagegen gepredigt (berichtet Keller am 31. 1./29. 6.1875 Vischer).

Merkwürdig nimmt sich allerdings in diesem Reigen ironisch gebrochener Ereignisse die tragische Geschichte von Vrenchen und Sali aus! Prägnanter und sparsamer kann der Stoff einer ausweglosen und darum todbringenden Liebe nicht dargestellt werden als es in Romeo und Julia auf dem Dorfe geschieht, was nur gelingen kann, wenn einer weiß, wovon er schreibt. „Die Zeit geht nicht, sie stehet still“,
wie es nur die Ewigkeit sein kann, die nicht nur Goethes Faust im glücklichen Augenblick festhalten will,
„Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin. …

Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.

Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.
… ,
Auch ich schreib meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.
…“ (Die Zeit geht nicht), hier wird die Zeitauffassung des Goldfuchses lyrisch umgesetzt.

Die wechselseitige widerrechtliche Aneignung eines brachliegenden Ackers eines Dritten durch zwo Bauern – eine erste Notiz findet sich im Traumbuch vom 20. September 1847 (3w.gutenberg.spiegel.de) - führt zu einem zermürbenden Rechtsstreit, der nicht nur freundschaftliche Beziehungen der Familien zueinander und das Leben der Vätergeneration zerstört, sondern vor allem die Zukunft und das Glück der Kinder. Jede Gesellschaft, welche ihren Jungen die Zukunft verbaut, richtet letztlich sich selbst.

V Bürgerliches Glück & persönliches Leid

Im November 1855 ist er wieder im Haus der Mutter, um eine ordentliche und geregelte Industrie zu betreiben. Rohstoff hat sich ja genug angesammelt während der sieben Jahre in der Wüste Berlin.
Zürich erlebt in dieser Zeit einen kulturellen, vor allem aber wirtschaftlichen Aufschwung unter den Liberalen. Aber das „System Escher“ des Bankiers und Eisenbahnbarons Alfred Escher ist alles andere als demokratisch. Seit der Verfassung von 1848 kann der Kapitalismus sich ungehemmt entfalten und Keller erkennt die Gefahren. Darüber wird Keller trotz zahlreicher Kontakte – wie zu Richard Wagner, Vischer und Semper – schwermütiger denn je, dass ihn eine Schaffenskrise überfällt. Alt fühlt er sich und fürchtet, sein Leben schon hinter sich zu haben, „Ich habe wochenlang nicht nur kein Wort geschrieben, sondern auch keines gesprochen, denn der Mensch denkt und Gott lenkt, und man kann sein inneres Geschick oder Ungeschick nicht zum voraus bestimmen wie einen Fakturzettel“, sagt er lapidar. Sechs Jahre soll diese wenig befriedigende Phase dauern, in der Keller allein Die missbrauchten Liebesbriefe und Das Fähnlein der sieben Aufrechten fertig stellt, bis er am 14. September 1861 überraschend zum Ersten Staatsschreiber gewählt wird - das am besten besoldete Amt, das der Kanton zu vergeben hat. „Indem ich während jener Zeit die Stelle des Staatsschreibers des Kantons Zürich versah, befolgte ich den bekannten Rath, dem poetischen Dasein eine sogenannte bürgerlichsolide Beschäftigung unterzubreiten. Glücklicher Weise war es aber weder eine ganze noch eine halbe Sinekure, so daß keine von beiden Thätigkeiten nebensächlich betrieben werden konnte, und das Experiment in Gestalt einer langen Pause vor sich gehen mußte, während welcher die eine Richtung“, eben die poetische, „fast ganz eingestellt wurde. Gewiß sind viele vortreffliche Einzelsachen und wirkliche Meisterwerke in den Mußestunden neben lebenslanger anderweitiger Berufserfüllung entstanden; es wird aber immer der Umfang oder die Natur solcher Werke die Mutterschaft bloßer Mußestunden von selbst darthun, und wer Volles und Schweres in der Vielzahl mußestündlich glaubt vollbringen zu können, wird, wenn er lange lebt und weise ist, seine Illusion selber noch zerrinnen sehen“, vermerkt er in seinen autobiografischen Notizen und selbst in den Grünen Heinrich wird mit der zwoten Fassung und deren positiven Abschluss das Amt – nun aber hypothetisch vor der Zeit – aufgeführt, wobei er eher tiefstapelt als aufschneidet. Denn ein Jahr nach der Heimkehr „besorgte ich die Kanzlei eines kleinen Oberamtes, ... Hier konnte ich bei bescheidener und doch mannigfacher Wirksamkeit in der Stille leben und befand mich in einer Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung, so daß ich den Einblick nach unten und oben gewann und lernte, wohin die Dinge gingen und woher sie kamen. Allein sie vermochten die Schatten nicht aufzuhellen, die meine ausgeplünderte Seele erfüllten, und weil alles, was ich wahrnahm, durch die Düsternis gefärbt wurde, so erschienen mir auch die Menschlichkeiten, denen ich auf dem neuen Gebiete begegnete, dunkler, als sie an sich waren. Wenn ich sah, daß auch hier die Neigung zum Nachlassen und zur Pflichtvergessenheit zum Vorschein kam, oder jeder die Wässerlein auf seine Mühle zu leiten suchte; daß Neid und Eifersucht auch in den kleinsten Amtsverhältnissen störend sich einnisteten, so war ich geneigt, das Übel dem Charakter des ganzen Volkes und Gemeinwesens zuzuschreiben, das in der Erinnerung und aus der Entfernung mich so täuschend angelockt habe. Wenn ich aber meines belasteten Bewußtseins gedachte, so schwieg ich, anstatt bei guter Gelegenheit meine Meinung offen herauszusagen. Ich begnügte mich, meine Obliegenheiten so regelmäßig und geräuschlos als möglich zu erfüllen, um die Zeit zu verbringen, ohne Unruhe, aber auch ohne Hoffnung eines frischeren Lebens. Das hielten nun die Leute für das Muster einer ordentlichen Amtsführung, und da sie besser und wohlwollender waren, als ich dachte, so machten sie mich nach ein paar weiteren Jahren, ohne mein Zutun und gegen meinen Wunsch, zum Vorsteher des Amtskreises. In dieser Stellung konnte ich nicht umhin, mehr unter die Leute zu gehen und an Zusammenkünften verschiedener Art teilzunehmen, immer als der ziemlich melancholische und einsilbige Amtsmann, der ich war. Jetzt lernte ich, da ich die politische Bewegung im großen und mehr in der Nähe sah, ein Übel kennen, das mir wirklich neu, obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war. Ich sah, wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab, die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen, wie die Dirnen, die zum Jahrmarkt gehen, etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen. Andere betrachteten die Begriffe Republik, Freiheit und Vaterland als drei Ziegen, die sie unablässig melkten, um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen, während sie scheinheilig die Worte gebrauchten, genau wie die Pharisäer und Tartüffe. Andere wiederum, als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften, witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat, gleich einem armen Hunde, dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält. Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert, doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher. Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel, der ein Gemeinwesen zerstören kann, wenn er zu dicht wuchert; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande, und sobald sie sich ernstlich rührte, stäubte der Schimmel von selbst hinweg. Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer, als er war, und schwieg dennoch, anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten; damit verschwieg ich auch manches, was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können.“ (03.794 f.)
Keller nimmt die Pflichten des Amtes tatsächlich sehr ernst und geht darin auf. Das Leben scheint nun geregelt zu sein, die alles beherrschende Furcht seit dem Schulverweis vor über 34 Jahren, ein gemeines, untätiges und verdorbenes Subjekt zu werden wird ihm endlich genommen, wenn er auch später diese Situation skeptischer sieht (am 26. 3.1879 an Theodor Storm: Zehn Jahre zuvor „gerade als ich in mein Amt so voll eingeschossen war, daß ich Aussicht hatte, etwas Muße zu gewinnen, gabs eine trockene | aber radicale Staatsumwälzung, eine neue Verfassung wurde gemacht, in Folge dessen eine Reihe neuer Gesetze, so daß ich neben den laufenden Geschäften zwei Jahre lang fast Tag u Nacht Schwatzprotokolle zu schreiben hatte, die nachher zur Interpretation dienen sollen, wenn die Esel nicht mehr wissen, was sie gewollt haben. Da war es denn mit der Dichterei wieder fertig, besonders da die zweite Staatsschreiberstelle auch abgeschafft wurde und ich als einziger u untheilbarer Scribax dastand, ...“), denn wider Erwarten wird Keller auch Regierungswechsel überstehen.

Am 5. Februar 1864 stirbt die Mutter. Von nun an führt die Schwester den Haushalt, sparsamer und strenger als die Mutter, obwohl der Herr Staatsschreiber sich einiges leisten könnte. Im Grünen Heinrich ist die Mutter in Sorge um ihren Sohn und mit Schuldgefühlen verstorben, findet Heinrich doch ein Fragment von ihrer Hand: „ ‚Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner :Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sicheren Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind. Wenn ich
sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen- Stand erhoben, und indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird. Wo soll ich nun die Hilfe suchen?’“ (03.789) Mit der zweiten Fassung des Romanes übernimmt der nun selbstbewusstere Keller – neben allen Verbesserungen – die Rolle der Zensur: Die Mutter fühlt sich schuldig am Scheitern des Sohnes, die Schuldfrage wird nun auf zwei Schultern verteilt. - Verstößt Keller da nicht gegen seine eigenen Prinzipien, die er weiland im Gedicht Erkenntnis ausformuliert hatte? Ihm sei „das Verschwinden der ersten Ausgabe eine wahre Herzensangelegenheit“, wie Baechtold berichten wird (03.811), „er wünschte, daß die Hand verdorrte, welche je die alte Fassung wieder zum Abdruck bringe. So sprach die Erinnerung an erlittene übel und das Mißtrauen gegen die damals ihres Anspruchs sichere Philologie“, die für den „Ur-Heinrich“ eingetreten ist. Der Streit um die Neubearbeitung ist so alt wie die Neufassung selbst. „‚Den alten Grünen Heinrich kaufte man nicht’, spottete Gottfried Keller; ‚jetzt, da es den neuen Grünen gibt, will man den alten haben. Die tolle Welt!’" (ebd.)

Am 13. Juli 1866 begeht Kellers Verlobte, eine Pianistin, Selbstmord. –
Da hatten sich zwo Schwermütige gefunden, um sich gleich wieder zu verlieren. Keller sieht das Problem mit den Augen seiner ersten Liebschaften, der bildenden und der darstellenden Kunst:
„Sei mir gegrüßt, Melancholie,
Die mit dem leisen Feenschritt
Im Garten meiner Phantasie
Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt!
Die mir den Mut, wie eine junge Weide,
Tief an den Rand des Lebens biegt,
Doch dann in meinem bittern Leide
Voll Treue mir zur Seite liegt!

Die mir der Wahrheit Spiegelschild,
Den unbezwungnen, hält empor,
Daß der Erkenntnis Träne schwillt
Und bricht aus dunklem Aug hervor;
Wie hebst das Haupt du streng und strenger immer
Wenn ich dich mehr und mehr vergaß
Ob lärmendem Geräusch und Flimmer,
Die doch an meiner Wiege saß!

Wie hängt mein Herz an eitler Lust
Und an der Torheit dieser Welt!
Oft mehr als eines Weibes Brust
Ist es von Außenwerk umstellt,
Und selbst den Trost, daß ich aus eignem Streben
Was leer und nichtig ist, erkannt,
Nimmst du und hast mein stolz Erheben
Zu Boden alsobald gewandt,

Wenn du mir lächelnd zeigst das Buch
Des Königs, den ich oft verhöhnt,
Aus dem es, wie von Erz ein Fluch,
Daß alles eitel sei! ertönt.
Und nah und ferne hör ich dann erklingen
Gleich Narrenschellen ein Getön –
O Göttin, laß mich dich umschlingen,
Nur du, nur du bist wahr und schön! –

Noch fühl ich dich so edel nicht,
Wie Albrecht Dürer dich geschaut:
Ein sinnend Weib, von innerm Licht
Erhellt, des Fleißes schönste Braut,
Umgeben reich von aller Werke Zeichen,
Mit milder Trauer angetan;
Sie sinnt - der Dämon muß entweichen
Vor des Vollbringens reifem Plan.“ Melancholie ist durch Dürers Kupferstich von 1515 angeregt. Gleichwohl trifft es ihn: Keller selbst ist manisch-depressiv. –
In einem anderen Gedicht, das sich auf die eigene Schwermut bezieht, entlaubt sich der Baum stellvertretend für den Menschen, der sich entleibt. („Im Herbst, wenn sich der Baum entlaubt, / …“, Feldbeichte) Zu dieser Zeile gibt es eine Fassung (z. B. im Internet), darinnen sich „der Wald entlaubt“, was natürlich insoweit stimmt, als heutigentags hierzulande auf 100.000 Bürger ca. 20 Selbstmorde kommen, wahrlich ein statistischer Hain, um dessen Entlaubung man sich Gedanken machen muss.
Breitenbruch glaubt ein Porträt der Verlobten in der Regine aus dem Sinngedicht und „ein spätes Schuldbekenntnis“ zu erkennen (08.110). Sicher ist, dass Keller sich nicht äußern wird und sich einstweilen im Suff betäubt, belegt am 29. Oktober 1866 durch die „Polizei-Verfügung No. 2046

Herr Keller, Staatsschreiber, an der Kirchgasse No. 33, hat vom 27/28t Oktob. 66, Nachts 1 ½ Uhr, in betrunkenem Zustande, an der Storchengasse durch Lärmen & Poltern an der Haustüre des Café littérrire, die nächtl. Ruhe gestöret u. beschimpfte die Polizisten, welche ihn warnten, auf insolente Weise“ und ihm wird eine ordentliche Geldbuße auferlegt. (04.192)
Nicht, dass einer glaube, er hätt’ vorm Tode Regines nicht getrunken! Nun ist er halt der wohlbestallte Trinker mit Ärmelschonern, der dem Literaturkritiker Emil Kuh am 28. Juli 1872 beichtet: „Ich bin […] ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirthaus und um Mitternacht zu Bette geht als alter Junggeselle“, was auch so bleiben wird.

Keller ist nicht nur der größte Epiker des bürgerlichen Zeitalters im deutschsprachigen Raum, sondern auch ein großer Sozialkritiker und ein unterschätzter Lyriker. Die Lust aber zu poetischer Tätigkeit ist ihm genommen, dass zusätzliche Amtsgeschäfte wie gerufen kommen.
1869 feiert Zürich den 50. Geburtstag Kellers, der zugleich Ehrendoktor der Universität wird, obwohl es gerade einmal 15 Jahre her ist, dass er das Angebot eines Lehrstuhls für Literatur- und Kunstgeschichte abgelehnt hat. Nicht aber der Erzähler, sondern der Patriot und Liederdichter soll geehrt werden, denn der Autor Gottfried Keller ist nahezu vergessen, gilt als ausgebrannt. Während des abgelaufenen Jahrzehntes hat Keller sich mühselig drei Novellen abgerungen: Die missbrauchten Liebesbriefe (1860; - als hätte Keller eine beißende Satire auf den Literaturmarkt – und somit auch auf Kurzgeschichten.de – geschrieben, die sich gegen Ende zur romantischen Liebesgeschichte verdichtet), Der Schmied seines Glücks – die einzige Novelle Kellers, in der ein Ehebruch vorkommt - (1866) und zuletzt aber Kleider machen Leute, nach Breitenbruch Kellers „erste Novelle, die diese Bezeichnung voll verdient“ (08.110), eine Klassifizierung, die nur zu verstehen ist, weil Keller Grenzen überschreitet und Gattungsregeln sprengt. Tatsächlich wächst diese Novelle sich zum Standardwerk aus, mit dem Generationen von Schülern je nach Talent des Lehrers beglückt oder gequält werden, denn diese Geschichte gilt – außergewöhnlich bei allem, was Keller zuvor geschrieben hat - gemeinhin als nicht-subversiv, was bei einem Staatsschreiber unterstellt werden darf. Zudem lehre die Geschichte den Zögling, Schein und Sein zu unterscheiden, weil sie gleichsam trivial daherkomme und darum leicht verständlich erscheine. Sie wirkt derart einfach, dass sie sich in einem Satz zusammenfassen ließe (ginge dadurch nicht allzu viel verloren): durch die Laune eines herrschaftlichen Kutschers, in dessen Karosse er fahren darf, wird einem erwerbslosen Seldwyler Schneidergesellen durch die Bürger der konkurrierenden Nachbarstadt Goldach die Rolle eines polnischen Grafen aufgezwungen, die der Schneider nicht aufzugeben wagt, weil es ihn eh nach einem bessern Stande drängt, was seine romantische Aufmachung verrät, bis zur Aufklärung und einem überraschenden showdown infolge einer doppelbödigen Feier aus Verlobung und Fastnachtsumzug.

VI Aufschneider, Venus oder Muttergottes & der Minnesang

Der These von der fehlenden Subversivität widerspricht schon die Quellenlage. Mögliche Vorlagen sind alle gleich umstritten: Der Schneidergeselle, welcher den Herrn spielt von 1847 (2.1021 ff.), eine anonyme Veröffentlichung, deren Merkmale aber für eine Autorschaft des frühen Keller spricht.
Einen weiteren Anstoß erhält die Geschichte durch das im März 1863 gegründete Provisorische Komitee zur Unterstützung der Polen, an dem Keller als Sekretär beteiligt ist, was reichlichen Bekanntschaft mit polnischen Emigranten zulässt, aber auch zum preußischen Doppelagenten Julius Schramm, der sich als polnischer Freiheitskämpfer und aus Tarnungszwecken eine trivialromantische Legende um sich selbst ausgibt, tatsächlich aber für das Zarenreich arbeitet (Margarete Rothbarth: Das Urbild Strapinskis in Kleider machen Leute, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 1873, 22. November 1942, Bd.4., Anm. 13 in 14.250).
Unbestritten ist der Einfluss Arnold Ruges Komödie von Wädenswil.

Tatsächlich gibt Keller mit dem Grünen Heinrich auch eine mögliche Quelle an. Vorm Duell mit Lys, dem bereits genannten Kommilitonen in München, wird nämlich verraten, bei wem Heinrich Fechten gelernt habe: „Schon vor wenigstens sechs Jahren hatte ich von einem Polen, der in unserm Hause [, gemeint ist das mütterliche Haus,] ein kleines Zimmer bewohnte, etwas fechten gelernt. Es war einer jener stattlichen, hochgewachsenen Militärs, wie sie aus der Revolution von 1831 als Flüchtlinge bekannt geworden und seither ziemlich aus der Welt oder wenigstens aus der Emigration verschwunden sind. Von vornehmer Geburt und ein gewesener Reiteroffizier, brachte er sich geschickt und redlich durch und fügte sich in die bescheidenste Lebensart, in jede Arbeit, war immer heiter und liebenswürdig, ausgenommen, wenn er von den Schlachten und dem Unglücke seines Vaterlandes, von seinem Hasse gegen Rußland sprach. Obgleich gut katholisch erzogen, rief er dann jedesmal voll Bitterkeit, es sei kein Gott im Himmel, sonst hätte er die Polen nicht in die Hand des Russen gegeben.“ (03.551) Vielleicht ist es eine Skizze über den Exil-Polen Ladislaus Plater. Graf Plater war nach dem Aufstand von 1830 in die Schweiz geflüchtet, lebte in der Nähe Zürichs. Keller kennt ihn spätestens seit März 1863 durchs Komitee (17.1 ff.).
In des Alchimisten Labor findet sich mit diesen und mehr Elementen die Novelle im Status Nascendi. Die Zeit der Handlung lässt sich genau aus der Geschichte heraus bestimmen, „denn um eben diese Zeit wurden viele Polen und andere Flüchtlinge wegen gewaltsamer Unternehmungen des Landes verwiesen; andere wurden von fremden Agenten beobachtet und umgarnt“ (01.291) heißt’s dazu in der Novelle selbst, und „da man guter Dinge war, sangen ein paar Gäste Lieder, die in den dreißiger Jahren Mode waren“ und der Graf selbst singt auf polnisch, ohne zu wissen, was er da singt – aber wir wissen es, Keller sei Dank!
„Hunderttausend Schweine pferchen
Von der Desna bis zur Weichsel,
Und Kathinka, dieses Saumensch,
Geht im Schmutz bis an die Knöchel!
// …“ (01.290) , was auf die Zeit nach dem erfolglosen Polenaufstand von 1830/31 verweist.

Wie beim Spiel folgt eins aus dem andern. Alles, was geschieht, kommt aus der vorausgehenden Situation. Nebensächlich wie die Charaktere zu zeichnen bleibts Plastische. Da findet sich kein überflüssiges Wort. So gibt der Autor über den arbeits- und mittellosen Schneidergesellen Strapinski nur das bekannt, was für den Handlungsablauf gerade wichtig ist: eine gepflegte Erscheinung, die allein aufgrund ihres vornehmen outfits dem eher kleinbürgerlichen Goldach ein vornehmer Mensch sein muss. Zudem hat er wortkarg und eher zurückhaltend zu sein. Darum „fiel ihm äußerst schwer, ja schien ihm gänzlich unmöglich“, wegen seiner Armut zu betteln, was auch jedermann verblüfft hätte, „weil er über seinem schwarzen Sonntagskleide, welches sein einziges war, einen weiten dunkelgrauen Radmantel trug, mit schwarzem Samt ausgeschlagen, der seinem Träger ein edles und romantisches Aussehen verlieh, zumal dessen lange schwarze Haare und Schnurrbärtchen sorgfältig gepflegt waren und er sich blasser, aber regelmäßiger Gesichtszüge erfreute.
Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, ohne daß er etwas Schlimmes oder Betrügerisches dabei im Schilde führte; vielmehr war er zufrieden, wenn man ihn nur gewähren und im stillen seine Arbeit verrichten ließ; aber lieber wäre er verhungert als daß er sich von seinem Radmantel und von seiner polnischen Pelzmütze getrennt hätte, die er ebenfalls mit großem Anstand zu tragen wußte.“ (01.276) Die Leute „betrachteten ihn … mit Verwunderung und Neugierde und erwarteten eher alles andere als daß er betteln würde; so erstarben ihm, da er überdies nicht beredt war, die Worte im Munde, also daß er der Märtyrer seines Mantels war und Hunger litt, so schwarz wie des letztern Sammetfutter“ (01.277), so dass alle Versuche, den Irrtum von sich aus aufzuklären, scheitern müssen. Was soll, was kann ein vornehmer Mensch, der in einer Staatskarosse vorfährt, anderes sein als „wenigstens ein geheimnisvoller Prinz oder Grafensohn“(ebd.), dass selbst das unsichere Verhalten Strapinskis als Vornehmheit ausgelegt wird. Ein Beispiel: Als dem nämlich eine Forelle vorgesetzt wird, „wagte[er] in seiner Blödigkeit nicht, das blanke Messer zu brauchen, sondern hantierte schüchtern und zimperlich mit der silbernen Gabel daran herum. Das bemerkte die Köchin, welche zur Türe hereinguckte, den großen Herren zu sehen, und sie sagte zu den Umstehenden: ‚Gelobt sei Jesus Christ! Der weiß noch einen feinen Fisch zu essen, wie es sich gehört, der sägt nicht mit dem Messer in dem zarten Wesen herum, wie wenn er ein Kalb schlachten wollte. Das ist ein Herr von großem Hause, darauf wollt ich schwören, wenn es nicht verboten wäre! Und wie schön und traurig er ist! Gewiß ist er in ein armes Fräulein verliebt, das man ihm nicht lassen will! Ja ja, die vornehmen Leute haben auch ihre Leiden!’“ (01.281)
Das Spiel, in den Verlorenen Liebesbriefen schon von Keller eingeübt, wird perfektioniert und auf mehreren Ebenen variiert, läuft von selbst und setzt sich gegen Strapinskis Willen durch. Der Mensch aber, der nicht Herr seiner Rolle ist, wird im gleichen Maße, wie er erhöht wird, leichtsinniger, der Schneider wird Aufschneider. Was behutsam mit der Ankunft im Gasthaus beginnt, zieht auf dem Gut des Amtsrates nicht nur Goldacher Honoratioren in den Bann, sondern vor allem Nettchen, die Tochter des Amtsrates. Die „grüßte den Ritter daher auf das holdseligste, indem sie auch lieblich errötete, und sprach sogleich hastig und schnell und vieles mit ihm, wie es die Art behaglicher Kleinstädterinnen ist, die sich den Fremden zeigen wollen. Strapinski hingegen wandelte sich in kurzer Zeit um; während er bisher nichts getan hatte, um im geringsten in die Rolle einzugehen, die man ihm aufbürdete, begann er nun unwillkürlich etwas gesuchter zu sprechen und mischte allerhand polnische Brocken in die Rede, kurz, das Schneiderblütchen fing in der Nähe des Frauenzimmers an, seine Sprünge zu machen und seinen Reiter davonzutragen“ (01.289). Kurz: beide erleben ein „trivialliterarisches Pfingsten“ (14.240), was nach einem erneut missglückten Fluchtversuch in einem frivolen Ball endet, auf dem Strapinski sich mit Nettchen verlobt.
Auch über Nettchen werden nicht viel Worte gemacht, denn sie wird trocken und nüchtern vorgestellt: „Nettchen war ein hübsches Fräulein, äußerst prächtig, etwas stutzerhaft gekleidet und mit Schmuck reichlich verziert“ (01.288) und vor der Verlobung jubelt selbst der Amtsrat und kehrt das Innerste der Tochter nach Außen: „So hat sich denn das Schicksal und der Wille dieses törichten Mädchens erfüllt! Schon als Schulkind behauptete sie fortwährend, nur einen Italiener oder einen Polen, einen großen Pianisten oder einen Räuberhauptmann mit schönen Locken heiraten zu wollen, und nun haben wir die Bescherung! Alle inländischen wohlmeinenden Anträge hat sie ausgeschlagen, noch neulich mußte ich den gescheiten und tüchtigen Melchior Böhni heimschicken, der noch große Geschäfte machen wird, und sie hat ihn noch schrecklich verhöhnt, weil er nur ein rötliches Backenbärtchen trägt und aus einem silbernen Döschen schnupft! Nun, Gott sei Dank, ist ein polnischer Graf da aus wildester Ferne! Nehmen Sie die Gans, Herr Graf, und schicken Sie mir dieselbe wieder, wenn sie in Ihrer Polackei friert und einst unglücklich wird und heult! Nun, was würde die selige Mutter für ein Entzücken genießen, wenn sie noch erlebt hätte, daß das verzogene Kind eine Gräfin geworden ist!" (01.298)
Mit der angekündigten Verlobung aber kommt das Gegenspiel in Gang, wähnte sich doch genannter Melcher („Melchior“, und somit förmlich, wenn’s ums Geschäftliche geht – was mag der Amtsrat für ein Vater sein?) Böhni, ein Buchhalter und somit der „geborene Zweifeler“(01.287), mit Nettchen verbunden und versprochen, dass man schon fast meinen könnte, der Herr Staatsschreiber porträtierte sich hier höchstpersönlich. Aber nein! Geschäftstüchtig ist der Buchhalter, nicht der Staatsschreiber, und von Anfang an skeptisch, was nichts daran ändert, dass die Geschichte nun ins legendäre und mythische, aber auch zugleich karnevalistische abgleitet, denn Melchior ist – nomen est omen – wenn schon kein König, so doch ein sonderbarer Heiliger. Sein Schlittenwappen ist der Teich Bethesda, „als Galion seines Fahrzeugs hatte er das Bild jenes jüdischen Männchens vor sich, welcher an besagtem Teiche dreißig Jahre auf sein Heil gewartet“ (01.300), denn wäre Melcher als erster in den Teich getaucht, er wäre geheilt worden, prophezeit zumindest das Johannesevangelium (Joh.. 5, 2). So versagt das geschäftliche Kalkül gegenüber der romantischen Naivität des Wasserpolacken, der ins kalte Wasser springt und sich gesund stößt, wie ein anderes Sprichwort behauptet. Der einfach nur lebt, was er träumt und darum die Frau seines Lebens gewinnt, ohne dass sie eine Traumfrau sein müsse. Der Traum von der Heimkehr, der sich durchs gesamte Werk Kellers zieht, wird dem underdog erfüllt, dass ich schon meine, in ihm Odysseus zu erkennen. Böhni will nämlich dem Spiel ein Ende setzen – und unverhofft finden wir uns im neuen Troja, worauf nicht erst ein Kaiser hinweisen bräuchte (Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Ffm. 1981, besprochen in 14.263 ff.), sondern wer Augen hat zu lesen, der lese: Keller selbst hat schon vordem mit der Nennung Homers in der Einleitung zum zwoten Seldwyla-Band (01.273) und in der Novelle selbst auf die Ilias angespielt. In der Tat kann man Strapinski gleich Paris und Nettchen als moderne Helena setzen. Erinnern wir uns: Paris entschied den Schönheitswettbewerb zwischen Hera, Athene und Aphrodite, den Göttlichen, und erkannte Liebe und Schönheit den Preis zu, wofür er von Aphrodite das schönste irdische Weib versprochen bekommt, das er freilich einem andern – Menelaos, von dem man hier aber so recht nicht weiß, wär’s Böhni oder der Amtsrat - rauben muss. Strapinski-Paris wurde, wie schon Heinrich Lee, reichlich Liebe von der Mutter mit unermesslichem Urvertrauen gespendet, großer Gefühlskraft und noch größrer Phantasie. Weil er der Mutter ein Leben lang die Treue hält, wird er mit Helena-Nettchen belohnt, freilich um einen hohen Preis, denn Nettchen gilt als nach Seldwyl entführt, „der erschreckte und gereizte Amtsrat schickte seinen Böhni nach Goldach um Hilfe. Der fuhr im Galopp hin, und am nächsten Tage fuhren eine Anzahl Männer mit einer ansehnlichen Polizeimacht von dort herüber, um dem Amtsrat beizustehen, und es gewann den Anschein, als ob Seldwyla ein neues Troja werden sollte. Die Parteien standen sich drohend gegenüber; der Stadttambour drehte bereits an seiner Spannschraube und tat einzelne Schläge mit dem rechten Schlägel. Da kamen höhere Amtspersonen, geistliche und weltliche Herren, auf den Platz, und die Unterhandlungen, welche allseitig gepflogen wurden, ergaben endlich, da Nettchen fest blieb und Wenzel sich nicht einschüchtern ließ, aufgemuntert durch die Seldwyler, daß das Aufgebot ihrer Ehe nach Sammlung aller nötigen Schriften förmlich stattfinden und daß gewärtigt werden solle, ob und welche gesetzliche Einsprachen während dieses Verfahrens dagegen erhoben würden und mit welchem Erfolge.“ (01.319) Kurz: der Trojanische Krieg findet nicht statt, wird juristisch entschieden, was auch gar nicht anders sein kann, heißt es doch schon zuvor in der bereits erwähnten Einleitung zum zwoten Band „Von der Politik sind sie beinahe ganz abgekommen, da sie glauben, sie führe immer zum Kriegswesen; als angehende Besitzlustige fürchten und hassen sie aber alle Kriegsmöglichkeiten wie den baren Teufel, während sie sonst hinter ihren Bierkrügen mit der ganzen alten Pentarchie“ d. s. die damaligen Großmächte Russland, England, Frankreich, Österreich und Preußen, „zumal Krieg führten. So sind sie, ehemals die eifrigsten Kannegießer, dahin gelangt, sich ängstlich vor jedem Urteil in politischen Dingen zu hüten, um ja kein Geschäft, bewusst oder unbewußt, auf ein solches zu stützen, da sie das blinde Vertrauen auf den Zufall“ – wie die unsichtbare Hand des Marktes – „ für solider halten.“ (01.275)

Gesellschaftliche Folgen der Borniertheit bilden das zentrale Thema der Novellen und Romane Kellers. Dabei dominiert weniger die tragische Seite – sehen wir von Romeo und Julia auf dem Dorfe, dem Salander und das Ende des (frühen) Grünen Heinrich ab – als die didaktische und satirische Darstellung. Didaktik, weil’s im Lande Pestalozzis und Rousseaus, dem ich Piaget hinzufügen möchte, gar nicht anders sein kann, die aber bei Frau Regel Amrain die Erzählung fast zum Erliegen bringt. Die Satire – die in Spiegel, das Kätzchen m. E. seinen Höhepunkt erreicht – mit ihrem beißenden Humor als Selbstverteidigung gegenüber der eigenen Biografie. Allemal ist die Frage, wie aus einem, der anfangs träumt und folglich als untüchtig, gar faul gilt, ein tüchtiger Bürger werde - dem dann aber mit dem Traum die Poesie abhanden kommt, was beim Grünen Heinrich erst mit der Neufassung gelingt. Nicht die Tragödie, sondern die Satire, nicht Trauer, sondern schadenfrohes Gelächter kommt den Seldwylern und deren „Nachbaren“(01.277) zu Goldach, Schwanau und/oder Ruechenstein zu (so schon in 10.167 ff.). Die Novelle erweist sich in ihrem Spiel als Schwester des Dramas, wie Keller überhaupt ein „episch arbeitender Dramatiker“(14.237) ist. Mit Neumann seh ich in Keller einen wahrhaftigen Hexenmeister zyklischer Verknüpfungen nicht allein durch formale Verweisungskunst, „sondern entscheidend deshalb, weil er die Bewegungsgesetze seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit zu den ästhetischen Bewegungsgesetzen seiner Novellen und Novellen-Zyklen“ (14.236) macht, es ist zugleich der Einbruch der Moderne mit ihrer Rationalität in die Alte Welt, dem Obsiegen des Prosaischen übers Poetische, was für Kellers gesamtes Werk gilt, dass durch Querverweise – Heinrich Lee ist ebenso Pankraz, der Schmoller, wie Frau Amrains Jüngster, Fritz, und viele andre mehr. Obsolet das Versprechen von Aufklärung und Revolution, denn im Haus „zum Landeswohl (ein reinliches Häuschen, in welchem hinter einem Kanarienkäfig, ganz mit Kresse behängt, eine freundliche alte Frau saß mit einer weißen Zipfelhaube und Garn haspelte)“, im Haus „ zur Verfassung (unten hauste ein Bötticher, welcher eifrig und mit großem Geräusch kleine Eimer und Fäßchen mit Reifen einfasste und unablässig klopfte); ein Haus hieß schauerlich: zum Tod! ein verwaschenes Gerippe erstreckte sich von unten bis oben zwischen den Fenstern; hier wohnte der Friedensrichter. (…)Endlich verkündete sich an den neuesten Häusern die Poesie der Fabrikanten, Bankiere und Spediteure und ihrer Nachahmer in den wohlklingenden Namen: Rosental, Morgental, Sonnenberg, … und so weiter. Die an Frauennamen gehängten Täler und Burgen bedeuteten für den Kundigen immer ein schönes Weibergut.“(01.293) An Stelle der Liberté treten Freiheiten, vor allem des Gewerbes und Eigentums, definiert der Bürger sich doch zuvörderst durch Beruf und Besitz, so dass an Stelle der Égalité Chancengleichheit tritt bei unterschiedlichen Startbedingungen, an Stelle der Fraternité tritt der Ohnemich(el) und die Entsolidarisierung potentieller Konkurrenten. Spätestens jetzt sollte der nicht-subversive Staub aus den Kleidern herausgeklopft sein, ob als Sprichwort oder als dessen realer Umkehrung: Leute machen Kleider, aber sie formen auch IHRE GESELLSCHAFT – ob als Pfahlbauern oder Spießbürger. An die Stelle imaginativer treten ökonomische Lebensentwürfe (10.172).
Aber selbst, wenn das Spiel falsch gewesen ist, die Gefühle der Verlobten zu einander sind echt und mir wird, als wäre dieses die Umkehrung des alten Mythos, dass Penthesilia/Talestris über Achill/Alexander triumphierte, der aber durch Vermittlung seiner Mutter zu neuem Leben erweckt wird und sich seinerseits unsterblich in die Amazone verliebt. Wie mir auch sei: Nettchen holt Strapinski heim, weiß eine Neuauflage Romeo und Julias – nun auf halbem Wege zwischen den Städten, hie Seldwyla, da Goldach – zu verhindern. Das alberne Mädchen reift zur jungen Frau, die weiß, was sie will. Die vermag ihren Willen durchzusetzen und Strapinski wird aus einem weichen und unentschiedenen Menschen zu einem Mann, der rund und stattlich wird und beinah gar nicht mehr träumerisch aussieht. Denn als sie ihn rettet sagt sie: „Keine Romane mehr! Wie du bist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum Trotze dein Weib sein. Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen!" (01.316), was dann auch geschieht. Mit dem Drachen Strapinska an der Seite wird Strapinski in Seldwyla Tuchherr, Spekulant, der das Tableau économique zu beherrschen lernt und reich wird. Zwölf Jahre später, nun wieder in Goldach, ist er ein angesehener Mann. Kann es ein Geheimnis bleiben oder irgendwen überraschen: das Schlittenwappen des Amtsrates ist Fortuna, die ihr Füllhorn gleichermaßen über die romantischen Figuren als auch ihren Autor ausschüttet. Kleider machen Leute wird Kellers populärster Text überhaupt, nimmt den künftigen Erfolg vorweg. Plötzlich findet er ein Publikum. Noch bevor die Buchausgabe erscheint, wird die Novelle übersetzt und als L'habit fait l'homme in der Bibliotheque universelle et revue suisse 1873 veröffentlicht.

Bleischwer liegt seit fünfzehn Jahren die erste Auflage des Grünen Heinrich, führen die Leute von Seldwyla ein anonymes Lagerleben, sind de facto lebendig begraben, als Keller eine nicht mehr erwartete Chance erhält. Am 2. August 1871 schreibt Ferdinand Weibert „vor wenigen Tagen habe ich zum ersten Male in Heyse u Kurz's Novellenbuch ‚Romeo u Julia auf dem Dorfe’ gelesen, und ich bin jetzt noch ganz entzückt von dieser wunderbar schönen Erzählung.
Gestatten Sie mir, Ihnen für diese geniale Schöpfung meine vollste Bewunderung auszusprechen, und erlauben Sie mir eine etwas eigennützigere Nebenabsicht gleichbald damit verknüpfen zu dürfen. Und diese ist nichts mehr noch weniger, als bei Ihnen anzufragen, ob Sie sich nicht entschließen könnten Einiges aus Ihrer Mappe, welche gewiß manches Fertiges enthält, meiner G. J. Goeschenschen Verlagshdlg zum Verlage zu übertragen.“
„ENDLICH!“, mag der geneigte Beobachter denken, doch wer erinnert sich außerhalb eines elitären Zirkels von Fachleuten des Namens Paul Heyse, der immerhin 1910 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, Brieffreund und erfolgreicher Kollege Kellers. Eben dieser Medienstar seiner Zeit bezeichnet den Verfasser von Romeo und Julia auf dem Dorfe als einen der größten „Meister des epischen Stils“, stellt ihn an die Seite Goethes, erklärt ihn glatt zum „Shakespeare der Novelle“. Nun ist es tatsächlich an der Zeit, die ordentliche und geregelte Industrie zu betreiben. Keller zieht gegenüber seinem neuen Verleger Weibert die Sieben Legenden aus dem Ärmel und selbst die Höhe des Honorars bestimmt Keller mit.

Auch in den Sieben Legenden (02.357 ff.)finden wir Keller beschrieben, denn er ist der Zendelwald: „Überdies war er träg in Handlungen und Worten. Wenn sein Geist und sein Herz sich eines Dinges bemächtigt hatten, was immer vollständig und mit Feuer geschah, so brachte es Zendelwald nicht über sich, den ersten Schritt zu einer Verwirklichung zu tun, da die Sache für ihn abgemacht schien, wenn er inwendig damit im reinen war. Obgleich er sich gern unterhielt, wo es nicht etwa galt, etwas zu erreichen, redete er doch nie ein Wort zur rechten Zeit, welches ihm Glück gebracht hätte. Aber nicht nur seinem Munde, auch seiner Hand waren seine Gedanken so voraus, daß er im Kampfe von seinen Feinden öfters beinahe besiegt wurde, weil er zögerte, den letzten Streich zu tun, den Gegner schon im voraus zu seinen Füßen sehend. Deshalb erregte seine Kampfweise auf allen Turnieren Verwunderung, indem er stets zuerst sich kaum rührte und nur in der größten Not mit einem tüchtigen Ruck obsiegte.
So lässig Zendelwald war, so handlich und entschlossen war seine Mutter, ohne daß es ihr viel genützt hätte, da sie ihrerseits diese Eigenschaft ebenfalls jederzeit übertrieben geltend gemacht und daher zur Zwecklosigkeit umgewandelt hatte“ (Die Jungfrau als Ritter, in 02.383 ff., hier S. 384), wobei die treibende Kraft nun bei freundschaftlich mit Keller verbundenen Dritten wie Heyse und Weibert liegt.
Im Grünen Heinrich trifft Keller gelegentlich einen legendären Ton und das katholische Bayern bildet den Schauplatz. Nun beginnt Kellers Reise im spätantiken Alexandria und schließt im fernen Jenseits. In den allerchristlichsten Himmel ziehen antike Musen. Dieser träge, in einem bürgerlichen Sinne gar faule Zendelwald gebärdet sich als unartiges, wenn nicht gar böses Kind. Das enfant terrible sagt in Gesellschaft der Erwachsenen nicht gerade anständige und gehörige Dinge und erst recht wird nicht verschwiegen, was nach allgemeiner Übereinkunft der Erwachsenenwelt zu tabuieren wäre und besser ungenannt bleiben sollte. Die Legenden entzücken ebenso sehr, als sie Vorbehalte wecken, faszinieren und skandalisieren. Sie spielen nicht nur mit dem Rollentausch, sondern setzen noch eins drauf! Geschlechtertausch wird geübt. Die Jungfrau ist der Ritter!, was in der wohl skandalösesten Szene gipfelt, die in einem prüden Jahrhundert als Ärgernis nicht einmal benannt werden darf: Maria, die Jungfrau, verwandelt sich in einen jungen Mann (eben: Zendelwald) und küsst eine schöne Frau mit einem erotisch heißen Kuss. Hier potenzieren sich Anstößigkeiten zum Skandal. Das legendäre Katholisieren des liberalen Protestanten vermischt sich mit tabuierter Sexualität. Die Jungfrau trägt keinen Damen-, nein, sie trägt Vollbart! Doch ist Zendelwald Der Schmied seines Glückes? Nein!, denn der echte Ritter verspielt sein Glück durch Träumerei und selbstquälerische Resignation, gleicht seinem Schöpfer. Die Konsequenz seines Handelns wär’ ein verpfuschtes Leben, griffe nicht wieder einmal die mutter, in diesem Falle Gottes, ein. Sie wirbt in Zendelwalds Gestalt um die schöne Frau und küsst sie auf so erfahrene Weise, dass die Brautnacht kaum erwartet werden kann. Zendelwald selbst schläft unterdessen wie ein Kater (= Spiegel, das Kätzchen) an der Sonne. Sein Glück wird ihm förmlich aufgehalst; er braucht es nur noch anzunehmen. Aber genauso unerhört ist, wenn in der Jungfrau und der Teufel (02.375 ff.) die Jungfrau Maria mit einem teuflisch schönen Dämon, dem Teufel eben, um eine Frau kämpfen muss. Der nämlich fühlt sich einsam und sehnt sich nach der verlornen himmlischen Liebe, an die ihn allein irdische Seligkeit zu erinnern vermag. Zwar kann der Teufel gezwungen werden zu verzichten, doch besiegen kann die Muttergottes ihn nicht. Keller bekennt sich zur Liebe, die allein eine Ahnung des verlornen Paradieses selbst beim Teufel aufkommen lässt.

Die Kritik tut sich schwer. Es fehle der „einheitliche“ Stil. Keller selbst wirkt hilflos (an Friedrich Theodor Vischer am 19. Mai 1872: „… Mit den Legenden geht es mir seltsam; ich glaubte die Freiheit der Stoffwahl damit zu behaupten gegenüber dem Terrorismus des äußerlich Zeitgemäßen, immerhin aber eine deutliche gut protestantische Verspottung katholischer Mythologie zu begehen. Nun lese ich heute, wie ein junger Landsmann, …, | der viel zu mir in's Haus kam u mich genau kennen kann, in der Wiener ‚freien Presse’ aus dem Büchlein eine Art schmählicher Denunciation … gegen mich schmiedet!“).
Theodor Fontane reitet die schärfsten Attacken, geht Tauben vergiften im Park! Er kehrt Kellers Vorwort, dass er den alten frommen Geschichten „zuweilen das Antlitz nach einer andern Himmelsgegend hingewendet“ habe, um und stellt sie auf den Kopf, denn „richtiger wäre vielleicht die Bemerkung gewesen‚ dass er ihnen, wie eben so vielen Tauben, den Kopf umgedreht habe’. Denn sie sind tot“, was genau das bewirken soll, was da steht: Vernichtung! Sieben Legenden liegen da gleich toten Tauben, denn Keller hat gegen poetologisch bis dahin gültige Prinzipien verstoßen, Fontane fordert Einheit des Stils, Eindeutigkeit der Gattung. Die Legende ist eine literarische Form mit Regeln und Gesetzen, wie andere Gattungen auch. Darum vertrage die Legende weder Spott noch Witz. Keller verstoße gegen „das heilig Naive der Legende“. Selbstverständlich weiß Fontane um die Aufklärung. Auch an ihm ist Voltaire nicht spurlos vorbeigegangen. Dennoch habe selbst die Parodie einer Legende eindeutig zu sein! Die Fahne der Andacht darf durchaus durch einen frechen Wimpel ersetzt werden, nicht aber dürfe man in internationalen Gewässern Piraterie unterm Sternenbanner treiben. Ein Unding! Sollte da so etwas wie Neid aufgekommen sein? Ich glaube nicht! Fontane begreift nur nicht, dass ein naives Erzählen zugleich höchste Artistik bedeuten kann. Er diagnostiziert „etwas Perverses“ (Zitate und Anregungen unter 12.1 ff.)
Doch dem durch Kollegen-Schelte Gebeutelten kommt Hilfe aus Wien.
Mit dem Vorwurf der Perversion, gar der Gotteslästerung bis hin zu fundamentalistischen Morddrohungen muss selbst heutigentags der rechnen, der nicht von Gottes Wort, sondern von der laufender Nase (den krummen Beinen oder gar der Verdauung) Gottes oder seines Propheten spräche. Gewiss stellen Kinder, die unsere Skrupel nicht kennen, in aller Unschuld solche oder ähnliche Fragen. Aber dem Erwachsenen wäre von solchen Fragen abzuraten – bis auf einem, so befindet der Kritiker Ferdinand Kürnberger im Juli 1872. Diese Ausnahme aber heiße Gottfried Keller mit den Sieben Legenden, „ich möchte recht groß davon denken, ja, man kann gar nicht groß genug davon denken. Es ist förmlich eine neue Entdeckung in der Naturgeschichte der Mythologie. Es ist, als ob ein Musiker eine neue Tonart erfunden hätte.“
Wie spreche man, selbst ungläubig, im Zeitalter des Unglaubens zu Ungläubigen von Glaubenssachen? –
Sei doch einfach, rufe der aufgeklärte Mensch: Wie Voltaire! Aber der habe gesprochen wie ein Sklave, der freilich die Ketten breche, befindet Kürnberger. Habe gehöhnt, verspottet, bespien – was seinen historischen Wert habe. - Nun gut: also wie Heine! Der habe nicht mehr wie ein Sklave gesprochen, aber doch wie ein Freigelassener, welcher der Ketten noch gedenke. Aber auch der künstlerische Wert der Libertinage verblasse. –
„Erst Gottfried Keller behandelt das Heilige wie ein Freier, welcher die Kette nie gesehen und getragen hat.“ Kurz: Keller sei nicht satirisch wie Voltaire, sondern naiv wie Homer. Wenn aber einer wie Homer und Voltaire wäre, dann sei er keiner von beiden, sondern ein Original! (Zitate und Anregungen nach 11.1 ff., aber auch 02.1104 f.)
In der Rahmenerzählung zu den Züricher Novellen wird Keller vier Jahre später durch den Mund des Paten den Begriff des „Originals“ definieren: „‚Also ein Original möchtet Ihr gerne sein, Meister Jacques?’ sagte nunmehr der Pate und strich seinem Schützlinge das Haar aus der erhitzten Stirne. ‚Ei, das kommt nur darauf an, was für eines! Ein gutes Original ist nur, wer Nachahmung verdient! Nachgeahmt zu werden ist aber nur würdig, wer das, was er unternimmt, recht betreibt und immer an seinem Orte etwas Tüchtiges leistet, und wenn dieses auch nichts Unerhörtes und Erzursprüngliches ist! Jenes ist aber im ganzen so wenig häufig oder recht betrachtet so selten, daß, wer es kann und tut, immer den Habitus eines Selbständigen und Originalen haben und sich im Gedächtnis des Menschen erhalten wird, ganze Stämme sowohl, wie einzelne. (…)’“(02.19), was ganz im Sinne Kürnbergers ist, der fortfährt, in den Sieben Legenden sei Keller satirisch „wie Voltaire, naiv wie Homer, graziös wie Heine, humoristisch wie Jean Paul“, und bleibe doch immer Gottfried Keller. „So ist es z. B. Gottfried Kellers eminentestes und ihm ganz eigentümliches Talent, über Menschen lächeln zu machen, ohne den mindesten Abbruch an ihrem Ansehen und ihrer Würde“, was seinen Humor eindeutig unterscheidet von dem durch Schadenfreude gelenkten Witz eines zu dem Zeitpunkt bereits bekannteren doppelt talentierten Wilhelm Busch - der nicht nur erste Comics veröffentlichte, sondern auch ernsthaft malt, wenn auch wenig erfolgreich - dessen Fromme Helene und Hans Huckebein im Jahr der Sieben Legenden an die Öffentlichkeit kommen. Kellers Meisterstück vermeint Kürnberger aber im Fähnlein der sieben Aufrechten von 1860 zu entdecken. „Liest man diese Novelle, so glaubt man die Steigerung, die jetzt noch kommen muß, völlig gewiß voraussagen zu können. Aber freilich ist es das Höchste, was man Dichterwerken nachsagen kann, daß sie erscheinen müßten mit der Nothwendigkeit von Naturwerken“, wofür die Sieben Legenden stünden. Keller nehme den Glauben beim Wort: Maria hilf!, und Maria hülfe. Ihr glaubt einen Gott zu haben, der Mensch geworden ist, also sei er menschlich! Nürnberger zitiert aus dem Nachlass des frühverstorbnen Kürnbergers: „Endlich habe ich das Schlagwort für Gottfried Keller gefunden … und mich von der Rast der Bewunderung befreit, indem ich sie nun - wie Adam die Tiere – wenigstens mit einem Namen zu nennen weiß. Es ist das Epische seiner Schreibweise, oder besser: seiner Anschauungsform. Das Epische aber ist die erste Hand." Nichts komme bei Keller durch die Retorte, nichts aus der Welt der Bücher oder sei durch Abstraktionen abgeleitet. Ein Zitat aus dem Grünen Heinrich verdeutliche das Gemeinte. Es handele sich um die Beschreibung der Anatomie, „wo ein blühendes Geschlecht von Jünglingen, geleitet von gewandten Männern, mit vergnügtem Eifer einen Vorrat von Leichen zerlegte". Der Satz kennt weder die Begriffe Mediziner, Professor, Anatomie, Seziertisch, sondern er weiß nur, was die Augen sehen. Das Beispiel genügt Kürnberger aber noch nicht, um das Charakteristische bei Keller zu bezeichnen. Er räumt ein, dass es auch zum Programm anderer Erzähler gehört habe, nur zu sagen, was man sehe, nicht, was überkommen sei; er nennt Stifter und Heyse, aber er bezeichnet sie, weil sie zuvor durch die Reflexion hindurchgegangen sind, als Plastiker – während das Epische erst jenseits der Grenze beginnt, die sie erreichen konnten, und er schließt: „Bei den Plastikern können wir treu und sauber gearbeitet sehen: das Stirnband der Chriemhilt, das Armband der Chriemhilt, den Gürtel der Chriemhilt, die Schuhe der Chriemhilt - nur die Chriemhilt nicht. Bei dem Epiker Gottfried Keller tritt schmucklos, kleidlos ein nacktes Weib herein; es ist die Chriemhilt.“(02.1095) Wir Spätgebornen können diesem Urteile mit Breitenbruch hinzufügen, dass Keller eben nicht einen bestimmten Stil vorzieht, sondern souverän alle möglichen epischen Mittel verwendet, wie es eben der Sache angemessen erscheint. „Das macht ihn so luzid und gescheit. Der objektive Dichter spricht, wobei Objektivität entgegen dem heutigen Sprachgebrauch nicht bescheidene Beschränkung auf das, was man ganz sicher wissen kann, ist, sondern der kühne und selbstverständliche Anspruch auf Allwissenheit“ (08.125), worin auch seine humoristische Wirkung liege. Kurz: Keller schreibt wie Homer. Deutlicher: Keller ist der neue Homer!
Mit der Veröffentlichung der Sieben Legenden 1872 wächst Kellers Ruhm über die Schweizer Grenzen hinaus. Keller wird noch vier Auflagen der Legenden erleben.

Mich dünkt, dass Keller sich im Hadlaub (02.21 ff.), d. i. die einleitende Zürcher Novelle, bei Ferdinand Kürnberger bedanken will. Fiktional und doch hart an den historischen Fakten erzählt er nach umfangreichem Quellenstudium von der Entstehung der Manessischen Liederhandschrift, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Zürich entstanden ist und 140 Dichter versammelt und nach dem Stande ordnet, indem Keller die Lebens- und Liebesgeschichte des Bauernsohnes Johannes Hadlaub erzählt. Schon Hadlaubs Vater hatte Dichtung für Gemeingut gehalten und für übel gehalten, dass alles nur in den Gotteshäusern aufgeschrieben und bewahrt werde. So lernt denn der Sohn Schreiben und Lesen, erlernt die Muster des Minnesangs und beherrscht die Regeln bald selbst meisterlich, dass er im Kreise derer von Manesse gern gesehen und beauftragt wird, die alten Lieder zu sammeln, bevor sie mit den sterbenden Menschen zu Grabe gingen. Aber Hadlaub, der Bauernsohn, kann seiner ländlichen Herkunft nicht entrinnen und ist wie das Laub und Heinrich Lee grün (Theodor Storm wird ihn bei Namen nennen „Als ich die schöne Geschichte vom Johannes Hadlaub aus der Hand legte, war mir so warm und froh um's Herz, und der Johannes wurde mir zum Gottfried“, 27. 3. 1877), denn Hadlaub verstößt gegen alle Regeln, da er sich in das Minneweib Fides verliebt, edel von Herkunft und die Ziehtochter im Hause Manesse. Einer durch Minnelieder angebeteten Frau kann nach den Regeln niemals das Herz des Dichters gehören (und umgekehrt), Dichtung bleibt Mittel zum Zweck der Selbststilisierung des vorbildlichen Ritters, der Hadlaub nun mal nicht ist. Im Gegensatz zu Romeo und Julia auf dem Dorfe und dem Dietegen geht diese Liebesgeschichte aber glimpflich aus in einer bürgerlichen Ehe – auf Grund sicheren Gewerbes und Erwerb von Eigentum, um den Preis aber, dass Hadlaub als Dichter verstummt.
Winfried Freund begründet den Verzicht auf Originalität aus einer soziologischen Sicht „Erst das selbstverständliche Sich-Einfügen in das, was Menschen geschaffen haben, bringt das Menschliche zur Geltung, das sich in Hadlaub letztlich in der Überwindung der Standesgrenzen verwirklicht und eine freie bürgerliche Zukunft begründet.“ (10.175)
Keller selbst hat bereits sehr früh, bereits in Berlin, in seiner noch am Drama orientierten Poetik eine historische Sicht gewählt, wenn er in Briefen an Hettner über Form-, Struktur- und Stilwandel infolge gesellschaftlicher Veränderungen schreibt: „Bei aller inneren Wahrheit reichen für unser jetziges Bedürfniß, für den heutigen Gesichtskreis, unsere alten klassischen Dokumente nicht mehr aus,“ dass der „wunderliche Fall eingetreten [ist], wo wir jene klassischen Muster auch nicht annähernd erreicht oder glücklich nachgeahmt haben“ – Keller gibt Lessing, Goethe, Schiller und Tieck als Beispiele, bevor er auf den – ich will’s einmal so nennen – globalen Wandel eingeht. „ … Und alsdann werden veränderte | Sitten und Völkerverhältnisse viele Kunstregeln und Motive bedingen, welche nicht in dem Lebens- u Denkkreise unserer Klassiker lagen, und ebenso einige ausschließen, welche in demselben seiner Zeit ihr Gedeihen fanden. ...“ Gleichwohl folgt als Quintessenz: „Was ewig gleich bleiben muß, ist das Streben nach Humanität, in welchem uns jene Sterne, wie diejenigen früherer Zeiten, vorleuchten. Was aber diese Humanität jederzeit umfassen solle: dieses zu bestimmen hängt nicht von dem Talente und dem Streben ab, sondern von der Zeit und der Geschichte.“ Nicht aber irgendein Gutmenschentum ist mit der Humanität gemeint, sondern das rein Menschliche sei durch Poesie zur Geltung zu bringen (so auch 16.77). Keller sieht das Ende der Tragödie, welche durchs Komödiantische verdrängt werde. Vielleicht liegt hier auch der Grund, warum ihm selbst kein Drama gelingt, stattdessen aber umso besser dessen Schwester Novelle. Hellsichtig benennt Keller nämlich die (Wiener) Lokalposse – er kennt mit Sicherheit seinen Nestroy, der für Jukundus im Verlorenen Lachen Spott- und Kosename „Lumpazi“ verrät’s – als eine Quelle der kommenden politischen Komödie, die sich freilich am Tagesgeschäft – wie später das politische Kabarett – orientiert und somit nichts für einen faulen Hund ist. Die Erkenntnis des Zerfalls des klassischen Dramas gibt Gelegenheit, über die Komödie zu sprechen, die ständig von Volksstück, Schwank und Posse um- und belagert wird, welche selten sich an klassische Regeln halten. Ein scheiternder Dialog, die misslingende Kommunikation gibt schon im realen Leben dem Nichtbeteiligten (dem Publikum) eine komische Nummer, die freilich mit latent gegebener Gewalt und der Tücke des Objekts rechnen muss. Die Gefahr entlädt sich dann im befreienden Gelächter, wenn einer wie im slapstick stolpert, fällt oder groteske Verrenkungen vollführt, um eben nicht zu fallen.
„Gerade dies ist ein Gegenstand, ein Gebiet, in welches die Klassiker vor 50 Jahren noch keine Aussichten hatten und ich bin überzeugt, daß wenn wir jetzt einen dreißig- oder vierzigjährigen Göthe hätten, ja selbst nur einen Wieland, so würde dieser aus den vorhandenen Anfängen bald etwas gemacht haben. Denn sowohl die Form, als die Art des Witzes und seines Vortrages sind neu und ursprünglich. Und was das Beste und Herrlichste ist: Das Volk, die Zeit haben sich diese Gattung selbst geschaffen nach ihrem Bedürfnisse, sie ist kein Produkt literarhistorischer Experimente, wie etwa die gelehrte Aufwärmung des Aristophanes und Ähnliches! Gerade deswegen wird vielleicht ihre Bedeutung von den gelehrten Herren ignorirt, bis | sie ihnen fertig und gewappnet, wie die junge Pallas, vor den Augen steht“(4. März 1851), und fährt quasi drei Jahre später (am 26. Juni 1854) fort:„Viele Witze und Motive, Fabeln, Anektodten u. s. f. werden von den Volksschichten gepflegt und gehandhabt, kommen in die Mode in Bauern- wie Studentenkneipen, Werkstätten u Marktplätzen, verschwinden hier und tauchen dort wieder auf und schwimmen in der Luft umher. Nun kommt so ein Originalgenie und glaubt Wunder was zu thun, wenn er unmittelbar an der Mutterbrust der Natur liege, aus der ‚lauteren Volksquelle’ schöpfe, u wie die Ausdrücke alle heißen, wenn er hinuntertauche in die Tiefe des immer neuen Volksgemüthes und Stoff da sammle, wo die ‚Salonmenschen’ nicht hinkommen. Er schreibt sich also derlei Witze hinter das Ohr und bringt sie als nagelneu und urkräftig glücklich zum Drucke, während dieselben schon vor Jahrtausenden vielleicht längst in klassischen Gedichten aufgeschrieben wurden. So gibt es Dinge der verschiedensten Art, welche sich das Volk immer wieder erzählt, z. B. erotische Anektodten, die Bocaccio klassisch geformt, aber nicht erfunden hat, ... Und das Ganze des poetischen Stoffes befindet sich in einem merkwürdigen oder vielmehr sehr natürlichen fortwährenden Kreislaufe. … Nicht einmal der lyrische Weltschmerz, den man immer modern nennt, ist neu; er ist, sofern er schön ist, schon vollkommen in chinesischen Liedern ausgedrückt, mit allem heutigen Apparate: landschaftlichen Stimmungen, kleinen netten Pointen u. d. gl. Welcher Reichthum an konkreten plastischen u drastischen Einfällen u Bildern, mit denen man sich heute so abquält, in der indisch. u andern orientalisch. Poesie liegt, | ist bekannt. Mit Einem Worte: es gibt keine individuelle souveraine Originalität und Neuheit im Sinne des Willkürgenies und eingebildeten Subjektivisten (Beweis Hebbel, der genial ist, aber eben weil er durchaus neusüchtig ist, so überaus schlechte Fabeln erfindet.) Neu in einem guten Sinne ist nur, was aus der Dialektik der Kulturbewegung hervorgeht. So war Cervantes neu in der Auffassung des Don Quixote (ich weiß nicht einmal, ob durchaus) aber nicht in der Ausführung und in den einzelnen poetischen Dingen. Und dies ist der beste Fingerzeig, wonach ein Dichter streben und in was seine Ehre setzen soll.“ Oder wie Ignée es 130 Jahre später formulieren wird: „Jeder Schriftsteller schreibt die Zeit und auch die Themen, Formen und natürlich die Sprache, die er vorfindet, ein Stück vorwärts. Nur ein Titan vermag sich die Zeit, in der er leben und arbeiten will, selber zu erfinden.“ (13a.XI)

Doch zurück zum Hadlaub: Dort nämlich wird u. a. geschildert, wie Hadlaub auf seinen Wanderungen (oder sind es Irrfahrten?) an die Schriften des von Kürenberg kommt, einem donauländischen Ritter und dem ältesten namentlich bekannten Minnesängers des 12. Jahrhunderts. Unter seinen erhaltenen 15 zumeist einstrophigen Liedern sind auch Frauenstrophen, wieder ein früherer Regelverstoß, da in der Frauenstrophe die Verse der Frau in den Mund gelegt werden und die Vortragende als Werbende erscheint. So ist’s im Falkenlied, das durch Keller in modernem Deutsch niedergeschrieben wird. Hier zunächst das Original:
„Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete, als ich in wolte hân,
und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant,
er huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.

Sît sach ich den valken schône fliegen:
er fuorte an sînem fuoze sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere alrôt guldîn.
got sende si zesamene, die geliep wellen gerne sîn!“
In der Übersetzung Kellers (02.94):
„Ich zog mir einen Falken
länger als ein Jahr,
Und da ich ihn gezähmet,
wie ich ihn wollte gar,
Und ich ihm sein Gefieder
mit Golde wohl umwand
Stieg hoch er in die Lüfte,
flog in ein anderes Land.

Seither sah ich den Falken
so schön und herrlich fliegen,
Auf goldrotem Gefieder
sah ich ihn sich wiegen,
Er führt’ an seinem Fuße
seidne Riemen fein:
Gott sende sie zusammen
die gerne treu sich möchten sein!“ –
Keller bricht nicht nur die Kürenberger-Strophe, die später nach dem populärsten Werk, in dem sie angewendet wird, als Nibelungenstrophe bezeichnet wird, er bricht auch mit der altertümelnden Sprache anderer historischer Novellen und Romane, will gar nicht erst Authentizität vortäuschen. Niemand wird wohl die Verse aufs Tierreich beziehen – nicht nur Falken wildern in fremden Revieren - und der von Kürenberg wird auch Kür(e)nberger genannt
Der als Bauernsohn Geborene kehrt damit in einem dichterischen Sinne wieder zurück in die Heimat, in das Ländliche, Einfache, Natürliche. Jedoch kann er nur zitieren, bleibt Epigone, eigene Poesie erschafft er nicht mehr, vielleicht, weil ihm die Heimat gleich dem Odysseus fremd geworden ist.

Die Leute von Seldwyla werden 1873 f. neu und erweitert aufgelegt. Der zwote Band enthält Kleider machen Leute, Der Schmied seines Glückes, Die missbrauchten Liebesbriefe, Dietegen – in dieser einzigen historischen Novelle des Zyklus nimmt Keller noch einmal das Thema der unglücklichen Liebe auf, wobei Keller hier strengen Gesetzen der Symmetrie folgt: zu Anfang wird der wegen Diebstahls zu Ruechenstein zum Tode verurteilte junge Dietegen von einer Seldwyler Familie auf Wunsch der Tochter Küngolt freigekauft und in die Familie aufgenommen; Küngolt glaubt nun, Anrechte auf Dietegen zu besitzen, doch der will selbständig bleiben. Im zwoten Teil kommt ein Ruechensteiner zu Tode, der durch Küngolt liebestoll wurde. Nun soll Küngolt hingerichtet werden, kann aber durch Dietegen nach altem Brauch freigekauft werden, wenn er sie zum Weibe nehme. Nach dem Eheschluss aber entzieht Dietegen sich als Söldner in fremden Landen, was schließlich beider Leben kostet, denn auch Küngolt kommt beim Besuch des Grabes Dietegens um. „Am Ende scheint die angedeutete Lösung eigentümlich relativiert, indem sich die Betroffenen selbst um die Früchte von Anteilnahme und Liebe gebracht haben.“ (10.173) – und Das verlorene Lachen - stärker noch als in Kleider machen Leute sind die zeitgeschichtliche Bezüge im Verlorenen Lachen, einem – wenn man so will - zur Novelle komprimierten Schlüsselroman. Keller nimmt darin nicht nur den sich ausbreitenden Kapitalismus, sondern auch die Auswüchse der demokratischen Agitation von 1867/68 und den reformatorischen Eifer einiger liberaler Theologen aufs Korn. Letzteres sorgt in Zürich für Aufsehen; in St. Peter wird erneut von der Kanzel gegen den Autor gepredigt. Hier ist auch einiges vorweggenommen, was später in Ursula (1877 in den Züricher Novellen) auftaucht und die Kapitalismus-Kritik des Martin Salander.

Im Juli 1875 legt Keller das Amt nieder, um sich wieder ganz der Literatur zu ergeben. Ein Jahr später scheidet er endgültig aus dem Staatsdienst. Jetzt kann er von der Literatur leben! Es erfolgt ein Vorabdruck der Züricher Novellen, mit Hadlaub und seiner Fortsetzung im eher mäßigen Narr auf Manegg, dem Landvogt von Greifensee, einer Abrechnung von fünf Liebschaften als novellistischem Höhepunkt dieses Zyklus’, Das Fähnlein der sieben Aufrechten, dem eine ähnliche schulbuchartige Wirkung wie Kleider machen Leute zukommt, nun freilich in einem vaterländischen Sinne, und letztlich Ursula, seine letzte historische Novelle, die von der Zeit der Reformation erzählt und in der man leicht die Rolle des Huldrych Zwingli Keller überstülpt, obwohl bekannt ist, dass Keller das Züricher Sittenmandat zuwider ist.

Seit 1876 hat er Kontakt zu Conrad Ferdinand Meyer, dem andern Schweizer Verfasser großer historischer Novellen, ab 1877 korrespondiert er mit Theodor Storm, dem Amtsrichter und begnadeten norddeutschen Novellisten und Zeitgenossen. Wer Augen hat zu lesen, der lese den Briefwechsel und sehe, welchen Einfluss Freundschaft - trotz gegensätzlicher Charaktere, poetischer Auffassung und räumlicher Trennung – im Werk des anderen finden kann. Gleichwohl bleibt es eine hypothetische Frage, wie der Grüne Heinrich ohne Einfluss Storms auf die Bearbeitung geendet hätte. Keller arbeitet seinen Erstling um und die neue Fassung erscheint 1879 f. Heinrich Lee darf nun weiterleben, erreicht ein bürgerliches Ziel als Kanzleivorsteher eines kleinen Oberamtes. Es wird gekürzt, abgeändert, neuere Entwicklungen (etwa zur Judith) werden berücksichtigt. Das Werk wird einem gereifteren Leben angepasst, dass etwas Neues entsteht. Letztlich erzählt nun Heinrich Lee als Ich-Erzähler den Roman seines Lebens, ohne freilich den Status des allwissenden Erzählers zu verlieren.

1881 veröffentlicht Keller die Novellensammlung Das Sinngedicht, mit dem er noch einmal den Gipfel der Novellistik erklimmt, weil er noch einmal Früchte der Berliner Zeit ernten kann.
1886 erscheint Kellers zwoter Roman Martin Salander (02.715 ff.). Der Salander wird in der Deutschen Rundschau von Januar bis September 1886 vorab gedruckt, mit allen Schwierigkeiten, die ein Anfänger nur haben könnte, denn Kräfte und Konzentration lassen nach. Keller altert schnell.
Man mag meinen, dass ihm selbst das Lachen abhanden gekommen sei. Der Roman wirkt sehr steif. Das Romänchen könnte „wegen zu großer Aktualität als Pamphlet“ angesehen werden (so Keller gegenüber Heyse am 1. Juni 1882), bleibt vorerst liegen. Wie zu Beginn der Karriere quält er sich durch die Arbeit, hätt’ sie längst aufgegeben, wäre sie nicht bereits „annonciert“ und letztlich lohne es sich zu zeigen, dass keine Staatsform gegen allgemeines Übel schütze, so dass zu sagen sei „voila`, c’est chez nous comme partout“ (so an Julius Rodenberg Anfang August 1885). Elf Jahre zuvor hatte er jedoch seine Arbeitsweise gegenüber dem Literaturkritiker Emil Kuh wie folgt beschrieben: „Meine Faulheit, von der Sie nachsichtig schrieben, ist eine ganz seltsame pathologische Arbeitsscheu in puncto litteris. Wenn ich darin [daran] bin, so kann ich große Stücke hintereinander wegarbeiten bei Tag und Nacht. Aber ich scheue mich oft wochen-, monate-, jahrelang, den angefangenen Bogen aus seinem Verstecke hervorzunehmen und auf den Tisch zu legen; es ist als ob ich diese einfache erste Manipulation fürchtete, ärgere mich darüber und kann doch nicht anders. Währenddessen geht aber das Sinnen und Spintisieren immer fort, und indem ich Neues aushecke, kann ich genau am abgebrochenen Satz des Alten fortfahren, wenn das Papier nur erst glücklich wieder da liegt.“ (04.214 ff., hier 215)
Der Zeitroman Martin Salander wirkt moralisierend, der Humor ist verloren, während im Vorläufer – ich sehe darin Das verlorene Lachen – der gewohnte Humor dominiert, gibt’s hier nichts mehr zu lachen. Der Anstand des immer wieder betrogenen Protagonisten geht einem – ich erlaub’s mir zur Freude der Modernen – auf den Sack – wie wahrscheinlich hier diese bescheidenen Ausführungen dem Leser. Gleichwohl: wenngleich die Sprache betulich daherkömmt, das Romänchen bietet trotz seiner Schilderung aktueller eidgenössischer Probleme anregende Lektüre, so aktuell für heute, als wäre Gottfried nun ein Mr. Cellar, veröffentlichte für Bertelsmann in New York mit allem ermüdendem Pi-Pa-Po.

VII Odysseus oder Parzival? –
Odysseus, Parzival und Eulenspiegel!

Kellers Werk erzählt von seiner Heimkehr, nicht nur im Salander, den Bichsel zum Anlass eines wundersam-wundervollen Vortrages verwendet (07.1 ff.). Die Geschichte der Heimkehr soll die Verspätung entschuldigen, welche ohne die lange Reise - und wäre es nur zum Zigarettenholen gewesen –gar nicht erst entstanden wäre. Müssten wir denn nicht den „Itaker“ Ulysses glücklich schätzen, wenn wir um die Tragödie eines andern wissen, der schnurstracks von der gleichen abenteurlich gemeinsamen Reise nach Hause kam? Der fand sein Eheweib aber mit einem andern verbunden. Es kam, wie’s jeder Leser eines durchschnittlichen Romans erwarten darf, im Hause der Atriden zum handfesten Ehekrach, der dadurch noch gesteigert wurde, dass der heimgekommene Hausherr Cassandra mitbrachte, überzeugt davon, ein Anrecht auf diese Kriegsbeute zu haben. Die Folgen des antiken Rosenkrieges sind bekannt. Da nimmt man gerne einen Umweg und wartet zumindest das verflixte siebente Jahr ab in der Hoffnung, dass sich das Problem von selbst löse: eben die illegitime Beziehung. Man geht derweil selbst Beziehungskisten ein, tanzt sieben Jahre den Calypso mit Najaden und Nereiden, lässt sich auch gern einige Zeit becircen.
Warum erinner ich daran? Weil der geneigte und gebildete Leser ruft: Keller kann kein Odysseus sein, da fehlt zuviel in seinem Ithaka. Penelope wartet nicht auf ihn, kein Telemach sehnt sich nach dem Vater, den er sucht, und dessen Vater ist früh abhanden gekommen, heiße er nun wie der Korinthenkacker Sisyphos oder wie der als Bruder Ophelias auferstandne Laertes. Doch gemach, geehrtes Publikum! Was spräche überhaupt für die Ehe nach der frühen Erfahrung des Todes des schmerzlich vermissten leiblichen Vaters und der gescheiterten zweiten Ehe der Mutter, die der kleine Gottfried eifersüchtig als Hurerei wertet? Oder ist Keller nicht nur Odysseus, sondern eher auch der reine Tor wie Parzival, der anderen großen reisenden Gestalt Europas auf der Suche nach dem Gral und Montsalvage?

Ich meine, Keller ist Odysseus wie auch Parzival. Dreierlei geschieht nämlich: Zum einen sucht Gottfried Keller eine Vaterfigur, findet aber aus einfachsten Anfängen heraus den Übervater, ganz wie Parzival, um aber im Gegensatz zum Gottessucher zwotens den Glauben mitsamt der Unsterblichkeit wenn nicht zu verlieren, so doch zu relativieren, dass er irreligiös wird. Denn wie Odysseus, der nackt und bloß an Land gespült wird und bei den Phäaken sein Selbstbewusstsein wiederfindet, um endlich heimzukehren und das Heim zu kehren, so wie also dieser Meister der Anpassung an sich ändernde Bedingungen, ist der moderne und rational geleitete Mensch auf sich allein gestellt auf seiner Reise durch die Dialektik der Aufklärung, wo selbst ein einzelner und darum einsamer Gott incl. Personal und dem zugehörigen institutionalisierten Glauben nur störend wirken kann. Drittens haben Kirche und Staat oder sonst irgendein Vertragsrecht in einer ehrlichen Beziehung nichts verloren oder zu suchen, denn das althochdeutsche êwa, die Ehe im Neuhochdeutschen, bedeutet ursprünglich das Gesetz und wird zur (zum) Ehe(vertrag) im heutigen Sinne eingeengt. Dabei meinte êwa zugleich Ewigkeit i. S. eines seit undenklicher Zeit gültigen Rechts (wovon im Niederländischen eeuw als Jahrhundert/Zeitalter noch etwas anklingt). In diesem Sinne ist es dann dem Begriff des Humanen i. S. Kellers näher als die moderne Ehe.
Doppeltes geschieht da dem grünen Heinrich: sowohl Judith, jene unglückliche Liebe und Nixe, die zu Anfang des Grünen Heinrich den Kontrast zu Anna bildet, kehrt aus dem fernen Amerika heim und meldet sich wieder als auch Marie Melos. Wie schon gezeigt halten die Briefpartner bei aller Zuneigung Distanz, „denn es war durchaus nicht wahrscheinlich, daß eine solche Person allein geblieben sei“, und doch ist es so, dass „Jugendglück, Heimat, Zufriedenheit, alles“ scheint dem beamteten Heinrich Lee „mit Judith zurückgekehrt“ (03.798). Geben wir es zu: was könnte den beiden die Ehe geben? Nichts, was sie nicht auch ohne Recht und Gesetz erreichen können. Die Lösung des Problems lässt Keller – wie schon beim Hadlaub mit dem Falkenlied – die Frau aussprechen, doch vorweg gilt es noch zu zeigen, dass er einmal anderes gedacht.

Erinnert sei an die ausführliche Traumwelt, die Heinrich Lee mit einem Goldfuchs durchstreift. Kurz nachdem er dort nämlich den Wirtschaftskreislauf verlässt und seine erste Liebe, die vierzehnjährige Anna „erlebt“, träumt ihm im Zuge seines plötzlichen Reichtums von schwebenden Wesen. Auf die Frage, was da wäre, erfährt Heinrich: „ ‚Das sind,’ sagte das lustige Vogelthier [von Goldfuchs, dem Flügel gewachsen sind], ‚die heirathslustigen Jungfernmädchen dieses Landes, unter denen Du Dir als wohlbestellter Mann füglich eine Frau aussuchen kannst.’ Heinrich blickte unentschlossen in beide Kronen hinüber, wie der Esel des Buridan zwischen den Heuschobern, und flog endlich mit seinem Thiere in die eine der Kronen, so daß er wie eine Reiterstatue plötzlich in einem Kranze ältlicher Mädchen stand, welche anständig und gemessen um ihn herum tanzten und sangen: ‚Wir sind diejenigen heirathsfähigen Frauenzimmer, welche gerade mannbar waren, als Du in die Fremde gereiset bist, und welche seitdem alte Jungfern geworden! kennst Du uns noch? Unten in der Kirche wird getraut!’
‚Teufel noch einmal,’ sagte Heinrich, ‚wie die Zeit vergeht! Wer hätte das gedacht! Ich will aber sehen, was das da drüben für welche sind!’
Er flog in die andere Krone und sah sich unter eine Schaar siebzehn- bis achtzehnjähriger Jüngferchen versetzt, welche die Locken schüttelnd muthwillig und doch zartverschämt um ihn tanzten, ihn dabei mit offenen Rehaugen ansahen und sangen: ‚Wir sind diejenigen heirathsfähigen Frauenzimmer, welche noch mit der Puppe spielten, als Du verreiset bist! Kennst Du uns noch?’
‚Alle Himmel!’ rief Heinrich, ‚wie die Zeit vergeht! Wer hätte das gedacht? Eure Gesichtchen sind aber lieblichere Zeitsonnenuhren, als die da drüben! Welche Zeit ist es, Du kleine Schlanke?’
‚Es ist Heirathenszeit,’ lachte hold die Angeredete, und Heinrich rief hocherfreut und lachend, indem er ihr das zarte Kinn streichelte: ‚Warte Du einen Augenblick, ich will nur erst meine Mutter aufsuchen und mit ihr Absprache nehmen!’“(05.GHA 4.07.255 ff.)
Aber seine Abwendung vom Gesetz lässt Keller – wie schon beim Hadlaub – die Frau aussprechen:,,‚... nun könnten wir hier auch das Glück von Gottes Tisch nehmen, was die Welt das Glück nennt, und uns zu Mann und Frau machen! Aber wir wollen uns nicht krönen’“ und – so wäre hinzuzufügen – als Republikaner jeder „‚Krone entsagen und dafür des Glückes um so sicherer bleiben, das uns jetzt, in diesem Augenblicke, beseligt’“ (03.805), denn Judith fühlt, dass auch er glücklich ist. Sie habe gelobt: „‚Nein, du willst sein Leben nicht zu deinem Glücke mißbrauchen! Er soll frei sein und sich durch die Lebenstrübheit nicht noch mehr abziehen lassen, als es schon geschehen ist!’
Ich schüttelte aber den Kopf und sagte betroffen: ,Ich will nicht unbescheiden sein, Judith, allein ich habe es mir doch anders gedacht. Wenn du mir in der Tat gut bist, willst du nicht lieber bei mir leben, als immer so einsam sein, so allein stehen in der Welt?’
‚Wo du bist, da werde ich auch sein, solange du allein bleibst; du bist noch jung, Heinrich, und kennst dich selber nicht. Aber abgesehen hievon, glaube mir, solange wir so sind wie jetzt in dieser Stunde, wissen wir, was wir haben, und sind glücklich! Was wollen wir denn mehr?’
Ich begann zu fühlen und zu verstehen, was sie bewegte; sie mochte zu viel von der Welt gesehen und geschmeckt haben, um einem vollen und ganzen Glücke zu vertrauen. Ich sah ihr ins Gesicht und strich ihr weiches braunes Haar zurück, indem ich rief: ‚Ich habe ja gesagt, ich sei dein, und will es auf jede Art sein, wie du es willst!’
Sie schloß mich heftig in die Arme und an ihre gute Brust; auch küßte sie mich zärtlich auf den Mund und sagte leis: ‚Nun ist der Bund besiegelt! Aber für dich nur auf Zusehen hin, du bist und sollst sein ein freier Mann in jedem Sinne!’
Und so ist es auch zwischen uns geblieben. Noch zwanzig Jahre hat sie gelebt … , und bei allem ist sie mir nahe gewesen. Wenn ich den Wohnort verändern mußte, so ist sie mir das eine Mal gefolgt, das andere nicht, aber sooft wir wollten, haben wir uns gesehen. Wir sahen uns zuweilen täglich, zuweilen wöchentlich, zuweilen des Jahres nur einmal, wie es der Lauf der Welt mit sich brachte; aber jedesmal, wo wir uns sahen, ob täglich oder nur jährlich, war es uns ein Fest. Und wenn ich in Zweifel und Zwiespalt geriet, brauchte ich nur ihre Stimme zu hören, um die Stimme der Natur selbst zu vernehmen“ (03.806 f.) und der Mutter. Denn das ist geschehen mit der zweiten Fassung mit ihren inhaltlichen Änderungen: Die Mutter stirbt und nimmt mit dem gefundenen Schreiben Schuld am Scheitern des Sohnes auf sich. Der Sohn stirbt ihr nun nicht mehr nach, sondern findet gar sein Amt und seine Berufung in der heimkehrenden Judith, die auch darum nicht geheiratet werden darf, dass Judith dem Heinrich Lee die Mutter ersetzt – ein Abbild der Jugend im Alter, aber gänzlich ohne Schuldgefühl! Das Gewissen ist rein. Im realen Leben hat die Mutter ja den Beginn der Staatskarriere erleben dürfen.
Heinrich Lee, nun kein grüner Junge mehr, „hatte ihr [Judith]einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend“, eben den Grünen Heinrich, „geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wieder erhalten und den andern Teil dazu gefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.“ (03.807)
Mit der Heimkehr Judith-Maries erlebt Heinrich-Gottfried ein déjà-vu, denn in dem Herbst, da Anna gestorben, will Heinrich auch für immer Abschied von Judith nehmen, vielleicht von der Welt, wozu der manisch Depressive neigt. Judith kann zwar eine Trennung nicht verhindern, wohl aber die irreversible Tat. Heinrich wird zum Militärdienst, sie für lange Zeit nach Übersee gehen. (vgl. 03.415 ff)

Dass die Vatersuche anders verläuft, weiß der wachsame Leser bereits. Doch der Weg dahin ist steinig, wenngleich auch zunächst eher komisch, führt von den einfachsten Formen des wilden und magischen, da frühen Denkens, in komplizierte Irrgärten, ohne dass man den Weg mit Onto- und Phylogenese gleichsetzen sollte. Dieser Weg lässt sich nachvollziehen, denn schon vor der Einschulung weiß der kleine Heinrich vom Kirchendach mit dem nadelspitzen Türmchen (‚Seldwyla!’ = Heimatort Heinrichs, identifiziert der geneigte Leser) „in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: ‚Was ist Gott? ist es ein Mann?’ und sie antwortete: ‚Nein, Gott ist ein Geist.’ Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Türmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei. Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten, welche ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte. Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam, in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich dasitzend abgebildet war, ging meine Vorstellung von Gott allmählich auf diesen über, ohne daß ich jedoch, so wenig wie vom Hahne, je eine Meinung darüber äußerte. Es waren ganz innerliche Anschauungen, und nur wenn der Name Gottes genannt wurde, so schwebte mir erst der glänzende Vogel und nachher der schöne Tiger vor“, bis der kleine Heinrich die magisch-animalische Phase verlässt. „Allmählich mischte sich zwar nicht ein klareres Bild, aber ein edlerer Begriff in meine Gedanken. Ich betete mein Unser Vater, dessen Einteilung und Abrundung mir das Einprägen leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Übung gemacht hatte, mit großer Meisterschaft und vielen Variationen, indem ich diesen oder jenen Teil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann rückwärts betete und mit den Anfangsworten ‚Vater unser’ schloß. Aus diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen, daß Gott ein Wesen sein müsse, mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort sprechen ließe, eher als mit jenen Tiergestalten“ (03.26 f.), Gott und Glaube werden vermenschlicht und ritualisiert, doch zugleich mit relativer Gleichgültigkeit bedacht. „So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem höchsten Wesen, ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit, kein Recht und kein Unrecht und ließ Gott herzlich einen guten Mann sein, wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde.
Ich fand aber bald Veranlassung, in ein bewußteres Verhältnis zu ihm zu treten und zum erstenmal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben, als ich, sechs Jahre alt, mich eines schönen Morgens in einen melancholischen Saal versetzt sah, in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und Mädchen unterrichtet wurden. In einem Halbkreise mit sieben anderen Kindern um eine Tafel herum stehend, auf welcher große Buchstaben prangten, lauschte ich sehr still und gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten. Da wir sämtlich Neulinge waren, so wollte der Oberschulmeister … die erste Leitung selbst für eine Stunde besorgen und forderte uns auf, abwechselnd die sonderbaren Figuren zu benennen. Ich hatte schon seit geraumer Zeit einmal das Wort Pumpernickel gehört, und es gefiel mir ungemein, nur wußte ich durchaus keine leibliche Form dafür zu finden, und niemand konnte mir eine Auskunft geben, weil die Sache, welche diesen Namen führt, einige hundert Stunden weit zu Hause war. Nun sollte ich plötzlich das große P benennen, welches mir in seinem ganzen Wesen äußerst wunderlich und humoristisch vorkam, und es ward in meiner Seele klar, und ich sprach mit Entschiedenheit: ‚Dieses ist der Pumpernickel!’ Ich hegte keinen Zweifel, weder an der Welt, noch an mir, noch am Pumpernickel, und war froh in meinem Herzen, aber je ernsthafter und selbstzufriedener mein Gesicht in diesem Augenblicke war, desto mehr hielt mich der Schulmeister für einen durchtriebenen und frechen Schalk, dessen Bosheit sofort gebrochen werden müßte, und er fiel über mich her und schüttelte mich eine Minute lang so wild an den Haaren, daß mir Hören und Sehen verging. Dieser Überfall kam mir seiner Fremdheit und Neuheit wegen wie ein böser Traum vor, und ich machte augenblicklich nichts daraus, als daß ich, stumm und tränenlos, aber voll innerer Beklemmung den Mann ansah. Die Kinder haben mich von jeher geärgert, welche, wenn sie gefehlt haben oder sonst in Konflikt geraten, bei der leisesten Berührung oder schon bei deren Annäherung in ein abscheuliches Zetergeschrei ausbrechen, das einem die Ohren zerreißt; und wenn solche Kinder gerade dieses Geschreies wegen oft doppelte Schläge bekommen, so litt ich am entgegengesetzten Extrem und verschlimmerte meine Händel stets dadurch, daß ich nicht imstande war, eine einzige Träne zu vergießen vor meinen Richtern. Als daher der Schulmeister sah, daß ich nur erstaunt nach meinem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch einmal über mich her, um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gründlich auszutreiben. Ich litt nun wirklich; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen, rief ich flehentlich in meiner Angst: ‚Sondern erlöse uns von dem Bösen!’ und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir so oft gesagt hatte, daß er dem Bedrängten ein hilfreicher Vater sei. Für den guten Lehrer aber war dies zu stark; der Fall war nun zum außerordentlichen Ereignisse gediehen, und er ließ mich daher stracks los, mit aufrichtiger Bekümmernis“ (03.28 f.), und selbst wenn es dem Beobachter wie die Rückkehr des Eulenspiegels vorkommen mag, Schulmeisterei und bloßer Glaube gerinnen dem Jungen zum Albtraum, nicht aber seine Religiosität, denn „im Verlaufe der ersten Schuljahre fand ich nun häufiger Gelegenheit, meinen Verkehr mit Gott zu erweitern, da die kleinen Erlebnisse sich vermehrten. Ich hatte mich bald in den Wettlauf ergeben und tat, wie die andern Kinder, was ich nicht lassen konnte. Dadurch war ich abwechselnd zufrieden und geriet in Bedrängnis, wie es das Wohlverhalten oder die Vernachlässigung meiner Pflichten nebst allerhand kindischem Unfuge mit sich brachten. In jeder üblen Lag aber rief ich Gott an und betete in meinem Innern in wenigen wohlgesetzten Worten, wenn die Krisis zu reifen begann, um eine günstige Entscheidung und um Rettung aus der Gefahr, und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich immer entweder das Unmögliche oder das Ungerechte verlangte. Oft war es der Fall, daß meine Sünden übersehen wurden; und alsdann ließ ich es nicht an herzlichen Dankgebeten aus dem Stegreife fehlen, welche um so vergnüglicher waren, als mir der Sinn für die Verdientheit der Strafe so lange verschlossen blieb, bis ich bewußte Fehler beging. So bestand der Stoff meiner Anrufungen aus der wunderlichsten Mischung; das eine Mal bat ich um die gelungene Probe eines schwierigen Rechenexempels, oder daß der Vorgesetzte für einen Tintenklecks in meinem Hefte mit Blindheit geschlagen werde; das andere Mal, ein zweiter Josua, um Stillstand der Sonne, wenn ich mich zu verspäten drohte, oder auch um Erlangung eines fremden leckeren Backwerkes. ...
Eines Tages wurde ich zur Strafe über die Mittagszeit in der Schule zurückbehalten und eingeschlossen, so daß ich erst auf den Abend zu essen bekam. Das war das erste Mal, wo ich den Hunger kennen und zugleich die Ermahnungen meiner Mutter verstehen lernte, welche mir Gott vorzüglich als den Erhalter und Ernährer jeglicher Kreatur anpries und als den Schöpfer unseres schmackhaften Hausbrotes darstellte, der Bitte gemäß: Gib uns heut unser tägliches Brot!“ (03.31 f.) … „Ich kann nicht sagen, daß, nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt eines Ernährers und Aushelfers für mich gewonnen hatte, er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Empfindungen oder tiefgehenderen Gemütsfreuden erfüllte, zumal er aus dem glänzenden Gewande des Abendrotes sich verloren, um in viel späterer Zeit es wieder aufzunehmen. Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach, so fuhr sie fort, vorzüglich im Alten Testamente zu verweilen, …, bei der Witwe Ölkrug und dergleichen oder ausnahmsweise bei der Speisung der fünftausend Männer im Neuen Testamente. Alle diese Ereignisse gefielen ihr ausnehmend wohl, und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor, während letztere mehr einem pflichtgemäß frommen Erzählen Raum gab, wenn das bewegte und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde. Sosehr ich daher den lieben Gott respektierte und in allen Fällen bedachte, so blieben mir doch die Phantasie und das Gemüt leer, solange ich keine neue Nahrung schöpfte, außer den bisherigen Erfahrungen; und wenn ich keine Veranlassung hatte, irgendeinen angelegentlichen Gebetvortrag abzufassen, so war mir Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person, die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbarkeiten reizte, zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor. So gereichte es mir eine Zeitlang zu nicht geringer Qual, daß ich eine krankhafte Versuchung empfand, Gott derbe Spottnamen, selbst Schimpfworte anzuhängen, wie ich sie etwa auf der Straße gehört hatte. Mit einer Art behaglicher und mutwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung, bis ich nach langem Kampfe nicht mehr widerstehen konnte und im vollen Bewußtsein der Blasphemie eines jener Worte hastig ausstieß, mit der unmittelbaren Versicherung, daß es nicht gelten solle, und mit der Bitte um Verzeihung; dann konnte ich nicht umhin, es noch einmal zu wiederholen, wie auch die reuevolle Genugtuung, und so fort, bis die seltsame Aufregung vorüber war. Vorzüglich vor dem Einschlafen pflegte mich diese Erscheinung zu quälen, obgleich sie nachher keine Unruhe oder Uneinigkeit in mir zurückließ. Ich habe später gedacht, daß es wohl ein unbewußtes Experiment mit der Allgegenwart Gottes gewesen sei, welche ebenfalls anfing, mich zu beschäftigen, und daß damals das dunkle Gefühl in mir lebendig geworden sei: Vor Gott könne keine Minute unseres inneren Lebens verborgen und wirklich strafbar sein, sofern er das lebendige Wesen für uns sei, für das wir ihn halten.“ (03.46 f.)
Aber der organisierte und institutionalisierte Glaube macht dem jungen Heinrich zu schaffen, insbesondere Regeln und Regelwerk: „Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden, während deren wir uns damit beschäftigen mußten. Ein kleines Buch voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen, mußte während der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Widerkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden. Harte Worte und harte Bußen waren die Aufklärungen, beklemmende Angst, keines der dunklen Worte zu vergessen, die Anfeuerung zu diesem religiösen Leben. Einzelne PsalmsteIlen und Liederstrophen, ebenfalls aus allem Zusammenhange gezerrt und deshalb unlieber einzuprägen als ein ganzes organisches Gedicht, verwirrten das Gedächtnis, anstatt es zu üben. Wenn man diese, gegen die verwilderte Sündhaftigkeit ausgewachsener Menschen gerichteten, vierschrötigen nackten Gebote neben den übersinnlichen und unfaßlichen Glaubenssätzen gereiht sah, so fühlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Entwicklung, sondern den schwülen Hauch eines rohen und starren Barbarentums, wo es einzig darauf ankommt, den jungen zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwangbleiche so früh als möglich für den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen. Die Pein dieser Disziplin erreichte ihren Gipfel, wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich kam, am Sonntage in der Kirche, vor der ganzen Gemeinde, mit lauter vernehmlicher Stimme das wunderliche Zwiegespräch mit dem Geistlichen zu führen, welcher in weiter Entfernung von mir auf der Kanzel stand, und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte. Viele Kinder schöpften zwar gerade aus dieser Sitte die Kunst, mit Salbung und Zungengeläufigkeit, wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken, und der Tag geriet ihnen immer zu einem Triumph- und Freudentag. Gerade bei diesen erwies es sich aber jederzeit, daß alles eitel Schall und Rauch gewesen. Es gibt geborene Protestanten, und ich möchte mich zu diesen zählen, weil nicht ein Mangel an religiösem Sinne, sondern, freilich mir unbewußt, ein letztes feines Räuchlein verschollener Scheiterhaufen, durch die hallende Kirche schwebend, mir den Aufenthalt widerlich machte, wenn die eintönigen Gewaltsätze hin und her geworfen wurden. Nicht als ob ich mir einbilden wollte, ein scharfsinnig polemisches Wunderkind gewesen zu sein; sondern es war einzig Sache des angeborenen Gefühles.
So wurde ich gewaltsam auf meinen Privatverkehr mit Gott zurückgedrängt, und ich beharrte auf meiner Sitte, meine Gebete und Verhandlungen selbst zu bestreiten nach meinem Bedürfnisse, und sie auch in Ansehung der Zeit nur dann anzuwenden, wenn ich ihrer bedurfte. Einzig das Vaterunser wurde morgens und abends regelmäßig, aber lautlos gebetet.
Aber auch aus meinem inneren und äußeren Spiel- und Lustleben wurde der liebe Gott verdrängt ..“ (03.77 f.), dass Elemente einer Ästhetik anklingen: „Für lange Jahre wurde mir der Gedanke Gottes zu einer prosaischen Vorstellung, in dem Sinne, wie die schlechten Poeten das wirkliche Leben für prosaisch halten im Gegensatze zu dem erfundenen und fabelhaften. Das Leben, die sinnliche Natur waren merkwürdigerweise mein Märchen, in dem ich meine Freude suchte, während Gott für mich zu der notwendigen, aber nüchternen und schulmeisterlichen Wirklichkeit wurde, zu welcher ich nur zurückkehrte wie ein müd getummelter, hungriger Knabe zur alltäglichen Haussuppe, und mit der ich so schnell fertig zu werden suchte als möglich. Solches bewirkte die Art und Weise, wie die Religion und meine Kinderzeit zusammengekuppelt wurden. Wenigstens kann ich mich trotzdem, daß jene ganze Zeit wie ein heller Spiegel vor mir liegt, nicht entsinnen, daß ich vor dem Erwachen der Vernunft je einen Andachtschauer, wenn auch noch so kindlich, empfunden hätte.
Ich betrachte diese halb gottlose Zeit gerade der weichsten und bildsamsten Jahre, welche deren wohl sieben bis achte andauerte, als eine kalte öde Strecke und weise die Schuld einzig auf den Katechismus und seine Handhaber.
Denn wenn ich recht scharf in jenen vergangenen dämmerhaften Seelenzustand zurückzudringen versuche, so entdecke ich noch wohl, daß ich den Gott meiner Kindheit nicht liebte, sondern nur brauchte. Jetzt erst wird mir der trübe kalte Schleier ganz deutlich, welcher über jener Zeit liegt und mir dazumal die Hälfte des Lebens verhüllte, mich blöde und scheu machte, daß ich die Leute nicht verstand und mich selbst nicht zu erkennen geben konnte, so daß die Erzieher vor mir standen als vor einem Rätsel und sagten: ‚Dieses ist ein seltsames Gewächs, man weiß nicht viel damit anzufangen!’“ (03.78 f.) So wie die Lehre aus Schule und religiöser Unterweisung den Gedanken eines Gottes prosaisch erscheinen lassen, weil die vermittelnde Phantasie nicht zum Recht komme, so sehr Gott der Mutter Gott Vorsehung schlechthin sei, (16.89 f.) dem grünen Heinrich aber kommt das täglich’ Brot selbstverständlich von der Mutter. Bis noch vor der Konfirmation mit einem neuen zwoten Schulmeister der Name Feuerbach in Heinrichs Leben drängt. Denn der blutjunge Lehrer erzählt: „ …; wenn Feuerbach sagte: ‚Gott ist nichts anderes, als was der Mensch aus seinem eigenen Wesen und nach seinen Bedürfnissen abgezogen und zu Gott gemacht hat, folglich ist niemand als der Mensch dieser Gott selbst’, so versetzte sich der Philosoph sogleich in einen mystischen Nimbus und betrachtete sich selbst mit anbetender Verehrung, so daß bei ihm, indem er die religiöse Bedeutung des Wortes immer beibehielt, zu einer komischen Blasphemie wurde, was im Buche die strengste Entsagung und Selbstbeschränkung war. Am drolligsten nahm er sich jedoch aus in seiner Anwendung der alten Schulen, deren Lebensregeln er in seinem äußeren Behaben vereinigte“ (03.260) und finden sich im „Krieg gegen Pfaffen und Autoritätsleute jeder Art; als ich aber den lieben Gott und die Unsterblichkeit aufgeben sollte und der Philosoph dieses mit höchst unbefangenen Auseinandersetzungen verlangte, da lachte ich ebenso unbefangen, und es kam mir nicht einmal in den Sinn, die Sache ernstlich zu untersuchen. Ich sagte, am Ende wäre die Hauptformel einer jeden Philosophie, und sei diese noch so logisch, eine ebenso große und greuliche Mystik wie die Lehre von der Dreieinigkeit, und ich wollte von gar nichts wissen, als von meiner persönlichen angebornen Überzeugung, ohne mir von irgendeinem Sterblichen etwas dazwischen reden zu lassen. Außerdem, daß ich nicht wußte, was ich anfangen sollte ohne Gott, und der Meinung war, daß ich einer Vorsehung im Leben noch sehr benötigt sein würde, band mich eine Art künstlerischen Fühlens an diese Überzeugung. Ich glaubte, daß alles, was Menschen zuwege bringen, seine Bedeutung nur dadurch habe, daß sie es zuwege zu bringen vermochten, und daß es ein Werk der Vernunft und des freien Willens sei; deshalb konnte mir die Natur, an die ich gewiesen war, auch nur einen Wert haben, wenn ich sie als das Werk eines mir gleichfühlenden und voraussehenden Geistes betrachten durfte. Ein sonnedurchschossener Buchengrund konnte nur dann ein Gegenstand der Bewunderung sein, wenn ich ihn mir durch ein ähnliches Gefühl der Freude und der Schönheit geschaffen dachte. ‚Sehen Sie diese Blume’, sagte ich zum Philosophen, ‚es ist gar nicht möglich, daß diese Symmetrie mit diesen abgezählten Punkten und Zacken, diese weiß und roten Streifchen, dies goldne Krönchen in der Mitte nicht vorher gedacht seien! Und wie schön und lieblich ist sie, ein Gedicht, ein Kunstwerk, ein Witz, ein bunter und duftender Scherz. So was macht sich nicht selbst!’“ (03.262) Heinrich übernimmt, trotz seiner aufgekommenen Feindlichkeit gegen das Christentum, vieles vom jungen Schulmeister. Dessen „Bildungskreis umfaßte hauptsächlich das christlich moralische Gebiet in einem halb aufgeklärten und halb mystisch andächtigen Sinne, wo der Grundsatz der Duldung und Liebe, gegründet auf Selbsterkenntnis und auf das Studium des Wesens Gottes und der Welt, zu oberst stand.“ (03.274) Das Christentum ist reizlos und nüchtern, weshalb Heinrich schon lange nicht mehr in die Kirche geht, es sei denn, er wär an der Reihe, in der Kirche aufzutreten (s. o.), was ihm unerträglich und auch nur der Mutter wegen praktiziert wird. Kirche und religiöse Unterweisung sind ihm ein Gräuel und hasst es, „unter dem eintönigen Befehl eines geistlichen Ministers, mit dem ich sonst auf der Welt nichts zu schaffen hatte“ (03.278) zu stehen.
Am Weihnachtsmorgen nach der Konfirmation besucht er ein letztes Mal die Kirche und selbst wenn er gleich säße, so stünd’ er dieses eine Mal für seinen Vater: „Ich nahm zum ersten- und letzten Mal den Männerstuhl in Beschlag, welcher zu unserem Hause gehörte und dessen Nummer mir die Mutter in ihrem häuslichern Sinne eingeprägt hatte.
Er war seit dem Tode des Vaters … leer geblieben, oder vielmehr hatte sich ein armes Männchen, das sich keines Grundbesitzes erfreute, darin angesiedelt. Als er herankam und mich in dem Gehäuse vorfand, ersuchte er mich mit kirchlicher Freundlichkeit, ‚seinen Ort’ räumen zu wollen, und fügte belehrend hinzu, in diesem Reviere seien alles eigengehörige Plätze. Ich hätte als ein grüner Junge füglich dem bejahrten Männchen Platz machen und mir eine andere Stelle suchen können; allein dieser Geist des Eigentums und des Wegdrängens mitten im Herzen christlicher Kirche reizte meine kritische Laune; auch wollte ich den frommen Kirchgänger für seine gemütliche Anmaßung bestrafen, und endlich tat ich dieses nur in dem Bewußtsein, daß der Abgewiesene alsobald wieder und für immer seinen gewohnten Platz einnehmen könne, und dieser Gedanke machte mir das größte Vergnügen. Als ich ihn meinerseits auch belehrt und ihn ganz verblüfft und traurig eine entfernte Stelle unter den … Besitzlosen aufsuchen sah, nahm ich mir vor, ihm am anderen Tage anzudeuten, daß er sich immerhin meines Stuhles bedienen solle, indem ich denselben nicht brauche. Einmal aber wollte ich darin sitzen und stehen, wie es mein Vater getan. Derselbe besuchte an allen Festtagen die Kirche, denn alle hohen Feste erfüllten ihn mit heiterer Freude und tapferem Mute, indem er den großen und guten Geist, welchen er in aller Welt und Natur sich erfüllen sah, alsdann besonders fühlte und verehrte. … Diese Vorliebe für Festtage hatte sich auf mich vererbt, und wenn ich an einem Pfingstmorgen auf einem Berge stehe in der kristallklaren Luft, so ist mir das Glockengeläute in der fernen Tiefe die allerschönste Musik, und ich habe schon oft darüber spintisiert, durch welchen Gebrauch bei einer allfälligen Abschaffung des Kirchentums das schöne Geläute wohl erhalten werden dürfte. Es wollte mir jedoch nichts einfallen, was nicht töricht und gemacht ausgesehen hätte, und ich fand zuletzt immer, daß der sehnsüchtige Reiz der Glockentöne gerade in dem jetzigen Zustande bestehe, wo sie fern aus der blauen Tiefe herüberklangen und mir sagten, daß dort das Volk in alten gläubigen Erinnerungen versammelt saß. In meiner Freiheit ehrte ich dann diese Erinnerungen wie diejenigen der Kindheit, und eben dadurch, daß ich von ihnen geschieden war, wurden mir die Glocken, die so viele Jahrhunderte in dem alten schönen Lande klangen, wehmütig ergreifend. Ich empfand, daß man nichts ‚machen’ kann, und dass die Vergänglichkeit, der ewige Wandel alles Irdischen schon genugsam für poetisch sehnsüchtigen Reiz sorgen“, (03.290 f.) was mancher Muezzin im Zeichen eines aktuellen Streites nicht nur ironisierend vermerken könnte. „Der Freiheitssinn meines Vaters in religiöser Hinsicht war vorzüglich gegen die Übergriffe des Ultramontanismus und gegen die Unduldsamkeit und Verknöcherung reformierter Orthodoxen gerichtet, gegen absichtliche Verdummung und Heuchelei jeder Art, und das Wort Pfaff war bei ihm daher öfter zu hören. Würdige Geistliche ehrte er aber und freute sich, ihnen Ergebenheit zu zeigen, und wenn es womöglich ein erzkatholischer, aber ehrenwerter Priester war, welchem er Ehrerbietung beweisen konnte, so machte ihm dies um so größeres Vergnügen, gerade weil er sich im Schoße der Zwinglischen Kirche sehr geborgen fühlte.
Das Bild des humanen und freien Reformators, der auf dem Schlachtfelde gefallen, war meinem Vater ein geliebter sicherer Führer und Bürge. Ich aber stand nun auf einem anderen Boden und fühlte wohl, daß ich bei aller Verehrung für den Reformator und Helden doch nicht eines Glaubens mit meinem Vater sein würde, während ich seiner vollkommenen Duldsamkeit und Achtung für die Unabhängigkeit meiner Überzeugung gewiß war. Dieses friedliche Ausscheiden in Glaubenssachen zwischen Vater und Sohn, welches ich arglos voraussetzte, feierte ich nun in dem Kirchenstuhle, indem ich mir den Vater noch lebend vorstellte und ein geistiges Gespräch mit ihm führte; und als die Gemeinde sein ehemaliges Lieblings- und Weihnachtslied: ‚Dies ist der Tag, den Gott gemacht!’ anstimmte, sang ich es für meinen Vater laut und froh mit, …“ (03.292)
Keller versetzt im Grünen Heinrich die Erfahrung Feuerbachs nicht ins ferne und fremde Heidelberg, sondern verschiebt es raumzeitlich in seine Heimat und zu Heinrich Lees Konfirmationszeit. Ist die Konfirmation zunächst nichts anderes als die protestantische Erscheinung der Firmung, der confirmatio, so gilt sie doch nicht als Sakrament. Soll jene nämlich die Taufe ergänzen, auf dass die sich entfalte, und dem Firmling die Fülle des Geistes verleihen, so schließt diese den Unterricht ab, in dem der Jugendliche Grundlagen des Glaubens erwirbt (s. o., Stichwort Katechismus), um fürs Abendmahl, einem symbolischen Kannibalismus mit schlechtem Brot und noch schlechterem Wein, wenn nicht gar bloßem Traubensaft, zugelassen und somit für mündig erklärt zu werden durch die Gemeinde. Gespendet werden Firmung wie Konfirmation durch mancherlei ritualisierten abergläubischen Firlefanz, was Herkunft und Nähe des Ritus verrät: es ist die Initiation, wenn mit der Pubertät oder der ersten Menstruation junge Leute eine Reifeweihe erleiden, die insofern Übergangsriten von dem einen Lebensabschnitt in den nächsten darstellen. Mit der Erfahrung Feuerbachs und dem Studium zu Heidelberg wird Keller mündig, wächst heraus aus den grünen Stoffen seines Vaters. Wie Rausch und Taumel kommt das Glück des Wissens über den tatsächlich nicht mehr achtzehnjährigen Jüngling Heinrich, sondern fast dreißigjährigen Gottfried, der einmal ein grüner Heinrich gewesen ist, denn „das Suchen nach Wahrheit ist ja immer ohne Arg, unverfänglich und schuldlos; nur in dem Augenblicke, wo es aufhört, fängt die Lüge an bei Christ und Heide. … Wie ein Alp fiel es mir vom Herzen, als ich nun doch noch etwas zu lernen anfing; das Glück des Wissens gehört auch dadurch zum wahren Glücke, daß es einfach und rückhaltlos und, ob es früh oder spät eintritt, immer ganz das ist, was es sein kann; es weiset vorwärts und nicht zurück und läßt über dem unabänderlichen Leben des Gesetzes die eigene Zerbrechlichkeit vergessen“, (03.581) und macht sich zum Propheten Feuerbachs: „In einer Republik, sagte ich, fordere man das Größte und Beste von jedem Bürger, ohne ihm durch den Untergang der Republik zu vergelten, indem man seinen Namen an die Spitze pflanze und ihn zum Fürsten erhebe; ebenso betrachte ich die Welt der Geister als eine Republik, die nur Gott als Protektor über sich habe, dessen Majestät in vollkommener Freiheit das Gesetz heilig hielte, das er gegeben, und diese Freiheit sei auch unsere Freiheit und unsere die seinige! Und wenn mir jede Abendwolke eine Fahne der Unsterblichkeit, so sei mir auch jede Morgenwolke die goldene Fahne der Weltrepublik! ‚In welcher jeder Fähndrich werden kann!’ sagte freundlich lachend der Schulmeister; ich aber behauptete: die moralische Wichtigkeit dieses Unabhängigkeitssinnes scheine mir sehr groß und größer zu sein, als wir es uns vielleicht denken könnten.“ (03.288)
Im Grunde aber ist Keller viel radikaler als Feuerbach: „Glaube! 0 wie unsäglich blöde klingt mich dies Wort an! Es ist die allerverzwickteste Erfindung, welche der Menschengeist machen konnte in einer zugespitzten Lammslaune! Wenn ich des Daseins Gottes und seiner Vorsehung bedürftig und gewiß bin, wie entfernt ist dieses Gefühl von dem, was man Glauben nennt! Wie sicher weiß ich, daß die Vorsehung über mir geht gleich einem Stern am Himmel, der seinen Gang tut, ob ich nach ihm sehe oder nicht nach ihm sehe. Gott weiß, denn er ist allwissend, jeden Gedanken, der in meinem Innern aufsteigt, er kennt den vorigen, aus welchem er hervorging, und sieht den folgenden, in welchen er übergeht; er hat allen meinen Gedanken ihre Bahn gegeben, die ebenso unausweichlich ist wie die Bahn der Sterne und der Weg des Blutes; ich kann also wohl sagen: ich will dies tun oder jenes lassen, ich will gut sein oder mich darüber hinwegsetzen, und ich kann durch Treue und Übung es vollführen; ich kann aber nie sagen: ich will glauben oder nicht glauben; ich will mich einer Wahrheit verschließen oder ich will mich ihr öffnen! Ich kann nicht einmal bitten um Glauben, weil, was ich nicht einsehe, mir niemals wünschbar sein kann, weil ein klares Unglück, das ich begreife, noch immer eine lebendige Luft zum Atmen für mich ist, während eine Seligkeit, die ich nicht begriffe, Stickluft für meine Seele wäre.
Dennoch liegt in dem Worte: Der Glaube macht selig! etwas Tiefes und Wahres, insofern es das Gefühl unschuldiger und naiver Zufriedenheit bezeichnet, welches alle Menschen umfängt, wenn sie gern und leicht an das Gute, Schöne und Merkwürdige glauben, gegenüber denjenigen, welche aus Dünkel und Verbissenheit oder aus Selbstsucht alles in Frage stellen und bemäkeln, was ihnen als gut, schön oder merkwürdig erzählt wird. Wo das religiöse Glauben bei mangelnder Überlegungskraft seinen Grund in jener liebenswürdigen und gutmütigen Leichtgläubigkeit hat, da sagt man mit Recht, es mache selig, und denjenigen Unglauben, welcher aus der anderen Quelle herrührt, kann man billig unselig nennen. Allein mit der eigentlichen dogmatischen Lehre vom Glauben haben beide rein nichts zu tun; denn während es christlich Gläubige gibt, welche in allen anderen Dingen die unangenehmsten Bezweifler und Bemäkler sind, gibt es ebenso viele Ungläubige, sogar Atheisten, welche sonst an alles Hoffnungsvolle und Erfreuliche mit allbereiter Leichtigkeit glauben, und es ist ein beliebtes Argument der kirchlichen Polemiker, daß sie solchen höhnisch vorhalten, wie sie jeden auffallenden Quark als bare Münze annehmen und sich von Illusionen nähren, während sie nur das Große und Eine nicht glauben wollen. So haben wir das komische Schauspiel, wie Menschen sich der abstraktesten Ideologie hingeben, um nachher jeden, der an etwas erreichbar Gutes und Schönes glaubt, einen Ideologen zu nennen. Will man die Bedeutung des Glaubens kennen, so muß man nicht sowohl die orthodoxen Kirchenleute betrachten, bei denen alles über einen Kamm geschoren ist und das Eigentümliche daher zurücktritt, als vielmehr die undisziplinierten Wildlinge des Glaubens, welche außerhalb der Kirchenmauern frei umherschwirren, sei es in entstehenden Sekten, sei es in einzelnen Personen. Hier treten die rechten Beweggründe und das Ursprüngliche in Schicksal und Charakter hervor und werfen Licht in das verwachsene und fest gewordene Gebilde der großen geschichtlichen Masse.“(03.280 ff.) Keller kehrt pantheistische Gedanken um, denn Gott scheint ihm „nicht geistlich, sondern ein weltlicher Geist, weil er die Welt ist und die Welt in ihm; Gott strahlt von Weltlichkeit.“(03.287)
Gott und Welt gleichzusetzen vergöttert nicht die Welt, sondern begreift Gott als weltlich. Weder ist er ein Anderer, noch ein Geschöpf des Menschen, weder allmächtig noch irreal, wenn er die Welt ist und zugleich repräsentiert – halt als Präsident. Nicht nur für Breitenbruch ist Kellers Vorstellung von Gott und der Welt die nobelste, die je ein unreligiöser Mensch entworfen habe, dessen Irreligiosität irgendwelche Transzendenz leugne, sondern sich einfach weigert, sich damit auseinanderzusetzen, (08.48 ff. u. 02.1101 f.) noch ist er von irgendwelchem Atheismus beseelt, denn Heinrich Lee fragt den Vater Dortchen Schönfunds – einer seiner unglücklichen Lieben: „‚Glaubt sie denn auch nicht an Gott?’ … ‚Schulgerecht’, erwiderte der Graf, ‚sind allerdings beide Fragen unzertrennlich; nach Frauenart macht sie sich jedoch nicht viel aus der Logik, da sie hier mit ihren Begriffen nicht fertig ist. Du lieber Gott, sagt sie, was kann ich ärmstes Ding wissen! Bei Gott ist alles möglich, auch daß er existiert! Weiter geht sie aber mit so drolligen Wendungen nicht, vielmehr verursacht ihr in Gespräch und Lektüre eine zu große Freiheit oder Frechheit im Ausdrucke nur Mißbehagen, und allzu grobe Ausfälle duldet sie nicht. Sie sehe nicht ein, sagt sie, warum man gegen den lieben Gott, auch wenn man von seiner Abwesenheit überzeugt sei und ihn nicht fürchte, brauche grob und unverschämt zu sein.“ (03.721)

Diese ganze irreligiöse Haltung bringt unsern Parzival-Odysseus in die ästhetische Heimat, denn „nur die Ruhe in der Bewegung hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muß es auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirkender Teil von ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so anzuwenden, daß er sich eher leidend und zusehend verhalten und die Dinge an sich vorüberziehen lassen, als ihnen nachjagen soll; denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so beschreiben wie der, welcher am Wege steht. Dieser ist darum nicht überflüssig oder müßig, und der Seher ist erst das ganze Leben des Gesehenen, und wenn er ein rechter Seher ist, so kommt der Augenblick, wo er sich dem Zuge anschließt mit seinem goldenen Spiegel, gleich dem achten Könige im Macbeth, der in seinem Spiegel noch viele Könige sehen ließ. Auch nicht ohne äußere Tat und Mühe ist das Sehen des ruhig Leidenden, gleichwie der Zuschauer eines Festzuges genug Mühe hat, einen guten Platz zu erringen oder zu behaupten. Dies ist die Erhaltung der Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen.
Ferner ging eine Umwandlung vor in meiner Anschauung vom Poetischen. Ich hatte mir, ohne zu wissen wann und wie, angewöhnt, alles, was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön befand, poetisch zu nennen, und selbst die Gegenstände meines erwählten Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern immer poetisch, so gut wie alle menschlichen Ereignisse, welche mich anregend berührten. Dies war nun, wie ich glaube, ganz in der Ordnung, denn es ist das gleiche Gesetz, welches die verschiedenen Dinge poetisch oder der Widerspiegelung ihres Dasein wert macht; aber in bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich nun, daß das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Überschwengliche nicht poetisch ist und daß, wie dort die Ruhe und Stille in der Bewegung, hier nur Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen, mit einem Wort, daß die sogenannte Zwecklosigkeit der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf. Dies ist zwar eine alte Geschichte, indem man schon im Aristoteles ersehen kann, daß seine stofflichen Betrachtungen über die prosaisch-politische Redekunst zugleich die besten Rezepte auch für den Dichter sind.
Denn wie es mir scheint, geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung, Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf einen Lebensgrund, und in diesem Bestreben, das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst; darum unterscheiden sich die Künstler nur dadurch von den anderen Menschen, daß sie das Wesentliche gleich sehen und es mit Fülle darzustellen wissen, während die anderen dies wieder erkennen müssen und darüber erstaunen, und darum sind auch alle die keine Meister, zu deren Verständnis es einer besonderen Geschmacksrichtung oder einer künstlichen Schule bedarf.“ (03.356 ff.)
Am 27. März 1851 gesteht Keller Baumgartner zu Feuerbach und seinen Folgen: „Wie trivial erscheint mir gegenwärtig die Meinung, daß mit dem Aufgeben der sogenannten religiösen Ideen alle Poesie und erhöhte Stimmung aus der Welt verschwinde! Im Gegenteil!
Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf,
meine Aufgabe zu erfüllen und mein Bewußtsein zu reinigen und zu befriedigen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgend einem Winkel der Welt nachzuholen.

Tot ist tot! ... Nur für die Kunst und Poesie ist von nun an kein Heil mehr ohne vollkommene geistige Freiheit und ganzes glühendes Erfassen der Natur ohne alle Neben- und Hintergedanken, und ich bin fest überzeugt, daß kein Künstler mehr eine Zukunft hat, der nicht ganz und ausschließlich sterblicher Mensch sein will.“ (04.105 f.)

Am 6. Oktober 1888 stirbt die Schwester Regula, zwo Tage später Maria. Nicht die Muttergottes, doch bedeutsam für Keller selbst: Marie Melos, die Judith dieser Interpretation im Gegensatz zur offiziellen Lesart, die kein reales Pendant zur Judith sieht. Judith wäre dann Fiktion und Ikone Kellers, welche dem Heinrich Lee die Mutter ersetzte und repräsentierte. Das aber ist schon nach dem Tod der Mutter Regula, die auch schon vorzeiten Näherin gelernt hatte, um zum Auskommen des älteren Bruders ihr Scherflein beizutragen Auch Regula war wie die Mutter wandelnde Sparbüchse des jungen Keller, ersetzte 24 Jahre lang die Mutter und hat viel früher bereits als Frau Regel (= Regula) Amrain die Mutterrolle erfüllt. Zudem hat sie in frühen Jahren Bewerber um ihre Hand abgelehnt, was man auch bei Marie Melos unterstellen kann - schließlich ist’s unwahrscheinlich, dass eine solche Person allein geblieben wäre. Melos nennt man auch die Kykladeninsel, auf der die Venus von Milo gefunden wurde, und wer wollte behaupten, dass unser Odysseus darum nicht gewusst hätte?

So schließt sich der Lebenskreis. 1889 feiert Zürich noch den Geburtstag Kellers, der sich den Feierlichkeiten und dem Trubel durch Flucht in die Kur entzieht. An den Gesammelten Werken in zehn Bänden wirkt Keller noch mit, um sich dann aufs Krankenlager zu begeben. Die schlimmste aller Niederlagen ist die Fantasie des Todes. Sechs Monate lang wird Keller in der eigenen Wohnung lebendig begraben sein und ich vermag mir nicht – oder muss ich sagen: noch nicht? – vorzustellen wie das ist als Keller schon mit der vertanen Liebe zu Marie-Judith ins tiefe Loch fiel und einen Gedichtzyklus darüber schrieb.
Als Conrad Ferdinand Meyer von Kellers schlechtem Gesundheitszustand vernimmt, drängt es ihn, den großen Zeitgenossen noch einmal zu sehen (vgl. 13b.333), ohne dass man behaupten könnte, dass die Zeitgenossen sich jemals nahegestanden hätten. Diese Distanziertheit lässt sich durch eine Anekdote beschreiben, die Otto Brahm berichtet, Wegbereiter Hauptmanns und Ibsens und somit des Naturalismus: „Eines Tages, als ich nach Zürich kam, fand ich Gottfried Keller in einem neuen Hefte der ‚Deutschen Rundschau’ blätternd.
Was er lese, fragte ich ihn. ‚Ich lese gar nicht’, sagte er, ‚ich schnuppere nur in der neuen Erzählung von Meyer ein bißchen herum. Wissen Sie, wie so die alten Frauen sind; wenn die Nachbarin ein neues Kleid anhat, müssen sie es gleich eifersüchtig befühlen. Aber ich hab's schon gesehen, der Stoff ist kostbar.’ ‚Und was trägt er für ein Kleid, der Meyer?’ ‚Brokat’, sagte Gottfried Keller.“ (13a. XX f.) – Brokat ist jener feste Seiden- oder Reyonstoff, dem Gold- bzw. Silberfäden eingewoben ist, der Meyer wohl weniger zur Tapete, als eher zum Prunkgewande gereicht. –
Zeigte Keller sich bei den seltenen Begegnungen „fast immer - liebenswürdig und geistreich unterhaltend“, so begegnete Meyer, „ihm stets mit [tiefer, aufrechter] Ehrerbietung und hielt diesen Ton fest, wenn er auch gelegentlich darüber spottete und einmal einen ‚in Ehrerbietung’ unterzeichneten Brief mit ‚in Ehrfurcht’ erwidert hat.“ (13b.328) Ignée bringt die Beziehung der beiden auf den Punkt: „Die beiden weltbekannten Schweizer Autoren des neunzehnten Jahrhunderts …, Gottfried Keller (geboren 1819) und Conrad Ferdinand Meyer (geboren 1825), hatten nicht viel füreinander übrig. Obwohl von gleichem Rang und viele Jahre in Zürich nebeneinander herlebend, gab es doch so gut wie keinen künstlerischen Meinungsaustausch zwischen ihnen.“ (13a.VII) Aus den 13 Jahren Schriftverkehr sind 22 Briefe Kellers und 30 Meyers erhalten. „Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller ist ein literarisches Werk von eigener Kraft und Farbe, von den wechselseitigen Anregungen, ja gemeinsamen künstlerischen Unternehmungen der deutschen Klassiker in Weimar zu schweigen“ (ebd.), wovon bei den Zürchern keine Rede sein kann. Ignée vermeint, dass beide sich hätten ergänzen können wie „das deutsche Dioskurenpaar“, wenn auch modifiziert und begrenzt aufs Epische: Meyer „ein pathetischer Inszenator dramatischer historischer Augenblicke, mit viel subjektiven, lyrischen Zügen, Keller ein behaglicher Realist der Anschauung, dem Dasein und der Gegenwart, wenn auch unter schmerzvollem Verzichten, zugewandt“ (13a.VIII), da ist es schon besser, dass sich die Geschichte nicht als Treppenwitz wiederholt!, was ja nicht ausschließt, dass man „mit fachlicher Aufmerksamkeit die Produkte des anderen“ beachtet. (13a.IX) Die Gebrechen (kleiner Wuchs, Depressionen) hätten da keinerlei Einfluss gehabt: Keller tut sich schwer in persönlichen Freundschaften. Zudem sind die beiden Charaktere viel zu unterschiedlich. „Während der ‚bürgerliche’ Kollege Gottfried Keller sich in den Strudel der Radikalisierung und Demokratisierung warf, kämpfte der ‚Aristokrat’ Meyer mit Neurosen und Krankheiten, verkroch sich in einsame Dichterträume.“ (13a.XIV)
Als Storm am 27.11.1881 nach Meyer fragt, gesteht Keller dem Brieffreund offen und beginnt mit einer Nickeligkeit, indem er den eigentlichen Vornamen C. F. Meyers verschweigt (Meyer selbst führte den zweiten Namen F. auf, um Verwechselungen mit Zeitgenossen gleichen Namens zu verhindern): „Ferdinand Meyer, von dem Sie schreiben, ist allerdings ein Züricher. Er wohnt eine Stunde weiter aufwärts am See und ist 56 Jahr alt, hat vor wenigen Jahren erst eine Million geheiratet und ist für mich zum persönlichen Verkehr nicht geeignet, weil er voll kleiner Illoyalitäten und Intrigelchen steckt. Er hat ein merkwürdiges schönes Talent, aber keine rechte Seele; denn er ciselirt und feilt schon vor dem Guße. So oft er mich sieht, macht er mir eine Sottise; z. B. Erlauben Sie mir, Ihnen etwas zu sagen? Aber nehmen Sie es auch nicht übel? - Nein, nur los damit! - Also: Es ist schade um Ihre Gabe des Styles! Sie verschwenden ihn an niedrige Stoffe, an allerlei Lumpenvolk! Ich arbeite nur mit der Historie, kann nur Könige, Feldherren und Helden brauchen! Dahin sollten Sie streben! - | Als er die Geschichte von dem ‚Heiligen’ Rodenberg für die Rundschau versprochen hatte, kam er plötzlich zu mir, jammerte und sagte: Es ist mir nicht möglich, die Novelle in die Rundschau zu geben, und Sie müssen mir beistimmen und mich R. gegenüber rechtfertigen. Auf meine verwunderte Frage nach den Gründen, machte er kuriose Wendungen, ließ mich aber errathen, daß er sich für zu gut halte, und ich war überzeugt, daß er mich, der in die Rundschau geschrieben hatte, mit einer Vornehmthuerei regaliren wollte. Ich suchte ihm die Sache auszureden und beizubringen, daß die Rundschau ihm ebenso wohl anstehe, wie er ihr; allein es nützte nichts, bis ich endlich rief: Wenn Sie eben nicht wollen, so wollen Sie nicht und lassen es dann am besten bleiben. Da rief er ganz zufrieden: Nicht wahr? Darf ich mich also auf Sie berufen?
Ich schrieb aber doch dem Julius Rodenberg selber den ganzen Hergang, worauf er mir antwortete, er habe das Manuskript schon in den Händen! | Als die Novelle erschienen war, schrieb ihm Rodenberg einen Lob- und Dankbrief in seiner verbindlichen Art, rechnete ihn zu den ersten und festen Mitarbeitern der Rundschau u. s. f. - und Meister Ferdinand ließ den Brief wörtlich theils abschreiben, theils drucken und an die Schaufenster der hiesigen Buchhandlungen anschlagen!
Behalten Sie aber diese Dinge für sich; ich theile sie nur mit, damit Sie sehen, warum ich nicht gern mit Jedem verkehre. Meyers Bedeutung liegt übrigens in seinen lyrischen und halb epischen Gedichten. Wenn er sie einmal sammelt, so wird es wahrscheinlich das formal schönste Gedichtbuch sein, das seit Decennien erschienen ist.“ (29.12.1881)
Und dennoch: Als Meyer den todkranken Keller besucht, empfängt dieser den Gast freundlich und seine Zunge fließt über und mit ihr die Fantasie. Keller spricht kaum hörbar. Beide schwelgen in Erinnerung an einen früheren Besuch, hier der kleine Mann auf dem Sterbebett, der immer trotz aller Schüchternheit sich tapfer in der Öffentlichkeit geschlagen hat, gewaltige Umwege aus der Armut heraus gegangen ist, dort von Haus aus in Wohlstand der Meister der historischen Erzählung und Lyrik, der sich immer selbst genug ist und im Elfenbeinturm verharrt, um seine Depressionen zu pflegen. Meyers Erinnerung schließt: „‚Ich meinte nur’, sagte er, ‚in den schönen weißen Raum ließe sich ein Vers schreiben’. ‚Welcher denn?’ fragte ich. »Nun, zum Beispiel«, sagte er: ‚Ich dulde,
Ich schulde ...’“ (13b.334),
womit ich ein wenig abschweifen will, denn ich höre, letzte Äußerungen eines großen Mannes auf dem Sterbebett fassten dessen Wesen zusammen. Nun, dieses kleine Gedicht beansprucht auch Adolf Frey in seiner Erinnerung an Keller für sich in der Variante, Keller habe auf dem Sterbebette ihm gesagt, wenn er – Keller – nachts so daliege, käme er sich bereits vor wie ein Begrabener über dem ein hohes Gebäude sich erhöbe und immer wieder tönte’s
„ich schulde,
ich dulde“.
Wem wären denn nun die letzten Worte zuzusprechen, und somit: welche Variante die richtige? Was mich nicht von abhalten wird, Conrad Ferdinand Meyers Werk zur Hand zu nehmen, dass sich der Kreis schließe, denn – Reclam sei Dank! – hatten wir in der Realschule Das Amulett so gut gelesen als den Schuss von der Kanzel. Galt Meyer also im Deutschunterricht mehr denn Keller? Vielleicht, doch blieb Wenzel Strapinski im Gedächtnis haften, doch weder Schadau noch Pfannenstiel.
Doch halt! Heiliger Bimmbamm, Blitz und Donnerhagel! Als ich die Arbeit abschließen will und mich von den drei’n verabschieden, dringt unwiderstehlich die Zukunft in Gestalt des trippelnden Goldfuchses in den verdunkelten Raum. Stolzer als der Gaul sitzt auf ihm gleich einem Buffalo Bill Cody ein Ungeborenes, dass es unter Adolf, Conrad und mir ein großes Hallo! gibt und der Sterbende, nun wieder ganz der alte Heinrich Lee und so grün wie der Rasen überm Roman, dass das Pferd - vom Hafer gestochen - nach frischem Grase verlangt. Heinrich hingegen verlangt nach mehr Licht, er könne eh schlecht sehn, dass Adolf gehorsamst die Vorhänge zurückzieht. Doch das ungeborene Leben ist etwa so alt wie das verständige Fleisch auf dem Sterbebett und ebenso frisch, und das Ungeborene sinniert übers Leben und Altern:
„Hänge ich am Leben?
Ich hänge an einer Frau.
Ist das genug?“
Dass der Goldfuchs wiehert vor Vergnügen:
„Potz blitz!
Wie könnt’ genug genügen?
Bescheiden sich zu fügen
Wär ein schlichter Witz“,
und Meyer kontert, alle Himmel!
„Genug ist nicht genug! Gepriesen werde
Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!
(…)
Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen
Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses,
Das Herz, auch es bedarf des Überflusses,
Genug kann nie und nimmermehr genügen!“,
dass Frey und ich schon fürchten, wie’s mit Meyer enden werde. Lee aber wäre nun wieder eins mit dem Goldfuchs und:
„Himmel auch! Genug ist nicht genug?
Hängt’ mich nicht an eine Frau:
Hing wohl sehr und feste an
Elisabeth, Regel und
Marie, Henriette und
Luise, ärmste der Armen!
Luise, Johanna, auch Betty.
Dem Leben schuld ich, Zu Sterben duld ich“,
und outet sich als Epikuräer:
„Solang ich bin, ist Er nicht,
Ist Er, so bin nicht ich.“
Und es kommen zum danse Macabré die Mutter wie eine Schwester, die Schwester als Mutter, Marie und Judith, Henriette und Anna, Luise und Regine, die andere Luise - den närrischen Liebesbrief schwenkend und daraus zitierend, dass die andern gackern - die verrückte Johanna und Betty als Dortchen. Der Alte aber kommt nicht hoch vom Bette, dass der Spuk so schnell verschwindet, wie er gekommen.
Die Verse von Max Frisch finden sich übrigens in:„Wir schreiben das Jahr 1982, Max Frisch ist in New York. Und erkennt: ‚Ich werde ein Greis’. Erstmals veröffentlicht: Die 1982/83 vor allem in New York geschriebenen und jetzt wiederentdeckten ‚Entwürfe für ein drittes Tagebuch’ des großen Schweizer Autors, in der Zeit Nr. 12 Literaturbeilage März 2010, S.16 ff., hier S. 18; die Verse Meyers stammen aus dem Gedicht Fülle (in 13.Bd 4.7).

Meyer erinnert sich weiter, lässt Kellers Humor noch einmal aufleuchten: „…, womit er wohl den Tod meinte, welchen wir alle der Natur schuldig sind.
Stunden vergingen so und es wurde Zeit zu scheiden.
‚Wir wollen vom Sommer Heil erhoffen’, sagte ich.
‚Ja’, sagte er, ‚und ein Landhaus am Zürichberg mieten’“, was eigentlich für Kellers ungebrochenen Witz und Sarkasmus spräche. Nicht so bei Meyer, dem der Sinn für Ironie abgeht. Meyer schließt: „Es war ein Jammer. Ich glaubte nicht an seine Genesung und er wohl auch nicht. Die Tränen traten mir in die Augen und rasch nahm ich Abschied.“ (13b. 335)
Conrad Ferdinand Meyer flüchtet – in eine „senile Melancholie“ und einstweilen nach Kilsberg, in die Irrenanstalt, der andere geht weniger freiwillig und dann für immer. Ist Irrenanstalt eine Wortschöpfung Jean Pauls, so ist der mit seiner „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ radikaler noch als der irreligiöse Gottfried Keller, der immerhin weiß, dass keine Unsterblichkeit sei, ist doch die extremste Fantasie neben der des Scheiterns der Tod. Als er wegen der verschwiegenen Liebe zu Marie ins tiefe Loch stürzte (es entstand der Zyklus lebendig begraben) fanden Grab, Friedhof und Tod Eingang in sein Werk – bis zum Ende und dem letzten Wort.

Endlich!, vier Tage vorm vermaledeiten Geburtstag Marias, mit der es nix mehr zu feiern gibt, wäre dieser Itaker von Herumtreiber und Weiberheld nach schier nicht enden wollender Zeit händebloß, nackt und elend heimgekehrt, wo niemand wartet, fegte sogleich hinweg Staub, Asche, Kippen, Scherben, Flaschen schmarotzender Bewerber um eine Sphinx und dumme Gans – allzumal ’rumtreiber und Weiberhelden gleich ihm selbst -, um schließlich alle Fenster weit zu öffnen, dass der Wind die Arbeit an seiner statt täte, die ihn widernden Gerüchte und Gerüche zu vertreiben, die im Hause hingen wie die Nebel einer Giftküche der unheiligen Allianz von giftgem Zwerg und großem Fleiß. Also hätt’ er Besitz ergriffen von dem kleinen Reich, das er ererbt von seinen Vätern, nähme sich, was ihm eh gehörte, hätt’ er irgendwas ergreifen können von den Altvorderen. Doch was ihm zukommt, kommt dem Vaterlosen von der Mutter, findet Platz unterm Schädel und im Herzen. Und doch höb’ er sich weit über Krethi & Jan, wie Jupp & Plethi, von denen er keinen als Freund wünscht, erfreute sich eines nicht unbescheidenen Wohlstandes, hätte er nicht zum wiederholten Male Schiffbruch erlitten und wär’ er nicht hier gestrandet nach zig Jahren, nach dem er mal eben zum Getränkeholen um die Ecke gegangen wäre, wie er damals selbst sagte und was niemand so recht glauben möchte, finde doch selbst ich es unglaublich, der ich ihn am Strand gefunden habe – händebloß, nackt und elend, aber eben nicht am Strand seiner Väter, mit zu kurzen Beinchen, die den mächtigen Körper nicht mehr tragen können (weshalb er wohl schwimmen musste!).
Gestatten Sie mir, verehrtes Publikum – bitte - die Frage, ob irgendein Arsch in den folgenden hundert Generationen sich seiner erinnerte, hätt’ es diese zig Jahre nicht gegeben?! Ich kann auch nicht alles glauben, was dieser Weltenbummler mir erzählt, bin ich doch kein einfältiger Alki von Phaiake, dem man mal eben das Mäuschen von Tochter Nausi verführen kann. Mag ja sein, dass das Spiel äolischer Harfen immer wieder die Heimfahrt verhinderte, aber unglaublich ist, was der itakische Robinson berichtet von einäugigen Menschenfressern und verführerischen Nixen, von vielköpfigen Ungeheuern, Kentauren, Lindwürmern und Drachen, dem Minotaurus und dem Vogel Greif, der Sphinx und den Sirenen, der Chimäre und dem Wolpertinger, vor allem aber des Doppelgängertums eines Serapionsbruders und Wiedergängers und der Väter. Glaubt er doch am wenigsten von all seinen Kameraden an auch nur einen Gott, den Teufel, Engel und Dämonen, das Paradies oder die Hölle oder ein vorherbestimmtes Schicksal, wenngleich einem vieles schon in die Wiege gelegt wird. Ich weiß, dass er sieben Jahre lang mit heißem Blut den Calypso tanzte und sich länger noch becircen ließ. Allein von der Existenz des Pegasus sind wir beide überzeugt und spendeten allzu gern und leicht das gefüllte Einhorn. Aber ich weiß: mehr als uns lieb sein kann von seinem Zeug gilt!

Keller stirbt am 15. Juli 1890 zu Zürich. „So ging denn der todte grüne Heinrich auch den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo sein Vater und seine Mutter lagen. Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Theilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen“ (05.GHA4.15 484), beschreibt er das Ende des heimkehrenden grünen Heinrich in der frühen Fassung.
Wie kann durch Verse das biologische Ende besser beschrieben werden als durch Kellers eigene Worte:
„Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,
Wie zwei Sternlein innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!“ (Abendlied)
Nach Nürnberger offenbaren „‚Abendlied’ und ‚Stille der Nacht’ … eine Goethe und Mörike ebenbürtige Anschauungskraft, die Keller einen Platz unter den großen Naturlyrikern deutscher Sprache sichern.“ (01.999)

Keller hat nie seine Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen geleugnet und tritt ein für Veränderung und Emanzipation – die im Kreise der kleinen Familie geglückt sein mag und die er in den Drei gerechten Kammmachern als verwirklicht schildert. Sein Engagement wie auch seine Eigentümlichkeiten lassen sich vor allem an den Gedichten ablesen. Mag der politische Kampf beherrschendes Thema der Lyrik sein, sie drückt auch seine Probleme aus. Ein zwerghaft kleiner, einsamer und unglücklicher Mensch skandiert und trommelt für die progressiven radikal Liberalen (man verwechsle mir die frühen Liberalen nicht mit den heutigen sich selbst als liberal Scheltenden auf der western’ Welle). Das Herz klopft heftig und doch zeigt sich schon im zur Agitation bestimmten Lied der Zerrissenen – „Zerrissenheit“ als Modewort und Ausdruck spätromantischen Weltschmerzes – ironisch gebrochen:
„Sie nennen uns die Zerrissenen
Von trauriger Gestalt!
Gott tröst uns! Wir haben der Ahnen viel,
Und unsere Zukunft ist alt! “, und beginnend mit Hutten über Byron und Sand über Freiligrath bis hin zum heiligen Rock zu Trier geht’s ironisch gebrochen im Stil eines Heine. Doch der früheste Titel einer Gedichtsammlung Lieder eines Autodidakten trifft’s genau: die Gedanken werden zumeist nicht ebenbürtig ausgeführt. Da mag der ferne Freund Theodor Storm herhalten, der am 15. 7. 1878 zwar tiefstapelt und zugleich zu trösten versucht, „daß ich im Punkt der Lyrik ein mürrischer griesgrämiger Geselle bin; auch den Meistern glückt's darin höchstens ein halbes, allerhöchstens ein ganzes Dutzend Mal“, aber „‚Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt’, ‚Arm in Arm und Kron an Krone’, ‚Die Erndtepredigt!’“ werden gelobt, andere Gedichte fachmännisch kritisiert. Ein Jahr später (genau am 20. 9. 1879) läuft der Kühle aus dem Norden gar über „‚Augen, meine lieben Fensterlein’
Dieß reinste Gold der Lyrik fand ich im letzten Heft der ‚Rundschau’, und zu meiner Freude unter Ihrem Namen. Ich habe es viele Mal und immer wieder gelesen und vorgelesen, und jeden faßte es, dem ich es las. Ich drücke Ihnen herzlich die Hand, liebster Freund; solche Perlen sind selten. Auch die Besten bringen nur sehr Einzelnes von solcher Qualität.“ Könnte man’s besser ausdrücken als dieser Freund?
Was nun las Luise auf dem Totentanze vor, was brachte die andern zum Lachen? Ist es vielleicht der Brief, den Judith aus dem Wasser fischte? In der Zentralbibliothek Zürich findet sich mit Datum vom 15. Oktober 1847 der kurioseste Liebesbrief der Welt- und Litraturgeschichte, der es wert ist, aufgehoben zu werden zugleich ein Dokument einer ehrlichen Seele und eines aufrichtgen Kerls:.„Erschrecken Sie nicht, daß ich Ihnen einen Brief schreibe und sogar einen Liebesbrief, verzeihen Sie mir die unordentliche u unanständige Form desselben, denn ich bin gegenwärtig in einer solchen Verwirrung, daß ich unmöglich einen wohlgesetzten Brief machen kann und ich muß schreiben, wie ich ungefähr sprechen würde. Ich bin noch gar nichts und muß erst werden, was ich werden will und bin dazu ein unansehnlicher armer Bursche, also habe ich keine Berechtigung, mein Herz einer so schönen und ausgezeichneten jungen Dame anzutragen, wie Sie sind, aber wenn ich einst denken müsste, daß Sie mir doch ernstlich gut gewesen wären und ich hätte nichts gesagt, so wäre das ein sehr großes Unglück für mich und ich könnte es nicht wohl ertragen. Ich bin es also mir selbst schuldig, daß ich diesem Zustande ein Ende mache, denn denken Sie einmal, diese ganze Woche bin ich wegen Ihnen in den Wirthshäusern herumgestrichen, | weil es mir angst u bang ist, wenn ich allein bin. Wollen Sie so gütig sein und mir mit zwei Worten ehe Sie verreisen, in einem Billet sagen, ob Sie mir gut sind oder nicht? Nur damit ich etwas weiß; aber um Gotteswillen bedenken Sie sich nicht etwa, ob Sie es vielleicht werden könnten? Nein, wenn Sie mich nicht schon entschieden lieben, so sprechen Sie nur ein ganz fröhliches Nein aus und machen Sie sich herzlich lustig über mich; denn Ihnen nehme ich nichts übel und es ist keine Schande für mich, daß ich Sie liebe, wie ich es thue, Ich kann Ihnen schon sagen, ich bin sehr leidenschaftlich zu dieser Zeit und weiß gar nicht, woher alle das Zeug, das mir durch den Kopf geht, in mich hinein kommt. Sie sind das allererste Mädchen, dem ich meine Liebe erkläre, obgleich mir schon mehrere eingeleuchtet haben, und wenn Sie mir nicht so freundlich begegnet wären, so hätte ich mir vielleicht auch nichts zu sagen getraut. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antwort, ich müßte mich sehr über mich selbst verwundern, wenn ich über Nacht zu einer so holdseligen Geliebten gelangen würde. Aber geniren Sie sich ja nicht mir ein recht rundes, grobes Nein in den Briefeinwurf zu thun, wenn Sie nichts für <<mich>> | sein können, denn ich will mir nachher schon aus der Patsche helfen. Es ist mir in diesem Augenblicke schon etwas leichter geworden, da ich direkt an Sie schreibe und ich weiß, daß Sie in einigen Stunden dieses Papier in ihren lieben Händen halten. Ich möchte Ihnen so viel Gutes u Schönes sagen, daß ich jetzt gleich ein ganzes Buch schreiben könnte; aber freilich, wenn ich vor Ihren Augen stehe, so werde ich wieder der alte unbeholfene Narr sein und ich werde Ihnen Nichts zu sagen wissen. – So eben fällt es mir ein, daß man mir vorwerfen könnte: Ich hätte wegen einiger scherzhaften Beziehungen und mir erwiesener Freundlichkeit nicht gleich an ein solches Verhältniß zu denken gebraucht; aber ich habe lange genug nichts gesagt und einen traurigen u müssigen Sommer verlebt und ich muß endlich wieder in mich selbst zurückkehren. Wenn mich eine Sache ergreift so gebe ich ihr mich ganz und rücksichtslos hin und ich bin kein Freund von den neumodischen Halbheiten. Aber ich muß schließen. Nocheinmal bitte ich Sie, verehrtes Fräulein, sich nicht an der Verworrenheit dieses Briefes zu stoßen, es ist gewiß nicht Mangel an Dezenz oder Respekt, sondern nur mein Gemüthszustand. Im glücklichen Falle werde ich dann schon einen vernünftigen und klaren Brief schreiben, denn ich bin eigentlich sonst ganz vernünftig. Wollen Sie also die Güte haben, Ein Zettelchen mit zwei Worten in den Briefeinwurf zu thun und das, so bald als möglich; denn wie gesagt, ohne sich im mindesten zu bedenken, wenn Sie ungewiß zu sein glauben, das Zukünftige wird sich dann schon geben. Leben Sie wohl und grüßen Sie die verehrte Frau Orelli von mir, und halten Sie einem armen Poeten etwas zu gut Ihr ergebener …“

Friede unsrer Asche!

Anhang

Vor’m März ist Nachmärz in der Vehfreude wie dem Rest der Welt –
Die Geburt der Grünen Bewegung aus dem Geist des Pragmatismus

„ Haben Sie … noch eine Stunde für mich übrig, so lassen Sie mich wissen, was sie Neues eingespannt haben; ich möchte gern wieder in Ihren Seldwyler oder altzüricher Gärten oder gar im Jugendparadies des ’grünen Heinrich’ mit Ihnen wandeln, | wo es etwas weniger grausam realistisch (Verzeihung für das Wort!) als in Martin Salander hergeht“, schreibt Theodor Storm am 9. Dezember 1887 an Gottfried Keller. Dabei hätt’ ihm das Ohr klingeln und das Auge überlaufen müssen mit dem Vorwort zum zwoten Bande der Leute von Seldwyla, spätestens aber mit den alttestamentarisch anmutenden Worten „Denn es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Ozeanes über die ganze Handelswelt herein und erschütterte auch das Glorsche Haus, welches so fest zu stehen schien, mit so plötzlicher Wut, daß es beinahe vernichtet wurde und nur mit großer Not stehen blieb. Schlag auf Schlag fielen die Unglücksberichte innerhalb weniger Wochen und machten den stolzen Menschen die Nächte schlaflos, den Morgen zum Schrecken und die langen Tage zur unausgesetzten Prüfung. Große Warenmassen lagen jenseits der Meere entwertet, alle Forderungen waren so gut wie verloren und das angesammelte Vermögen schwand von Stunde zu Stunde mit den hochprozentigen Papieren, in welchen es angelegt war, so daß zuletzt nur noch der Grundbesitz und einiges in alten Landestiteln bestehendes Stammvermögen vorhanden war. Aber auch dieses sollte dahingeopfert werden, um die eigenen Verbindlichkeiten zu erfüllen, welche im Augenblicke des Sturmes bei dem großen Verkehre gerade bestanden“ (01.547) aus dem Verlorenen Lachen, mit dem der Zyklus der Leute von Seldwyla abgeschlossen wird.

Aber kommen wir zum Alterswerk Kellers, dem Salander!
Nach der Neufassung des Grünen Heinrich und der Herausgabe des Sinngedichtes entpuppt sich das Alterswerk als eine schwere Geburt. Lange wird’s angekündigt, denn schon am 8. April 1881 schreibt Keller an Rodenberg, dem Herausgeber der Deutschen Rundschau, jetzt denke er „allmählich auf einen einbändigen kleineren Roman“ und schließt „was daraus wird, mag der Herrgott wissen.“ Arbeiten an den Gesammelten Gedichten lenken ihn einstweilen ab. Das Romänchen könnte „wegen zu großer Aktualität als Pamphlet“ angesehen werden (so Keller gegenüber Heyse am 1. Juni 1882) - die gleichen Bedenken, wie schon zehn Jahre zuvor beim Verlorenen Lachen! Das verlorene Lachen habe „ein dubioses Schicksal in Aussicht. Es sind konkrete hiesige Zustände darin, die jedermann in der Schweiz sogleich erkennt. Nun frägt sich's, ob der Eindruck nicht derjenige des Tendenziösen sein wird, obgleich es mehr unrichtig als billig wäre. … Dann geriet ich durch eine Veränderung des Titels in eine etwas höhere Stimmungsschicht und endlich auf den Gedanken die etwas schnurrpfeiferliche Sammlung doch mit einem ernsteren Kultur- und Gesellschaftsbilde abzuschließen. Dasselbe wäre leicht zu einem selbständigen einbändigen Roman auszuspinnen gewesen. / Nun frägt sich's, ob man diese Ausführung nicht entbehrt und die Novellenkürze hier nicht schädlich ist. …." (an Emil Kuh am 6. Dezember 1874, zit. n. 01.1029)
Keller wird hin und her gerissen. ’s ist, als fürchte er Kanzelpredigten wider Werk und Meister wie beim Verlorenen Lachen geschehn.
Im Sommer 1883 teilt er Rodenberg mit, er habe sich den Roman wieder vorgenommen, „weil der Gegenstand einen zu aktuellen Charakter hat, um ihn sich verliegen lassen zu können.“ (8. Juli 1883) Nürnberger ironisiert, wenn Keller – gewarnt durch Erfahrung – den Vorsatz äußere, er müsse „‚einmal ein Buch bis auf das letzte Wort fertig machen, um die übereilten Schlüsse und deren Unfertigkeit zu vermeiden’, so sollte sich dieser Wunsch in bezug auf den »Martin Salander« wieder nicht erfüllen. Dem Vorabdruck [Anm.: 1886] in der »Deutschen Rundschau« fehlen die beiden Schlusskapitel …“ (02.1127), um dann Probleme aufzuzählen, Probleme, wie sie Keller auch schon ein halbes Menschenleben zuvor mit Vieweg und dem Grünen Heinrich hatte – kurz: Probleme eines Anfängers.
Schon mit dem Titel fängt es an!
Ursprünglich will Keller den Roman „Excelsior“ nach einem Gedicht von Longfellow nennen. Letztlich aber nimmt er eine Landkarte des Kantons Zürich, sucht Anregung und fährt schließlich mit dem Finger hin und her – erinnert Excelsior nicht an den glanzvollen Namen einer noch prächtigeren Lokomotive, gar eines noblen Personenzuges?
Bei Dübendorf ist der erste Halt. Der Name passt nicht: auf der Zürcher Unterstraß gibt’s ein „unanständiges“ Haus, welches einem namens Dübendorfer gehört.
Aufwärts geht’s nach Päffikon und Wetzikon, „nichts anzufangen! Da komme ich gegen das Kellenland, ins Tößtal, stoße auf Saland: getroffen, das gibt einen famosen Namen! …“ (überliefert durch Peter Jenny, zit. n. 02.1128). Gut, dass Keller kein Ostfale ist, der wäre sonst am Blocksberg mit der Brockenbahn zu Not und Elend gekommen …

Lange, bevor das Romänchen überhaupt beginnt, schreibt der ehrbare Kaufmann Martin Salander aus einem fernen Brasilien, wo er seine Geschäfte und vor allem Finanzen regeln und dem Pleitegeier entkommen will, an seine Frau zu Münsterburg einen enthusiastischen Brief, als er von Verfassungsreformen in der Schweiz erfahren hat: „‚Wenn Du (…) erfreut bist, daß wir so leidlich bald wieder auf einen guten Weg gekommen sind, so mußt Du das nicht meiner besonderen Geschicklichkeit und Tatkraft zuschreiben, sondern dem freundlichen Glücke, welches mir zur Seite ging. Allerdings habe ich auch einigen Fleiß aufgewendet, wie es der Mensch etwa tut, wenn er sich ein Ziel sichtbar winken sieht. Die Dinge, welche bei Euch zu Hause sich vollzogen haben, diese neue Verfassung, welche unsere Republiken sich gegeben haben, diese unbedingten Rechte, die das Volk ruhig, ohne irgendeine Störung sich genommen hat, alles das möchte ich in seinen glorreichen Anfängen noch sehen und mit genießen, alles ruft mir zu: komm! wo bleibst du? Und nun kann ich als unabhängiger Mann kommen, der seinen Boden hat und nichts zu suchen braucht als die Gelegenheit, zu helfen und zu nützen! Und welch ein großer Augenblick ist es, in welchem unsere alte Freiheit den großen Schritt tut! Rings um uns hat sich in den großen geeinten Nationen die Welt wie mit vier eisernen Wänden geschlossen; zugleich aber hat sich mit dem moralischen Schritt, den wir getan, eine tiefste Quelle neuen Freiheitsmutes und Lebensernstes geöffnet, welche das Äußerste ertragen und das Härteste überdauern läßt und am Ende die Welt überwindet, wäre es auch im Untergang! Ein solches Gefühl der Selbstbestimmung, der Furchtlosigkeit und der Pflichtliebe schützt stärker als Repetiergewehre und Felswände “ (02.776), worüber er mitzuteilen vergisst, dass er alsbald heimkehren will. Durch den Brief erhält der Leser einen ersten Anahltspunkt, dass der Roman nach den unzeitgemäßen Gründungen des Königreichs Italien, des kleindeutschen Kaiserreichs und in dessen Gefolge der Dritten Republik Frankreichs und der Umwandlung der Donau- in eine k. u. k. Monarchie spielt. Tatsächlich wird er aber Gülitgkeit haben, bis die kapitalistische Produktionsweise – wie wir sie kennen – ein Ende findet!
Was an Vorgeschichte geschehen ist, erfahren wir wie nebenbei durch Keller oder lauschen es Gesprächen in der je aktuellen Handlung ab. Obwohl die Handlung linear verläuft, muss der Leser Rückblenden ertragen. Gegen Ende des Romans bringt der Sohn Salanders, Arnold, die ganze Geschichte auf einen Nenner und begrenzt zugleich den Zeitraum insgesamt: „‚So laß regnen, es wird auch wieder aufhören! Erinnere dich, Vater, an den Anfang unseres Jahrhunderts, als nach der durchgerungenen Helvetik das Vaterland auf den Kopf gestellt war und in der Knechtschaft des ersten Konsuls von Frankreich seufzte. Damals berichteten die Pfarrer, daß in ihren Gemeinden viele Leute lebensmüd seien und sich nach dem Tode sehnten! Jetzt nach achtzig Jahren sitzen wir, geringe Leute vom Lande, frei wie Lerchen in der Luft, wenn auch nicht frei von Leidenschaft vielleicht: wir sitzen hier in einem der Häuser der untergegangenen Aristokratie und pflegen Rats, ob wir noch reicher werden wollen oder nicht! Ich fürchte mich aber weder mit dem vielen Gelde, noch ohne dasselbe!’“(02.1008), denn Martin Salander wollte sich immer schon vom kleinbäuerlichen Milieu der Eltern befreien und wurde zunächst Lehrer, ohne unbedingt darin Befriedigung zu finden. Mit dem Erbe der verstorbenen Eltern hatte er ein Startkapital, um in die Textilbranche einzusteigen. Freilich: Wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Jugendfreundes Louis Wohlwend, für den er bürgte, brachten ihn ums Vermögen, das er aber durch den Export von Textilien und Strohwaren nach Brasilien und den Import von Kolonialwaren in die Schweiz wieder zurückgewinnen kann – wie bereits im zitierten Brief angedeutet. Dabei weiß er, als er heimkehren will, noch nicht, dass ihn Wohlwend wieder ein Vermögen gekostet hat … Doch beginnen wir von vorn!

Am 30. Dezember 1847 bejubelt der radikaldemokratische Emigrant Karl Heinrich Marx in der Deutschen Brüsseler Zeitung den Sieg der Radikalen in der Schweiz über den konservativen Sonderbund: „Der Sieg kommt der Volkspartei in allen Ländern Europas zugute; es war ein europäischer Sieg“, bevor im Nachmärz alles schiefläuft, was den 48-ern nur daneben gehen kann. Erinnert sei daran, dass der etwa gleichaltrige, notorisch erfolglose Maler und Lyriker Keller als Freischärler auf Seiten der Radikalen zwo Mal gegen Luzern gezogen ist. Fast ein Jahrzehnt später setzt er seine revolutionären Erfahrungen novellistisch in Frau Regel Amrain und ihr Jüngster um.
Während der Nachmärz den anderen deutschsprachigen Staaten den „Katzenjammer einer gescheiterten Revolution“ (so Morgenthaler auf 18a) beschert, entsteht hier inmitten eines restaurativen Europas eine neue Bundesverfassung, welche den alten Bundesvertrag von 1815 ersetzt und die Eidgenossenschaft von einem Bund souveräner Staaten in den modernen Bundesstaat mit souveränem und mehrsprachigem Staatsvolk verwandelt. Unter den Liberalen – die man nicht mit ihrer neoliberalen Enkelgeneration verwechseln darf - werden zudem die Grundlagen wirtschaftlicher Modernisierung zu einem der fortschrittlichsten Industrieländer Europas gelegt – freilich ohne große Industriestädte und deren augenfälliger Akkumulation des Massenelends, was gemeinhin eine geschichtslose Ökonomie an den Anfang der Moderne stellt – wobei man nicht unterschlagen darf, dass die Schweiz als Auswanderungsland gilt, Auswanderern zumeist aus der ländlichen Unterschicht …
Die führende Wachstumsbranche, von der andere Branchen Impulse empfangen, ist zunächst die Baumwoll- und Seidenindustrie, die sich wesentlich auf die Landschaft um Zürich konzentriert. Von den 12.000 Webstühlen finden sich gerade einmal 147 (nach Böhler auf 18b.293) - also nicht einmal zwo Prozent - in der Stadt selbst, was wiederum das Vorurteil intakter und idyllischer vorindustrieller Zustände fördern mag, wiewohl die Textilindustrie Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abzieht, was wiederum in der Landwirtschaft die Industrialisierung mit anstößt, die Jeremias Gotthelf, der Shakespeare des Dorfes, in seinem Werk aufarbeitet.

„Die ‚Käserei in der Vehfreude’ schildert den bäuerlichen Associationsgeist, wie er eine gemeinschaftliche Sennhütte für ein ganzes Dorf errichtet“, rezensiert im fernen Berlin Gottfried Keller. „Früher wurde der gute Schweizerkäse nur auf den Alpen von einzelnen Kühern ausschließlich producirt, indem man der Meinung war seine Feinheit und Würze sei die einzige Folge der Alpenkräuter. Seit aber die Chemie nachgewiesen hat daß es, wie bei mehren andern Erzeugnissen, so auch beim Käse mehr auf die Behandlungsweise ankomme, haben in der Schweiz viele Dörfer der Niederungen sich diesem Productionszweige zugewendet. Sie bestellen sich einen erfahrenen Senn, jeder Theilnehmer liefert vom Frühjahr bis zum Herbste alle entbehrliche Milch in die gemeinschaftliche Hütte, und die auf diese Weise den Sommer hindurch entstandene Menge von Käsen wird dann auf einen Schlag an einen Händler verkauft und der bedeutende Erlös unter die Theilnehmer vertheilt, je nach der Milch welche sie geliefert haben“, was Gotthelf veranlasse, alle – auch die kleinsten – Leidenschaften des Dorfes - Ehrgeiz, Neid, Eigennutz, Mistrauen, das „Durchdiefingersehen und wie alle die artigen Dinge heißen mögen … Vorzüglich zwei Momente ragen aus der Jugendgeschichte vorliegender ‚Käserei’ hervor: die gewaltige Revolution welche unter den Frauen entstand, als sie, die seit Jahrhunderten über den Ueberfluß an süßer Milch und Butter unbeschränkt gewaltet, darin geschwelgt, Gastfreundschaft geübt und auch ein ansehnliches Nadelgeld bestritten hatten, nun plötzlich sich auf das Unentbehrlichste beschränkt sahen und die reinliche, weiße, so ganz weibliche Domaine den harten Händen der industriellen Männer übergeben sollten. Ferner als die Käserei endlich zustandegekommen, die volksthümliche oder menschliche Art und Weise wie jeder Einzelne, fast ohne Unterschied, sich beeilte die Gemeinschaft zu betrügen durch verfälschte Milch welche er lieferte, und nicht daran dachte wie er sich nur selbst betrog, indem bald das Ganze darüber zugrundegegangen wäre.“ Die gesellschaftliche Tragikomödie ist natürlich mit einer komischen Liebesgeschichte verbunden. Obwohl der radikale Keller das Konservative wie die Kanzelpredigten des gelernten Pfarrers Gotthelf ablehnt, dessen erzählerisches Talent weiß er zu schätzen! „Pfarrer Bizius [Anm.: so der bürgerliche Name Gotthelfs] steht als Schriftsteller nicht über dem Volke von welchem und zu welchem er spricht; er strebt vielmehr mitten unter demselben und trägt an seiner Schriftstellerei reichlich alle Tugenden und Laster seines Gegenstandes zur Schau. … Ob dabei der beste Zweck hinsichtlich der ästhetischen Foderungen sowol als der pädagogischen erreicht werde, ist freilich eine andere Frage. Er sticht mit seiner kräftigen scharfen Schaufel ein gewichtiges Stück Erdboden heraus, ladet es auf seinen literarischen Karren und stürzt denselben mit einem saftigen Schimpfworte vor unsern Füßen um. … // Wahrscheinlich hat Bizius einst Theologie und mithin auch etwas Griechisch u. dgl. studirt; von irgend einer schriftstellerischen Mäßigung und Beherrschung der Schreibart ist aber Nichts zu spüren … Zuerst handelt es sich darum daß man so einfach, klar und natürlich schreibe daß die Legion der Esel und Nachahmer glauben nichts Besseres zu thun zu haben als stracks ebenfalls Dergleichen hervorzubringen, um nachher mit langer Nase vor dem misrathenen Producte zu stehen. Alsdann heißt es hübsch fein bei der Sache zu bleiben und sich durch keine buhlerische Gelegenheit, viel weniger durch einen gewaltsamen Haarzug vom geraden Wege verlocken und zerren zu lassen. Beide Disciplinen fließen öfter ineinander, und Hr. Jeremias benutzt alsdann reichlich die Gelegenheit sie mit einem Griffe beim Schopfe zu fassen und siegreich in eine Pfütze zu werfen. Erstlich ist seine Rede so wunderlich durch {wol, aber, daneben, jedoch}, durch unendliche Referate im Conjunctiv Imperfecti gewürzt und verwickelt, daß man oft ein altes Bettelweib einer neugierigen Bäuerin glaubt Bericht erstatten zu hören. Sodann läßt er sich alle Augenblicke zu einer süßen Kapuzinerpredigt, zu einer Anspielung mit dem Holzschlägel, zu einem feinen Winke mit dem Scheunenthor verleiten, welcher weit hinter die Grenze der behandelten Geschichte gerichtet ist. In „Die Käserei in der Vehfreude“, welche nur von Bernern ganz deutlich gelesen werden kann und wo es sich nur um Käs und Liebe handelt, wird wenigstens ein halbes Dutzend mal auf das frankfurter Parlament gestichelt. … // … Während der Dichter sonst im Leben unbesonnen, leidenschaftlich, ja sogar unanständig sein kann, wenn er nur hinter dem Schreibtische besonnen, klar und anständig und fest am Steuer ist: macht es Gotthelf gerade umgekehrt, ist äußerlich ein solider gesetzter geistlicher Herr, sobald er aber die Feder in die Hand nimmt, führt er sich so ungeberdig und leidenschaftlich, ja unanständig auf daß uns Hören und Sehen vergeht.“ Jedes seiner Bücher sei „eine treffliche Studie zur Feuerbach's ‚Wesen der Religion’. Der Gott der diese Bauern regiert ist noch der alte Donnergott und Wettermacher. Sie hangen ab von Regen und Sonnenschein, von Licht und Wärme und fürchten Hagel und Frost“ wie von ihrem Aberglauben, „der Teufel [spielt] eine gewichtige Rolle und Jeremias Gotthelf lässt uns diplomatischerweise im Unklaren, ob er nur als poetische Figur oder als baare Münze zu nehmen sei. Seine tugendhaften Helden sind alles conservative Altgläubige, und der Gott Schriftsteller mit der schicksalverleihenden Feder weiß sie nicht anders zu belohnen als daß sie entweder reich und behäbig sind, oder es schließlich werden. Die Lumpen und Hungerschlucker aber sind alle radicale Ungläubige und ihnen ergeht es herzlich schlecht. Spott und Hohn treffen sie um so schärfer, je länger ihnen der Bettelsack heraushängt und je dürrer ihre Felder stehen. Dies ist ganz in der Ordnung; denn nicht anders verhält es sich in der Wirklichkeit. Das Volk, besonders der Bauer, kennt nur Schwarz und Weiß, Nacht und Tag, und mag Nichts von einem thränen- und gefühlsschwangern Zwielichte wissen, wo Niemand weiß wer Koch oder Kellner ist…“ Bis in die neueste Zeit „hinein pflegte die deutsche Kritik jeden Schweizer der etwa ein deutsches Buch zu schreiben wagte damit zurückzuscheuchen daß sie ihm die ‚Helvetismen’ vorwarf und behauptete kein Schweizer würde jemals Deutsch schreiben lernen. In jetziger Zeit, wo die Königin Sprache die einzige gemeinsame Herrscherin und der einzige Trost im Elende der deutschen Gauen ist, hat sich Dies geändert, und sie begrüßt mit Wohlwollen auch ihre entferntesten Vasallen, welche ihr Zierden und Schmuck darbringen wie sie dieselben vor 500 Jahren noch selbst gesehen und getragen hat. Jeremias Gotthelf misbraucht zwar diese Stimmung, indem er ohne Grund ganze Perioden in Bernerdeutsch schreibt, anstatt es bei den eigenthümlichsten und kräftigsten Provinzialismen bewenden zu lassen. Doch mag auch Dies hingehen und bei der großen Verbreitung seiner Schriften veranlassen daß man in Deutschland mit ein bischen mehr Geläufigkeit und Geschicklichkeit als bisher den germanischen Geist in seine Schlupfwinkel zu verfolgen lerne. Wir können hier natürlich nicht etwa die philologisch Gebildeten, sondern nur diejenige schreibende und lesende Bevölkerung Norddeutschlands meinen welche so wenig sichern Takt und Divinationsgabe in ihrer eigenen Sprache besitzt daß sie gleich den Compaß verliert, wenn nicht im leipziger oder berliner Gebrauche gesprochen oder geschrieben wird.“ (Blätter für literarische Unterhaltung vom 29. und 31. März 1851)
Die Schweiz spürt die Globalisierung, die noch Welthandel genannt wird: hustet ein Bankokrat (Marx) oder Bankster (Roosevelt, neu aufeglegt durch Obama) im fernen Amerika, bekommen nicht nur Schweizer einen Schnupfen, wie auch der erste neuzeitliche totale Krieg, der Sezessionskrieg nicht spurlos an Spinnmaschinen und Webstühlen in aller Welt vorbeizieht. Es folgen – wie überall – „magere und fette Jahre“ (20c.218), die mageren vor allem für die da unten und die fetten insbesondre für die da oben.
Nicht, dass der Schweiz eine „Bankokratie“ (20a.752) unbekannt wäre!
Mit den 1870-ern wird der Eisenbahnbau impulsgebende Größe, zugleich Objekt der Begierde und moderner Metaphysik. Allen voran wäre der gewesene Freund und Förderer Kellers, der liberale Nationalrat Alfred Escher zu nennen, der sich 1855 aus der Politik zurückzieht, um sich mehr der Wirtschaft widmen zu können. Nun fördert er das Bank-, Kredit- und Versicherungswesen, gründet wie nebenbei Crédit Suisse und Swizz Life, führt die Nordostbahngesellschaft und initiiert die Gotthardbahn, die er bis 1878 auch dirigiert. Staatlich (!) subventionierte private Gesellschaften konkurrieren beim Ausbau des Netzes und sacken unermessliche Spekulationsgewinne ein. Schon 1871 wird der neue, repräsentative Zürcher Hauptbahnhof eingeweiht. Infolge der unzeitgemäßen kleindeutschen Reichsgründung boomt’s - bis es kracht: an der Börse wird 1873 die große Depression eingeläutet, fünf Jahre später verfliegt auch das das letzte Fünkchen Euphorie mit dem Konkurs der Nationalbahn. Kein Wunder, dass auch die Vehfreude gedämpft wird, denn der landwirtschaftliche Sektor bleibt von der Krise nicht verschont. Ungezählte Bauern müssen ihre Betriebe unter Wert verkaufen, können die steigenden Hypothekenzinsen nicht mehr tragen – was die Notare Weidelich, Schwiegersöhne des Martin Salander, weidlich ausnutzen werden.
Gottfried Keller macht sich in Preußen Illusionen zur Entwicklung in der Heimat – wie in Brasilien Martin Salander - und erlebt mit der Heimkehr als 36-jähriger einen Schock. Obwohl’s ihm wundervoll in diesem Land erscheint, schreibt er am 6. März 1855 an Lina Duncker in Berlin, dass er „in den Leuten dagegen, wie überall, die leidenschaftlichste Geld- und Gewinnsucht“ bemerke: „ …: alles drängt und hängt am Golde. Gott besser’s!“, und ein Jahr später an Ludmilla Assing (Nichte des Varnhagen von Ense): „Sonst ist auch die Gesellschaft gut in Zürich. Richard Wagner ist ein sehr genialer und kurzweiliger Mann, von der besten Bildung und wirklich tiefsinnig. … Außerdem ist es schrecklich, wie es in Zürich von Gelehrten und Literaten wimmelt und man hört fast mehr hochdeutsch, französisch u italienisch sprechen, als unser altes Schweizerdeutsch, was früher gar nicht so gewesen ist. Doch lassen wir uns nicht unterkriegen; bereits hat mit den ersten Frühlingstagen das nationale Festleben wieder begonnen und wird bis zum Herbst sein Wesen treiben. In Zürich haben wir vor 14 Tagen ein großes altstädtisches Frühlingsfest gehabt, wo alle Nationen der Erde, wilde und zahme, mit der Lola Montez, dem Kaiser von Rußland, Soulouque, Neuseeländer, Grönländer, Beduinen, Baschibozuks, kurz was man sich denken kann, in den reichsten und zierlichsten Costümen zu Roß und Wagen und zu Fuß durch die Straßen zogen. Auch ergreifen meine Herren Landsleute, als ob sie nicht bereits Feste genug hätten, begierig den Anlaß der Eisenbahneröffnungen, um gleich ein großes Volksfest daraus zu machen, wo viele Tausende zusammenkommen. So ist jüngst eines in St. Gallen gewesen, wo alle Arbeiter, welche die Bahn gemacht, in einem ungeheuren Aufzug mit bekränzten Werkzeugen und Wagen erschienen, so symbolisch und ausgedacht, als ob es aus dem Wilhelm Meister geschöpft wäre.* Possierlich war es, als der Hauptredner begann: Dieß sei der Tag, welchen Gott, die Ingenieurs | und unser Volk gemacht hätten! Nächsten Monat ist wieder eine ähnliche Geschichte in Zürich und so geht es den ganzen Sommer hindurch, … // Die Kehrseite von alledem ist, daß die Schweizer mehr als je, und so gut wie überall, nach Geld und Gewinn jagen; es ist als ob sie alle Beschaulichkeit in jenen öffentlichen Festtagen konzentrirt hätten, um nachher desto prosaisch ungestörter dem Gewerk und Gewinn und Trödel nachzuhängen…“ (am 21. April 1856), eine Beschreibung, die Marx in einem Satz zusammenzufassen vermag, in dem der Ausdruck „Kapitalismus“ das einzige Mal durch ihn im Kapital fällt: „Denn der Kapitalismus ist schon in der Grundlage aufgehoben durch die Voraussetzung, daß der Genuß als treibendes Motiv wirkt, nicht die Bereicherung selbst“ (20b.123), Bereicherung aus nackter Gier und in der Folge Habgier und Geiz bedeuten das Ende der alten Gemeinwesen – ob zu Seldwyla oder Goldach, Ruechenstein, Schwanau oder Münsterburg, aber auch andernorts wie Schilda und Calau. Sie werden oder sind schon wie alle andern geworden, was der junge Arnold Salander auf den Nenner bringt, wenn er nach seiner Rückkehr aus England sagt, „… es würde vieles erträglicher werden, wenn man weniger selbstzufrieden wäre bei uns und die Vaterlandsliebe nicht immer mit der Selbstbewunderung verwechselte! Ich habe, obgleich noch jung, ein ziemliches Stück von der Welt gesehen und das Sprichwort: › C'est partout comme chez nous‹ würdigen gelernt. Wenn wir nun etwa in ein schlechtes Fahrwasser geraten, so müssen wir eben hinauszukommen suchen und uns inzwischen mit der Umkehrung jenes Wortes trösten: Es ist bei uns, wie überall!“ (02.1004 f.), wie der gewesene Staatsschreiber Keller auch das Ende des Grünen Heinrich revidiert, als der als Amtsvorsteher ein Übel kennenlernt, „das mir wirklich neu, obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war. Ich sah, wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab, die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen, wie die Dirnen, die zum Jahrmarkt gehen, etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen. Andere betrachteten die Begriffe Republik, Freiheit und Vaterland als drei Ziegen, die sie unablässig melkten, um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen, während sie scheinheilig die Worte gebrauchten, genau wie die Pharisäer und Tartüffe. Andere wiederum, als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften, witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat, gleich einem armen Hunde, dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält. Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert, doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher. Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel, der ein Gemeinwesen zerstören kann, wenn er zu dicht wuchert; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande, und sobald sie sich ernstlich rührte, stäubte der Schimmel von selbst hinweg. Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer, als er war, und schwieg dennoch, anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten; damit verschwieg ich auch manches, was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können. Ich fühlte; daß das kein Leben hieß …“ (03.795) Schon der Satz »C’est chez nous comme partout«, den der junge Arnold – soll man sagen: resignierend? - ausspricht, deutet auf auf den Widerstreit der Trauer um den besonderen Charakter der Schweiz als ehedem fortschrittlichster Verfassungsstaat in Europa mit der Einsicht, dass sie sich dem Welthandel mit seiner nivellierenden Wirkung nicht entziehen kann. Keine Gesellschaft, kein Staat ist davor gefeit. Darum findet sich auch nichts Nostalgisches in dem Roman als vielmehr Sorge um die latente Gefährdung der demokratischen Errungenschaften durch den Primat der Wirtschaft.
Die Gründerzeit findet Eingang im Werk Gottfried Kellers – gedämpft in der revidierten Fassung des Grünen Heinrich, heftiger im zwoten Band der Leute von Seldwyla. Dabei verschweigt oder schont er mit Ausnahme einer festen Haltung zur Kinderarbeit in der Baumwollindustrie (vgl. hierzu Böhler auf 18c.12) das Fabriksystem und somit die große Industrie überhaupt. Nicht, dass er den anonym erschienen Essay on Trade and Commerce gekannt haben muss, worin im Übergang von Manufaktur zur großen Industrie über „Faulenzerei, Ausschweifungen und romantischer Freiheitduselei“ des Volkes referiert wird und als Abhilfe ein Arbeitshaus empfohlen wird: „Such ideal workhouse must be made a ‚House of Terror’“ (20a.292) und nicht der Fürsorge!, was durch die Fabrik und ihrer Pervertierung im KZ seinen Höhepunkt finden wird: an den Werksmauern und hinter Stacheldraht enden im Namen unternehmerischer Freiheit Demokratie und persönliche Freiheit, aber auch oft genug Recht und Würde. - Mit dem Spätwerk, dem Martin Salander, fasst Keller ein halbes Jahrhundert kapitalistischer Entwicklung in der Schweiz zusammen – Salander ist gegen Ende des Romans 55 und durch und durch ein Kind des Liberalismus -, wobei die Erzählung alles zugleich ist: ein kleiner, moderner Roman, Tragikomödie und Satire. Dass niemand mehr so recht um die überzeichneten realen Personen weiß, ist ein natürlicher Vorgang. Eine erste Hilfe kann dem Interessierten die Keller-homepage mit Aufsätzen zu Leben und Werk geben, in dem vor allem Morgenthaler konkrete Bezüge und Namen nennt.
Die Handlung beginnt mit der Ankunft Salanders in Münsterburg. Wie nebenbei lernen wir hier die wichtigsten Figuren kennen, deren Namen sich durch den Roman ziehen. Freilich sind’s eher Charaktermasken, denn Menschen aus Fleich und Blut. Unter den streitenden Knaben am Brunnen erkennt der Vater Salander nach sieben Jahren Exil seinen eigenen Sohn Arnold nicht wieder – wie sollte er ihn auch in dem Acht- oder Neunjährigen erkennen? -, mit dem die Weidelich-Zwillinge streiten. Aus der Konstruktion des Ortsnamens Seldwyla wissen wir, dass Namen im Werk Kellers bedeutsam sind und den Namensträger charakteresieren. Der Name ist hier eben nicht Schall und Rauch, wenn auch angelegentlich von gegenteiliger Bedeutung: das Adjektiv weid[en]lich ist mutmaßlich vom mhd. weiden[en] im Sinne von jagen/weiden entstanden und bedeutet demnach „dem Jagen gemäß“, woraus sich in adverbieller Verwendung ein [sehr] gehörig entwickelt hat. Weiden selbst bedeutet nicht nur „auf die Weide führen, grasen lassen: hüten“, sondern reflexiv „sich laben, sich erfreuen“ (19.920), was die Weidelich-Zwillinge in ihrer anerzogenen Gier im künftigen Leben weidlich verwirklichen werden und sei’s mittels Betrug.
Da ist Salanders Freund Salomon „Möni“ Wighart. Weit verbreitet ist die Silbe hart/hard in der deutschen Namensgebung. Das Adjektiv bedeutet stark/kühn, die erste Silbe wird dem Verb wiegen nachgebildet sein und auf das bestimmbare Gewicht des Namensträgers hinweisen: Möni W. wägt sein Tun kühn ab und vermittelt alsbald Informationen.
Beim Jugendfreund Louis Wohlwend mag Keller überziehen: das Adverb wohl hängt eng mit dem Verb wollen zusammen, das nicht nur mit dem Willen, sondern auch mit dem Verb wählen zusammenfällt. Wohl ist das, was erwünscht und gewollt ist und – sofern möglich – gewählt wird. Das Verb wenden hingegen wird umgelautet zum winden. Wohlwend ist der ungreifbare Betrüger, „Hans [Dampf] in allen Gassen“ (02.728) der aus allen Fallen sich herauswinden kann und letztlich sich nicht als Täter, sondern als Opfer des Sozial-Darwinismus begreift, wenn er am Tage einer neuerlichen Konkurseröffnung behauptet: „Es ist gewissermaßen mein Ehrentag, an dem ich das Martyrium unseres Jahrhunderts antrete als Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein!“ (02.767) Ironie des Schicksals: Louis’ Karriere beginnt als Schüler mit einem kurriosen Vortrage der Schiller’schen Bürgschaft (02.729 f.), führt über „ein Kommissionsgeschäft … nebst einigen Agenturen“ (02.728) zu Handlungsbeginn zum Finanzdienstleister „Schadenmüller, Xaverius & Komp.“ (02.733), dessen Interessen bis nach Brasilien reichen.
Sind die Salander ehrbare Leute mit weißer Weste, so sind die Weidelich karrieregeil und beflecken ihre Westen. Es sind Charaktere, die sich durch Verschwägerung mit den Salander Wohlstand und guten Ruf erwerben wollen. Im Gegensatz zu den Weidelich-Zwillingen kommt der Betrüger aus Prinzip Wohlwend jedoch immer davon. Zudem stellt sich heraus, dass es keine gute, sondern nur schlechte Nachricht gebe – personifiziert durch Wighart. Da von allem Beginn an schwarzweiß gemalt wird, Gut und Böse bekannt sind mitsamt den Leuten dazwischen, ist der Salander eines sicherlich nicht: ein Wirtschaftskrimi … Freilich für die große Masse, den unternehmerisch nicht geeigneten Charakteren, müsste Jukundus, „der Liebenswürdige“ (01.1029) aus dem Verlorenen Lachen herhalten.

Marx Haupt- und Alterswerk beginnt mit einem Paukenschlag: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’, die einzelne Ware als seine Elementarform … [ist] ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache“ (20a.49), dieserhalb er mit der „vertrackten“ Analyse der Ware beginnt und über deren Wertformen Gebrauchs- und Tauschwert zum Wesen der Ware vordringt.
Die Sprache aber weiß es von allem Anfang an: Schon das Wort Ware kommt dem Duden aus unsicherer Herkunft. Vermutet wird ein Zusammenhang mit der Substantivierung des Verbs wahren und sei zu verstehen i. S. v. „Aufmerksamkeit, Acht, Obhut, Aufsicht“, was zu der Bedeutung führe, „das, was man in Verwahrung nimmt.“ (19.915) Es lebt heute noch im Verb wahrnehmen (19.908), was nichts anderes nach Nietzsche als ein für-wahr-nehmen ist. Die Ökonomie deutet den Begriff Ware als ein Gut/Produkt, das nicht dem eigenen Bedarf, sondern zum Verkauf bestimmt ist, kurz: mit dem gehandelt wird. Und in eben dem Milieu der Kaufleute spielt der Roman.
Die einfachste Form des Handels aber ist der Tausch. Das Verb tauschen geht zurück aufs mhd. tuschen, dem „unwahr reden, lügnerisch versichern, anführen“, was seine Nähe zum tiuschen (nhd.: täuschen) nicht verleugnet. „Die heute allein übliche Bedeutung ‚Waren oder dergleichen auswechseln, gegen etwas anderes geben’, in der das Verb zuerst im 15. Jh. bezeugt ist, hat sich demnach aus ‚unwahr reden, in betrügerischer Absicht aufschwatzen’ entwickelt“, was mit der „Präfixbildung vertauschen“ zum „‚irrtümlich oder unabsichtlich auswechseln’“ führt und von dort zurück zum mhd. vertuschen (19.839 f.). In der Tat zeigen schon die Strukturen des einfachsten Tausches (be)trügerische Tendenzen: „Wo Gleicheit ist, ist kein Gewinn“, lässt daher Marx den ehrbaren Kaufmann sagen (20a.173). Von scheinbar Gleichen werden wechselseitig Leistungen übertragen, die aber nur gleichwertig erscheinen, keineswegs gleichwertig sind. Im idealen Falle glaubt jeder, ein Schnäppchen gemacht zu haben, schätzt er doch die eingetauschte Leistung höher ein als die, die er weggibt. So ist dem ganzen immer auch eine religiöse Dimension zuzusprechen, und in der Tat: bereits das erste und älteste Opfer ist Ware. Denn auch der Gott wird betrogen, dem das Opfer gilt, wenn das Ungenießbare - Gedärm und Knochen - geopfert wird. Wär’s denn nicht allzu blöde, Genießbares in Rauch und Qualm aufgehen zu lassen, statt es selbst zu genießen? Der Gott könnte ja gestörten Sinnes sein wie der süchtige Raucher: es muss stinken, Rauch entwickeln, brennen! Für den Gott bleibt’s beim Nullsummenspiel. Da bedarf’s keiner wie auch immer gearteten Wertlehre, noch einer Theorie zum Grenznutzen. Kurz: dass der Bankster einen König (eben den Kunden) über die Bank zieht, ist schon im primitivsten Tausch vorgegeben. Mit einem Nullsummenspiel käme der König noch glimpflich davon. Aber dieser König ist kein Gott und die Rollen wandeln sich dem Bankster zum Bankokraten und vom König zum Bettelmann. Einer wird immer verhöhnt – und wär’s auch ein König.
Geiz ist weniger geil (wo der Werbespruch eine sexuelle Komponente ins Geschäftsleben hineinspinnt) als vielmehr nackte Gier. Wessen wir bedürfen, kommt uns von andern und wird durch die Hände des Handels gewiss nicht saubrer.

Heißt es im Verlorenen Lachen, „Jukundus sagte immer die Wahrheit und glaubte dafür auch alles, was man ihm sagte. Er eröffnete stets im Anfang seine ganze Meinung und was er tun und halten konnte und nahm als richtig an, was ihm der andere von seinen Kauf- und Verkaufsbedingungen und von der Beschaffenheit der Ware mitteilte, erst in der Meinung, daß jener schon sich bemühen werde, der Sache näher auf den Grund zu kommen, später, als das nicht geschah, gleich mit dem kecken Vorsatz der Täuschung.“ (01.508) Weil Jukundus naiv ist und ein offenes Buch, muss er als Unternehmer scheitern und findet erst wieder zu sich, als „er einem [ehem.] militärischen Vorgesetzten [begegnete], der ihn wohl kannte, aber lang nicht gesehen hatte. Der fragte ihn nach seinen jetzigen Umständen, und als er dieselben, soweit sie mitteilbar waren, kennen gelernt, sagte er zu Jukundus, er wäre gerade der Mann, den er suche, um in seinem ausgebreiteten Handels-und Unternehmungswesen eine bestimmte Lücke auszufüllen. Er suche einen zuverlässigen ruhigen Mann, von dem er wisse, daß er seine Obliegenheiten kurzweg und pünktlich erfülle, nicht nach rechts oder links schaue, ohne die Wachsamkeit zu verlieren, und hauptsächlich keine eigenen Spekulationen betreibe“ (01.535), was nichts anderes bedeutet als die Wandlung des selbständigen Kaufmanns zum kaufmännischen Angestellten.
Salander hingegen ist kein offenes Buch, wenn auch keines mit sieben Siegeln. Er wirkt aufgeklärt, erfahren, wenn er sich am Ende des Begrüßungsmahls mit seiner Familie sagt „Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß!“ (02.750), sich also zum Pragmatismus bekennt. Dabei hat er doch seinen Sohn in der Auseinandersetzung mit den Weidelichs schon nicht erkannt – wie sollte er auch! Was er nicht weiß und darum nicht sieht, ist das Scheitern der von seiner Frau geführten kleinen Gastronomie und dass – außer ihm - alle Kohldampf schieben. Was er aber durch Wighart schon weiß, ist der erneute Vermögensverlust durch Wohlwend, den er aber verschweigt, um das Wiedersehen nicht zu trüben. Was der Realist mithin nur sehen kann ist die Idylle im Wirtshaus, verstärkt durch legale Drogen. Der scheinbare Vorrang der Familie vorm Geschäftlichen, wenn die wiedervereinte Familie zur Begrüßung eine Suppe auslöffelt. „Als Salander bemerkte, daß die Gattin so wohlig im Stuhle zurücklehnte und sich eben aufraffen wollte, die Teller zu füllen, hielt er sie zurück und schöpfte an ihrer Stelle die Suppe, welche wie Ambrosia duftete. Und wie sie die Löffel zur Hand nahmen, fiel im Garten draußen das Orchester mit einem gewalttätigen Musikstück ein, daß die Kinder in dem Posaunen- und Paukengewitter die ersten Löffel mit einer seltsamen Mischung von Heißhunger und Herzensjubel zum Munde führten. Auf den anfänglichen Lärm folgte jedoch bald ein Pianissimo, dem das Publikum im Garten lautlos lauschte; die drinnen löffelten achtlos fort, ein »Sch!« zischte draußen, worüber Frau Marie erschrak, die Kinder lachten und Martin Salander das Fenster schloß. / »Eßt fort, kümmert euch nicht darum!« mahnte er. So geschah es, und als eine kleine Stunde vorbei, vergnügten sich die Kinder wohlgesättigt an dem ungefährlichen Nachtisch. Jedes hatte ein Glas Wein bekommen, die Mutter aber deren drei getrunken, und nun dünkte der Mann sich im Paradiese zu sitzen, als die aufblühenden, leicht sich rötenden Antlitze mit frohen Augen ihm entgegenglänzten, wohin er blickte, als wollten sie ihm sagen, was das Glück sei, eine Art Kräutlein Kommnichtum! // … Die Kinder wurden immer munterer; Arnold hatte sich dicht an die Seite des Vaters geschmuggelt und sagte plötzlich: »Aber Vater, weißt du nicht, daß ich dich heute schon gesehen habe, bei dem Brunnen, wo die Weidelichbuben mich auslachten, daß ich nur eine Mutter und keine Mama habe!«“ (02.750 f.)
„Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß“ ist denn auch eine Konstante in Kellers Leben, allein aufs Verstehen sowohl der übertragenen Bedeutung des „wahrnehmen, geistig auffassen, erkennen“ wie eine „klare Vorstellung von etwas haben, ,etwas können“, wie eben einer sein Handwerk versteht. (19.896) Das Kräutlein Kommnichtum verrät, wie unsicher unsere Wahrnehmung ist und wie nahe der Spekulation wir sind, wenn wir ein Etwas für-wahr-nehmen. Und in der Tat sind die Verben sehen und spekulieren verwandt. Das Verb spekulieren ist aus dem lat. speculari entlehnt, welches ein „spähen, beobachten: sich umsehen, ins Auge fassen“ meint und gehört zum lat. specere „sehen, schauen“. Das Verb spekulieren hat aber einen Bedeutungswandel durchgemacht. Umgangssprachlicher Sinn ist heute „auf etwas rechnen“ – was einem für-wahr(scheinlich)-nehmen/halten nahekommt, seit dem 18. Jh. bedeutet es als kaufm. Terminus „riskante [Börsen]geschäfte tätigen“, woraus sich „auf Gewinne aus Preisveränderungen abzielende Geschäftstätigkeit“ für die Spekulation ableitet (19.786). Fördern Handlungen das (allgemeine oder das besondere) Leben, sind also praktisch bedeutsam und führen ggfs. zu anderen/neuen Ergebnissen, so sind schon die Ausgangsvorstellungen „wahr“, indem sie sich bewähren. Die dogmatische absolute Wahrheit wird pragmatisch relativiert durch Wahrscheinlichkeiten wie zuvor die unteilbare Freiheit atomisiert wird in Glaubens- und hernach Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Gewerbe- und Eigentumsfreiheit usw. atomisiert.

Wie schon im Frühwerk begnügt Keller sich ohne lange Umschweife, die titelgebende Person und auch städtebauliche Veränderungen in sieben Jahren einzuführen: „Ein noch nicht bejahrter Mann, wohlgekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist. Dennoch mußte er bald anhalten, sich besser umzusehen, da diese Straßenanlagen schon nicht mehr die früheren neuen Straßen waren, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand. …“ (02.717) Jahre später wird er diesen repräsentativen und darum angemessenen Ort zur Doppelhochzeit seiner Töchter mit den Weidelich-Zwillingen wählen und es ist m. E. der zentrale Abschnitt im Roman, wird doch auf der Hochzeit ein Straßentheater aufgeführt, das allgemein auf die reale Demokratie gemünzt ist und im besondern auf die Bräutigame zielt.
Als die nämlich beraten, wer zuerst das Wort ergreifen solle, „Isidor der Altliberale, oder Julian, der Demokrat, entstand auf der Bühne über ihren Köpfen ein polterndes Geräusch, welches die allgemeine Aufmerksamkeit erregte und aller Blicke dorthin lenkte. / Zwei [maskierte] Rüpel oder zerlumpte Stromer, mit Knotenstöcken und Bündeln am Rücken, zogen Arm in Arm auf und drückten sich gröhlend umher… Es waren offenbar zwei Spaßvögel, die in dieser Verkleidung auftraten, einen Beitrag an die Festlichkeit zu leisten; und man gewärtigte vergnügt, was sie vorbringen würden. Nachdem sie eine Weile über das Schicksal, über Gott und die Welt geschimpft, fingen sie an, zu beraten, was sie denn anfangen könnten, sich ferner redlich durchzubringen? Sie zählten eine Menge tollen Zeuges auf, was sie schon versucht oder probieren könnten, bis der eine auf den Einfall geriet, seine Gesinnung zu verwerten, die noch irgendwo vorhanden sein müsse, da er sie nie gebraucht. »Gesinnung?« schrie der andere, »eine solche muß ich ja auch noch haben, eine wie ein neugeborenes Kind!« Sogleich nahmen sie die Reisebündel vom Rücken, schnürten sie auf und wühlten in dem unhabseligen Schunde herum, fanden aber lange nichts. »Halt,« rief der eine, »da muß was sein!« und brachte ein hölzernes Nadelbüchslein zum Vorschein. Behutsam hob er das Deckelchen zur Hälfte ab und guckte mit einem Auge in die Höhlung. »Ja, da drin sitzt es«, rief er und machte stracks wieder zu. Der andere Rüpel fand ein winziges Pillenschächtelchen, öffnete es ebenso vorsichtig wie jener sein Nadelbüchslein, verschloß es ebenso schnell und schrie, da sitze seine Gesinnung auch ganz wohlbehalten drin. // Da nun jeder dieser Habseligkeit sicher war, hieß es, was damit anfangen? Plötzlich erinnert sich der eine Rüpel, daß ehestens in der Gegend eine glänzende Hochzeit zwischen der reinen Jungfrau Demokratie und dem alten Herrn Liberalismus gefeiert und bei diesem Anlasse ein großer Vorrat von Gesinnung benötigt werde, und zwar von beiden Arten, von der liberalen und von der demokratischen. Jeder, der damit versehen sei, und auch kleinere Beiträge sind willkommen, werde trefflich verpflegt, und wenn er tapfer fresse und saufe, so sei er einer gut besoldeten Anstellung mit permanentem Urlaub sicher usw. Sie wurden einig, an die Hochzeit zu gehen und ihre Gesinnung anzubieten. Um sich aber nicht selber hinderlich zu sein, beschlossen sie, sich auf beide Seiten zu verteilen und der eine bei der Braut, der andere beim Bräutigam sich zu melden. Sie besahen nochmals die kleinen Habseligkeiten im Büchschen und im Schächtelchen, ob sie nicht eine Wegleitung daran zu erkennen vermöchten. Allein sie konnten durchaus nichts erraten und erfanden daher den Ausweg, auszuwürfeln, wessen Gesinnung liberal und wessen Gesinnung demokratisch sein solle. / Sie setzten sich also auf den Boden, zogen einen schmutzigen alten Lederbecher mit Würfeln hervor und würfelten die Parteien unter sich aus, natürlich wieder mit allerhand Schnurren und Possen. »Es ist doch ein lausiges Spiel,« schrie der eine, »wenn man kein Bier dazu hat!« – »Wir wollen uns ein paar frisch gefüllte Töpfe denken,« rief der andere, »sieh den schönen Anstich! Trink!« / Endlich wurden sie mit dem Würfeln, das sie mit vielen Mogeleien lustig zu verlängern gewußt hatten, fertig. Jeder prägte sich seinen Parteinamen wiederholt ins Gedächtnis und machte zur größeren Sicherheit einen Knoten in das alte Schnupftuch, welches der eine von ihnen besaß, so daß dieser beide Versicherungen mit sich trug. Dann gingen sie mit Hallo und Juhe hinter die Bühne und verschwanden, wie sie gekommen.“ (02.870 f.)
Und wieder wird eine Suppe ausgelöffelt, denn in seinem Innersten sträubt Salander sich gegen diese Hochzeit: „Im Saale der Bahnhofswirtschaft wird die Morgensuppe genossen, mitten im Verkehr des reisenden Publikums, ein Bild des rastlosen Lebens“ (02.854), wie das Wort Verkehr nicht nur als Eisenbahn eine bedeutende Rolle im Roman spielt, sondern für die moderne Leistungs- und Wachstumsgesellschaft steht. Ohne Zweifel sind Salander und Keller anfällig für die Errungenschaften des Fortschritts. So berichtet Morgenthaler, dass Keller das erste Honorar für die Buchausgabe in „bescheidenen Obligationen“ der Gotthardbahn angelegt habe, und das, wiewohl er durch die Feder Arnold Salanders schreiben lässt, dass „der Fortschritt nur ein blindes Hasten nach dem Ende hin [sei] und gleiche einem Laufkäfer, der über eine runde Tischplatte wegrenne und, am Rande angelangt, auf den Boden falle, oder höchstens dem Rande entlang im Kreise herumlaufe, wenn er nicht vorziehe, umzukehren und zurückzurennen, wo er dann auf der entgegengesetzten Seite wieder auf den Rand komme. Es sei ein Naturgesetz, daß alles Leben, je rastloser es gelebt werde, um so schneller sich auslebe und ein Ende nehme; daher, schloß er humoristisch, vermöge er es nicht gerade als ein zweckmäßiges Mittel zur Lebensverlängerung anzusehen, wenn ein Volk die letzte Konsequenz, deren Keim in ihm stecke, vor der Zeit zu Tode hetze und damit sich selbst“ (02.851), als wäre die Eisenbahn kein Mittel der Beschleunigung des Transportes und somit zugleich der Kommunikation wie der Raumverdichtung, neben der Steigerung der Arbeitsproduktivität elementare Grundbedingungen der kapitalistischen Produktionsform. – Es ist wieder der Sohn Arnold, der – als der Fall Wohlwend endlich aufgeklärt ist – den Wachstumsfetisch des Vaters mit der Frage „Wollen wir in der Tat kleine Nabobs werden, die entweder ihr Leben ändern oder den weit über ihre Bedürfnisse reichenden Mammon ängstlich vergraben müssen und in beiden Fällen vor sich selbst lächerlich sind?“ überwinden hilft. (02.1007)
Schon nach der eigenen Heirat und mit dem kleinen Vermögen, welches Salander von den Eltern erbt, wird’s Salander „plötzlich zu eng in der friedlichen Schulstube, in der entlegenen Landschaft; ich zog hierher, …, wollte mitten im Verkehr stehen, unter Erwachsenen, auf Freiheit und Fortschritt ausschauen, ein Geschäftsmann, ein Muster von Brotherrn sein, …“ (02.728) bis hin zum selbsternannten „Opfer des Verkehrs“ Wohlwend (s. o.) und der letztlich guten Nachricht durch Möni, „ er habe Wohlwend auf dem Bahnhofe gesehen, wie er mit Weibern, Kisten, Koffern und bösen Blicken erschienen und mit einem Blitzzuge abgefahren sei.“ (02.1018)

Natürlich will Salander das Leben in der Republik mitgestalten, umso mehr als er „mit Verwunderung [sah], wie im Halbdunkel eines Bierstübchens zwei Projektenmacher den Entwurf eines kleinen, Millionen kostenden Gesetzes oder Volksbeschlusses fix und fertig formulieren konnten, ohne daß die vom Volke gewählte Regierung ein Wort dazu zu sagen bekam“ (2.789), kehrt aber auf einer politischen Versammlung den Pädagogen hervor, wenn er seine „lieben Mitbürger“ belehrt, »ehe ich meine abweichenden Ansichten von der vorwürfigen Sache darlege, kann ich nicht umhin, das auch mir teure Wort Republik zu berühren, das wir jetzt seit einer Stunde gewiß zwei Dutzend Male gehört haben. Unsere Vorfahren haben seit bald sechshundert Jahren die Republik in heißen Schlachten begründet und befestigt, ohne das Wort je in den Mund zu nehmen, und die vielen alten Bundesbriefe und Landbücher enthalten es nicht. Erst später haben es die Patrizier und Bürger der herrschenden Städte für sich angewendet, um mit dem schönen Wort ihrer irdischen Herrlichkeit einen antiken Glanz zu verleihen. Wir haben es jetzt im Sprachgebrauch, aber nicht zum Mißbrauch. Mich will bedünken, wer es immer im Munde führt und dabei auf die Brust klopft, könne ebensogut sich der Gleisnerei schuldig machen wie jeder andere Pharisäer oder Mucker! Doch damit haben wir jetzt nichts zu schaffen; nur darauf möchte ich aufmerksam machen, werte Mitbürger, daß auch der Republikaner alles, was er braucht, erwerben muß und nicht mit Worten bezahlen kann; über Naturgesetze hat die Republik nicht abzustimmen, die Vorsehung legt ihr den Plan über die dem Landwirte nützliche Witterung der Jahreszeiten so wenig zur Annahme oder Verwerfung vor als den Untertanen der Könige und diesen selbst, und der Weltverkehr kümmert sich nicht um die Staatsformen der Länder und Weltteile, die er durchbraust. Dies wollte ich mir zu bemerken erlauben, ehe ich zur Eröffnung meiner Ansicht übergehe // und dabei mich mehr mit den faktischen Verhältnissen beschäftige, als bisher geschehen ist.«“ (02.791 f.) Die Reaktion auf eine solche Rede wird heute keine andere sein als im Roman … Und doch erleben wir in Martin Salander den Urahn aller modernen grünen Parteiungen: als er - endlich daheim! - am ersten Abend zum Fenster hinausschaut, entspannt sich ein hochaktueller Dialog mit seiner Frau Marie: „»Wo sind denn nur die vielen schönen Bäume hingeraten, die sonst vor und neben dem Hause standen? Hat sie der Eigentümer abschlagen lassen und verkauft, der Tor!? Das war ja ein Kapital für die Wirtschaft!« / »Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich ihn gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnötigen Straße durchgesetzt haben. Nun ist sie da, jedes schattige Grün verschwunden und der Boden in eine Sand- und Kiesfläche verwandelt; aber kein Mensch kommt, die Baustellen zu kaufen. Und seit die guten Bäume dahin sind, ist auch mein Erwerb dahin!« / »Das sind ja wahre Lumpen, die sich selbst das Klima verhunzen…«“ (02.752 f.), um dann den Biedermann herauszukehren, wenn er nach seinem alten Stiefelknecht fragt, dass wir erkennen, dass Münsterburg in direkter Nachbarschaft zu Seldwyla liegen muss, wo wir mit Recht ein Treibmittel und Energieträger der kapitalistischen Produktionsweise vermuten dürfen.
Hier nämlich hatte gerade einmal zwo Jahrzehnte zuvor Jukundus Meyenthal „ein Handelsgeschäft errichtet, welches sich auf den Holzreichtum der Stadtgemeinde und der umgebenden Landschaft gründete. Zu den großen Allmenden, die von der allemanischen Bodenteilung herrührten, waren später noch die Waldungen von Burg und Stift gekommen, an deren Mauern die Stadt sich angebaut hatte. / Diese hatte bisher die Quellen ihrer Behaglichkeit geschont und auch aus bürgerlichem Stolz erhalten, wie sie ihre reichen Trinkgeschirre und den alten Wein im Stadtkeller sorgfältig erhielt. Allein durch irgendeine Spalte war die Verlockung und die Gewinnsucht endlich hereingeschlüpft und es wandelte ungesehen schon der Tod durch die weiten Waldeshallen, schlich längs den Waldsäumen hin und klopfte mit seinen Knochenfingern an die glatten Stämme. Als daher eben um diese Zeit Jukundus auftrat, um das Bau- und Brennholz anzukaufen und auszuführen, kam sein Geschäft alsobald in Schwung; denn die Seldwyler zogen die Vermittlung des ihnen wohlbekannten ehrlichen Mitbürgers dem Andringen der fremden Händler, durch die das Unheil eingeschlichen, vor. / Jetzt begannen die hundertjährigen Hochwaldbestände zu fallen und auch sofort dem Strich der Hagelwetter den Durchlaß auf die Weinberge und Fluren zu öffnen. Allein sie waren auch einmal jung und niedrig gewesen oder schon mehrmals vielleicht, und sie konnten wieder alt und hoch werden. Doch als die Axt auch an die jüngern Wälder geriet, für das zuströmende Geld immer schönere Zwecke erfunden und die Berghänge dafür immer kahler wurden, fing es den Jukundus innerlich an zu frieren, da er von Jugend auf ein großer Freund und Liebhaber des Waldes gewesen. Während er an dem Handel einen ordentlichen Gewinn machte, begann er sich desselben mehr und mehr zu schämen; er erschien sich als ein Feind und Verwüster aller grünen Zier // und Freude, wurde unlustig und oft traurig und vertraute sich seiner Frau an, da sie sein frohes Lächeln, das zu dem ihrigen wie ein Zwillingsgeschwister war, fast seltener werden sah und ihn ängstlich befragte. Sie dachte aber, die Dinge würden mit oder ohne den Mann ihren Lauf gehen und wahrscheinlich nur noch schlimmer, und sie war nur darauf bedacht, ihn bald aus eigenen Kräften wohlhabend und unabhängig zu wissen, um auch von dieser Seite her stolz auf ihn sein zu können. Sie bestärkte daher den Mann nicht in seiner Unlust, sondern ermunterte ihn vielmehr zum Ausharren und er fuhr dann so fort.“ (01.505 f.) Bis ich mich auch an die schwäbischen Brüder der Alemannen zu Stuttgart 21 erinnert fühle: „Da wurde an einer schief und spitz sich hinziehenden Berglehne, welche der Wolfhartsgeeren hieß, ein schönes Stück Mittelwald geschlagen. Aus demselben hatte von jeher eine gewaltige Laubkuppel geragt, welches eine wohl tausendjährige Eiche war, die Wolfhartsgeereneiche genannt. In älteren Urkunden aber besaß sie als Merk- und Wahrzeichen noch andere Namen, die darauf hinwiesen, daß einst ihr junger Wipfel noch in germanischen Morgenlüften gebadet hatte. Wie nun der Wald um sie her niedergelegt war, weil man den mächtigen Baum für den besondern Verkauf aufsparte, stellte die Eiche ein Monument dar, wie kein Fürst der Erde und kein Volk es mit allen Schätzen hätte errichten oder auch nur versetzen können. Wohl zehn Fuß im Durchmesser betrug der untere Stamm, und die waagrecht liegenden Verästungen, welche in weiter Ferne wie zartes Reisig auf den Äther gezeichnet schienen, waren in der Nähe selbst gleich mächtigen Bäumen. Meilenweit erblickte man das schöne Baumdenkmal und viele kamen herbei, es in der Nähe zu sehen. / Als man nun gewärtigte, welcher Käufer den höchsten Preis dafür bieten würde, erbarmte sich Jukundus des Baumes und suchte ihn zu retten. Er stellte vor, wie gut es dem Gemeinwesen anstehen würde, solche Zeugen der Vergangenheit als Landesschmuck bestehen zu lassen und ihnen auf allgemeine Kosten Luft und Tau und die Spanne Erdreich ferner zu gönnen; wie die verhältnismäßig kleine Summe des Erlöses nicht in Betracht kommen könne ge- //genüber dem unersetzlichen innern Wert einer solchen Zierde. Allein er fand kein Gehör; gerade die Gesundheit des alten Riesen sollte ihn sein Leben kosten, weil es hieß, jetzt sei die rechte Zeit, den höchsten Ertrag zu erzielen; wenn der Stamm einmal erkrankt sei, sinke der Wert sofort um vieles. Jukundus wandte sich an die Regierung, indem er ihr die Erhaltung einzelner schöner Bäume, wo solche sich finden mögen, als einen allgemeinen Grundsatz belieben wollte. Es wurde erwidert, der Staat besitze wohl für Millionen Waldungen und könne diese nach Gutdünken vermehren, allein er besitze nicht einen Taler und nicht die kleinste Befugnis, einen schlagfähigen Baum auf Gemeindeboden anzukaufen und stehen zu lassen. / Er sah wohl, daß man überall nicht zugänglich war für seinen Gedanken und daß er sich nur als Geschäftsmann bloßstellte und heimlich belächelt wurde. Da kaufte er selbst die Eiche und das Stück Boden, auf welchem sie stund, säuberte den Boden und stellte eine Bank unter den Baum, unter dem es eine schöne Fernsicht gab, und jedermann lobte ihn nun für seine Tat und ließ sich den Anblick gefallen. Aber von diesem Augenblicke an suchte auch jedermann ihn zu benutzen und zu übervorteilen, wie einen großen Herren, der keiner Schonung bedürfe. / Aus Widerwillen gegen die Baumschlächterei änderte Jukundus nach und nach, aber so rasch als möglich, sein Geschäft, indem er den Holzhandel verließ und dafür sich auf denVerkehr mit jenen Schätzen warf, welche aus dem Schoße der Erde kommen und das Holz ersetzen.“ (01.506 f.) Einige Zeit später vollendet sich Jukundis unternehmerisches Schicksal, wie fünf Seiten weiter das des Baumes …
Nicht, dass niemand in der zwoten Hälfte des 19. Jh. gewusst hätte, welche Gefahren in der Holzwirtschaft lauern und die heute im Zeichen des Tourismus’ noch verstärkt werden. Als nämlich Salander beim Anwesen eines Schwiegersohns „das Buchenwäldchen [bewunderte] und die dahinter emporragenden Wipfelmassen des größeren Forstes, eine Umgebung, die nicht mit Geld zu bezahlen sei“, antwortet der „»O ja, es macht sich nett! … Nur wird es nicht mehr so lange stehenbleiben, als es schon // steht. Der Wald gehört der Gemeinde Unterlaub und soll in ein paar Jahren geschlagen werden; die Holzhändler sind schon dahinter her. Da werd' ich unsere Buchen auch darangeben, es geht in einem zu, und sie tragen ein schönes Geld ein!« / »Sind Sie bei Trost?« rief Salander. »Ihre Buchen schützen ja allein Haus und Garten samt der Wiese vor den Schlamm und Schuttmassen, die der abgeholzte Berg herunterwälzen wird!«“ (02.902 f.) Was da so besorgt klingt zeigt aber auch weniger ein reines ökologische, als vielmehr ein „nachhaltiges“ ökonomisches Motiv. Als Salander wieder einmal vom Bahnhof aus „einen längeren Gang durch abermals neuentstandene oder ausgebaute Quartiere [machte] und unterhielt sich damit, ein und anderes Haus zu erspähen, auf welches er flüssiges Kapital geliehen hatte. Da er aber kein fleißiger Stadtgänger war, so vermochte er die Häuser schon nicht mehr herauszufinden. Hierüber fielen seine Gedanken auf das bedenkliche Umsichgreifen der Baulust, welcher er ja selbst Vorschub leistete, und auf die Reden, welche bereits von einem unvermeidlichen Häuserkrach umgingen. Mag er kommen, dachte er, ich habe nur erste Hypotheken, und ohne das: mitgeflogen, mitgefangen!“ (02.922)

Wohlwend ist von anderem unternehmerischen Kaliber als Jukundus! Als Salander nämlich am Tage nach seiner Ankunft Tacheles reden will, finden wir unvermittelt uns bei einem Hause wie im alten Goldach zu Strapinskis Zeit, denn Salander „bemerkt, daß an diesem Hause wirklich Arnold von Winkelried mit den Speeren im Arm auf Goldgrund gemalt, prangte, nebst einer Inschrift: »Sorget für mein Weib und meine Kinder!« Das Haus gehörte dem Herrn Louis Wohlwend, der auch das Bild malen ließ“ und den Salander im ersten Stockwerk bei Schadenmüller & Komp.« findet. In der leeren Kontorstube ist man damit beschäftigt, „Abzüge eines unordentlich autographierten Zirkulars zu falten, in Umschläge zu stecken und mit Gummi zu verkleben“, als Salander „in das Kabinett“ des Herrn W. eintreten kann. „Als er eintrat, sah er an einem breiten Schreibtisch von Mahagoni, in einen großblumigen Schlafrock gekleidet, einen Mann sitzen, der ihm den Rücken zuwandte und eifrig zu schreiben schien, ohne sich aufzurichten.“ (02.754) Es ist Wohlwend, der eine Komödie spielt und sich zugleich als Mann von Welt gibt. „»Ei der Tausend, so sei willkommen«, sagte der …, die Hand hinhaltend und den unwillkommenen Ankömmling prüfend anblinzelnd, eher wie ein kritischer Gläubiger als wie ein böser Schuldner“, um den Rollentausch zu proben und nicht ohne Ironie, wenn wider bessern Wissens fragt „ » …was führt dich für ein guter Stern her?«“ (02.755) Er hat auch sogleich eine Entschuldigung fürs Missgeschick: „»In der Tat, ich erinnere mich an etwas dergleichen, habe aber nicht beachtet, wen es betrifft. Unsere Geschäfte haben // sich leider durch zu raschen Aufschwung so sehr ausgedehnt, daß ich den Überblick momentan nicht zur Verfügung habe. Die Bank hat ein bedeutendes Guthaben bei uns; indessen, wir stehen in Gegenrechnung, und ich müßte nachschlagen. Sapperment! Hundertsechzigtausend Franken! Du machst ja große Geschäfte, Freund!«“ (02.755 f.), und kann vorgeblich nix machen und bleibt doch großspurig: „»… Du mußt wissen, daß wir uns in einer unversehens hereingebrochenen Krise befinden, welche hoffentlich vorübergehend ist!« / »Wer sind denn die Wir?« / »Nun, die Firma und ich, deren Inhaber! Früher war ein gewisser Schadenmüller dabei. …«“ und weiß – als Salander ungehalten wird - sich auf Recht und Gesetz zurückzuziehen: „»noch bin ich nicht fallit! Und nie gewesen! Und wenn ich es wäre, so stehe ich in der Hut der Gesetze und des Rechtes und ist überall mein Haus meine Burg!«“ (02.756) und gibt sich selbst als gutes Beispiel, den Kopf oben zu halten in der eher unfreiwilligen Muße und sich anderweitig zu beschäftigen. Salander aber „nahm seine brasilianische Anweisung dem guten Freunde aus der Hand, steckte sie sorgfältig ein, unterbrach die Rede und fragte nur noch: »Bist du verheiratet, Louis Wohlwend?« / »Wieso fragst du das? Nein!« erwiderte dieser. / »Ich meinte nur wegen des schönen Winkelriedspruches, der an dein Haus gemalt ist! Du bist wohl im allgemeinen ein Beschützer der Witwen und Waisen oder solcher, die es werden könnten?« / »Du weißt, daß ich von jeher einem idealen Zuge nachgehangen bin, und die Wohnhäuser freier Bürger mit edlen Sinnsprüchen historischen oder moralischen Gehaltes zu schmücken und dazu Anregung zu geben, dünkt mich lobenswert!«“ (02.757)
Es soll nicht die letzte Begegnung der beiden „Freunde“ sein – doch wer will derweil bezweifeln, dass der von Salander beauftragte Notar mit Recht befürchtet, dass „viele anvertraute Gelder … ins Wasser gefallen [sind], wo es am tiefsten ist“ (02.758), wie das Wasser noch eine weitere Metapher hergeben muss mit einem Seitenhieb auf alle Utopie! Was man im Kabinett W.s nur ahnen kann – Wohlwend ergeht sich dort in Heraldik -, wird keine zehn Seiten später als kleines Reich der Freiheit aufleuchten, wenn bei einem Waldspaziergang der Familie Salander Wohlwend beim Fischen in gar nicht einmal trübem Wasser entdeckt wird. So ist das selbstbestimmte Leben: gestern noch Kaufmann, gerade noch Künstler und morgen schon Fischer! „Die Überraschung bannte beide Parteien fest, so daß um Wohlwends Beine die Bachwellen einen kleinen Schaum erregten und hinter Salander seine Familie gedrängt stehenblieb. Wie es meistens geschieht, war der unrechtleidende Teil wieder verlegener als der andere, und da Wohlwend die Salanderschen verblüfft vor sich sah, richtete er sich hoch auf, brachte die Hand an den Hutrand und rief: »Ah, salut!« / »Gibst du hier Audienzen?« sagte Salander endlich, ohne sich zu rühren. / »Wie du willst!« versetzte Wohlwend; »wo sollte ich am heutigen Tage mich hinflüchten als an den Busen der Mutter Natur? Es ist gewissermaßen mein Ehrentag, an dem ich das Martyrium unseres Jahrhunderts antrete als Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein! Heut stehe ich im Amtsblatt, da ist die erste Folge, daß ich mein bescheidenes Plätzchen im Kaffeehaus, mein harmloses Spielchen um den Kaffee entbehren muß; das erfordert die Etikette, wie sie einmal ist, bis sich die Sintflut des Geschwätzes verlaufen hat! Du weißt, Freund Martin, daß ich von jeher einem edeln Idealismus gehuldigt; der kommt mir nun zu gut und läßt mich an // so idyllischen Gegenständen Trost suchen, wie sie sich hier darbieten! …«“(02.767 f.) Auf Anraten der Frau aber ziehen die Salander ihres Weges, dass Wohlwend „wie versteinert in seinem Bache [stand]. In Gesicht und Stimme der Frau hatte trotz einer blassen Unbeweglichkeit eine solche mit Verachtung durchwirkte Strenge gelegen, daß ihm die Furcht aufsteigen wollte, es gäbe noch höhere Mächte als Konkursrichter und Gläubigerversammlungen.“ (02.768)

Jahre später – Wohlwend hat inzwischen in ein Vermögen eingeheiratet, dass er einen Teil seiner Schuld begleichen kann – hat er eine neue Quelle des Wohlstandes entdeckt. Da ist er nämlich gegenüber Salander überzeugt, „»daß ihr bei der Aufrichtung des unmittelbaren Volkswillens, die ihr glorreich vollzoget, eine große Sache übersehen, sozusagen rein vergessen habt! Die Religion habt ihr links liegen lassen und die Kirche vor den Kopf gestoßen, statt die Geistlichkeit ins Interesse zu ziehen! Das wird sich rächen!« / »Wer hat denn der Religion oder vollends den Geistlichen etwas getan?« fragte Salander, »ich wenigstens, der nicht dabei gewesen, weiß nichts davon!« / »Es ist genug getan, wenn man tut, als ob sie nicht da wären[Anm.: eine selbstironische Anspielung auf Kellers Irreligiosität?], und es ist jammerschade um die Möglichkeit, den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten!« / Salander rief lachend: »Den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten? Du sprichst ja in Jamben! So wollen wir auch damit fortfahren! Weißt du noch, wie Schillers Don Carlos schließt? Nicht? ›Kardinal, ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihre!‹ So wird das Stück immer wieder schließen!« / »Und ich werde nicht ruhen und meine Idee an den Mann zu bringen suchen!« entgegnete Wohlwend, für welchen Salanders Zitat unbrauchbar war, da er den Don Carlos nie ausgelesen hatte. »Ich könnte viel Versäumtes nachholen und mich gegen den Lebensabend hin vielleicht dem Vaterlande noch nützlich machen!« / »Das wird ja immer merkwürdiger!« dachte Salander, »er kommt, eine theokratische Bewegung auf unsere Demokratie …«“ (02.933)
Und so ist es: Wohlwend wirbt fleißig für seine Idee, reist durch die Weltgeschichte, um „geistliche und weltliche Anführer“ heimzusuchen, erdenkt sich sich eine Verfassung, „in welcher für alle Ratsversammlungen, vollziehenden Gewalten und Gerichte dem lieben Gott das Präsidium vorbehalten war und zur unmittelbaren Leitung der Geschäfte Vizepräsidenten durch die Kirchensynode gewählt wurden, die mit dem großen Landesrate zusammenfiel. Diese Synode sollte aus ebensoviel Laien als Geistlichen bestehen. In allen weltlichen und geistlichen Behörden, besonders auch in den Gerichten, wurde bei wichtigen Beschlüssen und Urteilen, wenn die Stimmen gleichstanden, dem göttlichen Präsidenten der Stichentscheid mittels des Loses anheimgestellt“ (02.997) usw. usf. Man hört hernach selbst seinen Schöpfer Gottfried Keller befreit aufatmen, dass Wohlwend „außer bei ein paar Perpetuum-Mobile-Erfindern und dergleichen wenig oder gar keinen Anklang“ findet. Muss man da nicht unwillkürlich an den Kreationismus und sonstiger fundamental-religiös verbrämter Erscheinungen bis hin zur Überspitzung durch den SF-Autoren Hubbard und seiner Gründung Scientology® denken, deren Nähe zu totalitären Systemen sich nicht verheimlichen lässt? Und auch das Mittel der Intrige ist dem Religionsstifter nicht fremd, wenn er seine Schwägerin – eine junge Frau von „klassischer Schönheit“ – einsetzt, um dem guten Ruf Salanders zu schaden.
Aber wird denn nicht schon die kapitalistische Produktionsweise auf eine religiöse Spitze getrieben? Schon im Zusammenhang von Ware und Tausch wurde dies gezeigt. „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding“, behauptet Marx „Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ Bliebe es beim Gebrauchswert, nichts wäre mysteriös an der Ware. Aber der Tauschwert erhebt sich über den Gebrauchswert. Um zu begreifen, was geschieht, greift Marx zu einer Analogie und flüchtet „in die Nebelregion der religiösen Welt … Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. … Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt … aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert“ (20a.85 ff), kurz und gut, aus der Arbeitsteilung.
Wessen wir bedürfen, kommt uns von andern. Was wir tun, nehmen uns andere. „Der Unternehmer arbeitet nicht mehr für den Kunden, sondern für den Markt …“, dass die Produktion selbst Spekulation wird (20a.236 f.), selbst die „Exkremente der Produktion“ werden nutzbar gemacht (20c.110). Die schöpferische Phantasie kennt keine Grenzen und trachtet, selbst aus Scheiße Geld zu machen! Alles lässt sich kaufen und verkaufen, wird Ware – bis hin zu Gewissen und Gesinnung, und verselbständigt sich, um ein eigenes Leben zu führen, „agiert“ nach den Worten Walter Benjamins, „nach eigenen Gesetzen als Schauspieler auf einer schemenhaften Bühne“ (zit. n. 18c.11 f.) – wie die zwo Rüpel zur Hochzeit der Salander-Töchter.
Geld ist die besondere Ware, welche die Unterschiede der Gebrauchswerte auslöscht im Preis. Für die Mischpoke von kreativer Branche und Marketing gibt’s den Seitenhieb durch Marx: „Der Warenhüter muß daher seine Zunge in ihren Kopf stecken oder ihnen Papierzettel umhängen, um ihre Preise der Außenwelt mitzuteilen.“ (20a.110)

„Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“ ohne „beide Extreme“ vermittelnden Prozess von An- und Verkauf, „Geld heckendes Geld“, das „in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr“ – der Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft - trägt (20c.404 f.). „Wie das Wachsen den Bäumen, so scheint das Geldzeugen … dem Kapital in dieser Form als Geldkapital eigen“, es wächst. Und ein weiteres Bild ist das des eingekellerten Weines, der „nach einer gewissen Zeit auch seinen Gebrauchswert verbessert“, egal, was sein Besitzer gerade macht, „schlafen oder wachen, sich zu Hause oder auf Reisen befinden, bei Tag und bei Nacht.“ (20c.406) Die Gemeinschaft der Gläubigen spricht dem Ding ein Eigenleben zu, glaubt, es arbeite, dass man mit Marx schrei’n will: „Das Geld hat jetzt Lieb’ im Leibe“ (ebd.)!
Der Handel aber ist viel älter und kommt uns aus einer keineswegs idyllischen Vormoderne und wird selbst die Postmoderne überleben. Aber das Geheimnis des Geldes steckt schon in der scheinbaren Komparativbildung vom Gläubigen zum Gläubiger, der immer einen braucht, der Schuld auf sich lädt. Darum heißt auch der moderne Sünder ein Schuldner. Der Gläubiger ist dabei allemal der bessere Gläubige am System, hat er doch i. d. R. nicht nur das kirchliche, sondern auch das bürgerliche Recht auf seiner Seite, belegt und auf Heller und Pfennig berechenbar durch angewandte Mathematik und Saldenbildung in der kaufmännischen Buchhaltung und der höheren Mathematik in glanzvollen Tempeln von Bank und Börse. „In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert. … Die Geldhungersnot bleibt dieselbe, ob in Gold oder Kreditgeld, Banknoten etwa, zu zahlen ist.“ (20a.152) Da ist es egal, ob heute noch alle sechs Sekunden ein Kind auf der Welt verhungert, Hauptsache bleibt, „toxische“ Papiere werden entgiftet, systemtragende Säulen nicht geschleift und dem Markt überlassen. „Von ihrer Geburt an waren die mit nationalen Titeln aufgestutzten großen Banken nur Gesellschaften von Privatspekulanten, die sich den Regierungen an die Seite stellten und, dank der erhaltenen Privilegien, ihnen Geld vorzuschießen imstande waren. Daher hat die Akkumulation der Staatsschuld keinen unfehlbareren Gradmesser als das sukzessive Steigen der Aktien dieser Banken, deren volle Entfaltung von der Gründung der Gründung der Bank von England datiert (1694). / …
Um dieselbe Zeit , wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.“ (20a.783) „Ruhig fuhr nun das Schifflein Martin Salanders zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturmes wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen. Manches Stück mußte er noch als gefälschte Ware über Bord werfen; allein der Sohn wußte unbemerkt die Lücken so wohl zu verstauen, daß kein Schwanken eintrat und das Fahrzeug widerstandsfähig blieb den bösen Klippen gegenüber, welche bald hier, bald dort am Horizont auftauchten.“ (2.1018)

 

Lieber Friedrichard,

was bitte ist das? Eine Rezension sicher nicht. Über keines der Bücher erfährt man etwas, im Gegenteil, man muss sie gelesen haben, um dem Text möglicherweise folgen zu können.
Insofern ist der Text hier genau so falsch wie in den Rubriken für Geschichten, in denen du ihn als montiertes Essay vermutlich deshalb nicht gepostet hast, weil dir klar war, er würde nicht stehen bleiben.
Nur, wer bitte soll das hier lesen? Für wen, glaubst du, ist dieser Text überhaupt interessant?
Ich habe mich ehrlich bemüht, aber nach zwei Absätzen aufgegeben.

Sorry
sim

 

Lieber Friedel,
der Text ist (hier) falsch, steht oben zu lesen, es sei keine Rezension, was sicher nicht der Stein des Anstoßes ist. Ich selbst habe auch schon eine Kurzgeschichte als Rezension eingestellt, die zwar gelesen, aber nicht kommentiert wurde, und mehrfach eine Rezension als Aufforderung verfaßt, sich nicht einem einzelnen Buch, sondern einem Autor zuzuwenden. Nichts anderes haben wir hier.

Es ist eine Reflektion über ein Oevre, nicht über ein Gedicht oder eine Novelle, und da das Oevre groß ist, wird die Reflektion so schnell nicht abzuhandeln sein. Es bringt viel eigenes, der Verfasser tritt in Wechselwirkung mit dem Autor, nicht typisch für einen Essay. Ob es eine kritische Reflektion sei, ob die nötige Distanz zur Beurteilung eingehalten wird? Sicher nicht, dies gleicht eher einer Hommage an Gottfried Keller; jede Zeile atmet: Lest Keller!!!
Man kann es sich ausdrucken und zur Gesamtausgabe von Keller legen, so man hat, und bei der gelegentlichen Lektüre die passende Passage aus Deinem Text hinzuziehen. Damit verbinde ich gute Erwartungen; denn die Gedanken sind doch sehr tiefgehend und sicher bereichern sie die Lektüre.

Braucht Keller den Vergleich mit Homer? Vielleicht ist das nur das maximal mögliche Lob eines Altphilologen, wenn einer es in den Olymp der Dichter geschafft hat, fällt dieser Vergleich. Dabei beeindruckt uns an Homer vielleicht nur, daß es alt ist, und manches, was wir dem Dichter als Person zurechnen, war vielleicht nur Gewohnheit seiner Zeit. Ich erinnere an Raoul Schrotts Buch über Homers Heimat (Rezension hier im Forum). Wir müssen ihn ja nicht gleich, wie Schrott es mit diebischer Freude tut, kastrieren. Aber: Wenn Keller den Olymp besteigt, kann Homer gern im Keller bleiben.

Gruß Set

 

>Lieber Friedrichard, / was bitte ist das?<, fragstu,

lieber sim.

Es ist genau das, als was es bezeichnet wird: eine Montage und Besprechung des Grünen Heinrich, Heinrich Lee (der Prot) und Gottfried Keller (der Mann, der sich hinterm Lee verbirgt), wobei diese "Autobiografie", deren erste Fassung überwiegend während des dritten Jahrzehnts eines Lebens verfasst wurde und im Übergang vom 6. ins 7. Lebensjahrzehnt revidiert wurde. Ich erlaubte mir dabei, den Grünen Heinrich ans weniger romanhafte reale Leben Kellers anzunähern, weil Werk & Leben sich nicht voneinander trennen lassen. Insofern ist's eine Rezension (= Beschreibung) und mE hier durchaus am richtigen Ort. Dabei kommt Keller selbst so oft zu Wort, da er sich zum eigenen Werk ausführlich äußert und an einer eigenen Poetik arbeitet, dass ich weniger ein einzelnes Werk (ausgenommen den Grünen Heinrich Ur- und Altersfassung), was mE Zensur ist.

Und was, lieber sim, schadet "selber-"lesen? >Für wen, glaubst du, ist dieser Text überhaupt interessant?< Weißtu im voraus, für wen was interessant ist, außer derjenige baute ein IKEA-Regal auf?

>Ich habe mich ehrlich bemüht, ...< was Dich ehrt. > .... aber nach zwei Absätzen aufgegeben.< Darum auch die Aufteilung in sieben Happen! Niemand ist gezwungen, alles in einem Zug zu lesen.

>Sorry<, gebonnt, sim, aber bei mir bräuchte sich niemand zu entschuldigen.

Ich wünsch Dir schöne Tage!

Hallo Set,

die Analyse - incl. Identifikation des Autors mit dem Obejekt/Subjekt des Textes - ist richtig und gelegentlich wunder ich mich auch, dass Rezensionen nicht besprochen werden (sehn wir mal von gelegentlichen Ausnahmen ab).
Dabei ist der Homer zwangsläufig durch Keller selbst hinzugekommen.

Auch Dir schöne Feiertage

Friedel

Hallo Leute!

Lest Keller!

Schöne Tage diese Tage!

 

Salü Friedrichard,

Du hast hier einen interessanten, literarischen Teppich geknüpft und offensichtlich mit viel Herzblut durchwoben. Voll bunter Muster, mit deutlichen Quer- und Längsfäden, Selbstreflexionen und der zu Keller passenden kauzig-schelmischen Ironie. Ich könnte mir vorstellen, dass er sein Vergnügen gehabt hätte, an diesen spöttischen Bezügen zu Seldwyla, welches ja damals wie heute nicht nur in der Erzählung existiert. Aber die seldwylischen Bürger schnallen es bis heute nicht, wo sie auf Sand bauen ...

Mit Deinem Text, wirst Du selbst zum Odysseus, der die gewagte Fahrt durch Kellers Werke aufnimmt und nicht nur ein trojanisches Pferd auf Kg.de einstellt.
Gäbe es hier eine Rubrik Essay, hätte Deine Rezension dort sicher eine bessere Heimat. Abgesehen davon finde ich Deine Besprechung - so eingebunden in Kellers Lebensumstände - sehr dicht und spannend geschrieben.

Einziger Meckerpunkt zur 'Abschweifung': Die bibliographischen Hinweise so früh, fast zu Beginn der Abhandlung, sind ein rechter Stolperstein, trotz der Erlaubnis in der Überschrift, sie überspringen zu dürfen! Da blieb ich echt kleben.

Ansonsten: Chapeau, das ist Dir ‚trefflichst’ gelungen!

Lieben Gruss,
Gisanne

 

>Aber die seldwylischen Bürger schnallen es bis heute nicht, wo sie auf Sand bauen ...<, was ja auch ein Charakteristikum Seldwylas, Goldachs & Ruechensteins ist. Merkten sie's, Seldwyla wäre so wenig real wie Schilda (wobei die Schweizer die Intellektuellen unter den Schild-/Spießbürgern stellen) und Calau hätte Bestand,

liebe Gisanne.

Schön, von Dir zu lesen und zu erfahren, dass dieses Werkchen auch vor Schweizer Augen bestehen kann, dass ich vor Verlegenheit leicht erröte (könnt' man heute sehn, da seit einigen Tagen der Putz auf Streichholzlänge - in memorian John Lennon - gestutzt ist. Jetzt kann ein Gegenüber auch erkennen, ob ich lächel/grins. In drei Monaten kann man's höchstens wieder an den Augen feststellen.

Was den Meckerpunkt betrifft so lieb ich es, Stolpersteine zu legen (manchmal sogar Fußfallen). Aber das ist auch ein Prinzip im Jazz. Was glatt ist, ist eher ermüdend, vor allem wäre ein korrekter Anhang andrs ausgefallen, als die Quellen zu Beginn des Textes schon mit Kommentaren zu versehen.

Noch einige Bemerkungen: die Gefahr, den Keller so weit aufzusaugen, dass nicht mehr ich herauskäme - was ich zunächst befürchtet hatte - erledigte sich von selbst, denn trotz charakterlicher + biografischer Parallelen sind wir schon sehr verschieden (zB bisher hab ich's erst auf fünf(hundertundvier) Frauen in meinem Leben geschafft, aber ohne Schwester (ach, bin ja doch kein Don Juan!).

>Mit Deinem Text, wirst Du selbst zum Odysseus, ...<, sofern ich vor den Füßen der Phäaken Prinzessin lande - null Problemo!

>Gäbe es hier eine Rubrik Essay, hätte Deine Rezension dort sicher eine bessere Heimat<, was sicherlich stimmt.

>Abgesehen davon finde ich Deine Besprechung - so eingebunden in Kellers Lebensumstände - sehr dicht und spannend geschrieben. / .../ Ansonsten: Chapeau, das ist Dir ‚trefflichst’ gelungen!<, was mich mehr als frut!

Frohe Ostern und fröhliche Western (Wolfgang Neuss)

Friedel

 

Einige werden sich erinnern, dass ich kurze Zeit nach über 3000 Seiten Gottfr. Kellers einiges von Jeremias Gotthelf gelesen hab. Vielleicht hat die eine oder der andere schon befürchtet, dass ich darüber eine Rezension schreiben könnte. Gepfiffen! Ich ließ quasi schreiben, was jeder im folgenden sehen kann.

Ich weiß halt,

liebe Leute,

dass ich ein fauler Hund bin & nie fertig werde. In der Rezension zum gesamten lit. Werk Gottfr. Kellers ist das Spätwerk eindeutig zu kurz gekommen, weil ich es auch z. T. nicht richtig beurteilt habe. Das hol ich hiermit nach und stelle richtig – was nicht heißt, dass die Arbeit nun getan wäre. Bei allen Musen und Apoll, ’s ist’s sicherlich nicht – als wäre die Arbeitsweise Kellers ansteckend!
Da wäre zunächst weitere Literatur anzuzeigen und der bisherigen Liste zuzufügen – sicherlich das einfachste überhaupt. Hinzu kommt jedoch, dass mir bei Frau Salander warm ums Herz werd und ich drüber nachdenk, ob sie im realen Leben nicht auch Marie geheißen haben könnte (dipl.-schöne Konstruktion, aber nach jetzigem Stand korrekt) und in D’dorf begraben läge wie der Pudel Kellers in Heidelberg und Bingo zu Lingen (und wohl auch bald Belgia, die Groendaele). Vom Gesamtwerk ergäbe sich eine schöne Symmetrie aus der vermuteten Identität der Judith des Grünen Heinrich mit der Marie des Salanders. Aber das kann dauern, selbst wenn die Altstadt mit ihrem Altbier mir näher liegt als alle Myrrhen von Melos! Dann gilt es, den Anhang in den alten Text einzubauen, Doppelungen zu vermeiden („Redundanz“ mag seine Funktion haben, vermag aber zugleich zu langweilen) und zu streichen etc. Bis dahin mag die jetzige Form genügen.
Hier zunächst die für den Anhang verwendete Literatur, anschließend der Anhang, den ich sinnigerweise auch an den Text anhängen will.

01.
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla / Gesammelte Gedichte. Vollständige Texte nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der von Jonas Fränkel und Carl Helbling besorgten kritischen Gesamtausgabe. Mit Anmerkungen, einer Zeittafel und einem Nachwort von Helmuth Nürnberger. München 1978

02.
Ders.: Erzählungen. Vollständige Texte nach den Ausgaben letzter Hand; für das Sinngedicht wurde die von Jonas Fränkel besorgte kritische Ausgabe hinzugezogen. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Helmuth Nürnberger. München 1978

03.
Ders.; Der grüne Heinrich. Vollständige Ausgabe. Nach dem Text der Ausgabe von 1879/80. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Helmuth Nürnberger. München 1978

18.
Keller-homepage 3w.gottfriedkeller.ch/Aufsätze zu Kellers Leben und Werk/…
18a.
W. Morgenthaler, .../Zeitgeschehen in „Martin Salander“
18b.
Michael Böhler, .../“Fettaugen über einer Wassersuppe“ – frühe Moderne-Kritik beim späten Gottfried Keller
Die Diagnose einer Verselbständigung der Zeichen und der Ausdifferenzierung autonomer Kreisläufe
18c.
ders., .../»Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß!«
‚Phantasmorgien der Moderne’ oder Verklärungsrealismus?

19.
Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologue der deutschen Sprache, Bd. 7, 3. Aufl., Mannh., Leipzig, Wien, Zürich 2001

20.
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in MEW Berlin 1976 ff.
20a. Bd. 1, MEW Bd. 23, Berlin 1977
20b. Bd. 2, MEW Bd. 24, Berlin 1976
20c. Bd. 3, MEW Bd. 25, Berlin 1979

Vor’m März ist Nachmärz in der Vehfreude wie dem Rest der Welt –
Die Geburt der Grünen Bewegung aus dem Geist des Pragmatismus

„ Haben Sie … noch eine Stunde für mich übrig, so lassen Sie mich wissen, was sie Neues eingespannt haben; ich möchte gern wieder in Ihren Seldwyler oder altzüricher Gärten oder gar im Jugendparadies des ’grünen Heinrich’ mit Ihnen wandeln, | wo es etwas weniger grausam realistisch (Verzeihung für das Wort!) als in Martin Salander hergeht“, schreibt Theodor Storm am 9. Dezember 1887 an Gottfried Keller. Dabei hätt’ ihm das Ohr klingeln und das Auge überlaufen müssen mit dem Vorwort zum zwoten Bande der Leute von Seldwyla, spätestens aber mit den alttestamentarisch anmutenden Worten „Denn es brach eine jener grimmigen Krisen von jenseits des Ozeanes über die ganze Handelswelt herein und erschütterte auch das Glorsche Haus, welches so fest zu stehen schien, mit so plötzlicher Wut, daß es beinahe vernichtet wurde und nur mit großer Not stehen blieb. Schlag auf Schlag fielen die Unglücksberichte innerhalb weniger Wochen und machten den stolzen Menschen die Nächte schlaflos, den Morgen zum Schrecken und die langen Tage zur unausgesetzten Prüfung. Große Warenmassen lagen jenseits der Meere entwertet, alle Forderungen waren so gut wie verloren und das angesammelte Vermögen schwand von Stunde zu Stunde mit den hochprozentigen Papieren, in welchen es angelegt war, so daß zuletzt nur noch der Grundbesitz und einiges in alten Landestiteln bestehendes Stammvermögen vorhanden war. Aber auch dieses sollte dahingeopfert werden, um die eigenen Verbindlichkeiten zu erfüllen, welche im Augenblicke des Sturmes bei dem großen Verkehre gerade bestanden“ (01.547) aus dem Verlorenen Lachen, mit dem der Zyklus der Leute von Seldwyla abgeschlossen wird.

Aber kommen wir zum Alterswerk Kellers, dem Salander!
Nach der Neufassung des Grünen Heinrich und der Herausgabe des Sinngedichtes entpuppt sich das Alterswerk als eine schwere Geburt. Lange wird’s angekündigt, denn schon am 8. April 1881 schreibt Keller an Rodenberg, dem Herausgeber der Deutschen Rundschau, jetzt denke er „allmählich auf einen einbändigen kleineren Roman“ und schließt „was daraus wird, mag der Herrgott wissen.“ Arbeiten an den Gesammelten Gedichten lenken ihn einstweilen ab. Das Romänchen könnte „wegen zu großer Aktualität als Pamphlet“ angesehen werden (so Keller gegenüber Heyse am 1. Juni 1882) - die gleichen Bedenken, wie schon zehn Jahre zuvor beim Verlorenen Lachen! Das verlorene Lachen habe „ein dubioses Schicksal in Aussicht. Es sind konkrete hiesige Zustände darin, die jedermann in der Schweiz sogleich erkennt. Nun frägt sich's, ob der Eindruck nicht derjenige des Tendenziösen sein wird, obgleich es mehr unrichtig als billig wäre. … Dann geriet ich durch eine Veränderung des Titels in eine etwas höhere Stimmungsschicht und endlich auf den Gedanken die etwas schnurrpfeiferliche Sammlung doch mit einem ernsteren Kultur- und Gesellschaftsbilde abzuschließen. Dasselbe wäre leicht zu einem selbständigen einbändigen Roman auszuspinnen gewesen. / Nun frägt sich's, ob man diese Ausführung nicht entbehrt und die Novellenkürze hier nicht schädlich ist. …." (an Emil Kuh am 6. Dezember 1874, zit. n. 01.1029)
Keller wird hin und her gerissen. ’s ist, als fürchte er Kanzelpredigten wider Werk und Meister wie beim Verlorenen Lachen geschehn.
Im Sommer 1883 teilt er Rodenberg mit, er habe sich den Roman wieder vorgenommen, „weil der Gegenstand einen zu aktuellen Charakter hat, um ihn sich verliegen lassen zu können.“ (8. Juli 1883) Nürnberger ironisiert, wenn Keller – gewarnt durch Erfahrung – den Vorsatz äußere, er müsse „‚einmal ein Buch bis auf das letzte Wort fertig machen, um die übereilten Schlüsse und deren Unfertigkeit zu vermeiden’, so sollte sich dieser Wunsch in bezug auf den »Martin Salander« wieder nicht erfüllen. Dem Vorabdruck [Anm.: 1886] in der »Deutschen Rundschau« fehlen die beiden Schlusskapitel …“ (02.1127), um dann Probleme aufzuzählen, Probleme, wie sie Keller auch schon ein halbes Menschenleben zuvor mit Vieweg und dem Grünen Heinrich hatte – kurz: Probleme eines Anfängers.
Schon mit dem Titel fängt es an!
Ursprünglich will Keller den Roman „Excelsior“ nach einem Gedicht von Longfellow nennen. Letztlich aber nimmt er eine Landkarte des Kantons Zürich, sucht Anregung und fährt schließlich mit dem Finger hin und her – erinnert Excelsior nicht an den glanzvollen Namen einer noch prächtigeren Lokomotive, gar eines noblen Personenzuges?
Bei Dübendorf ist der erste Halt. Der Name passt nicht: auf der Zürcher Unterstraß gibt’s ein „unanständiges“ Haus, welches einem namens Dübendorfer gehört.
Aufwärts geht’s nach Päffikon und Wetzikon, „nichts anzufangen! Da komme ich gegen das Kellenland, ins Tößtal, stoße auf Saland: getroffen, das gibt einen famosen Namen! …“ (überliefert durch Peter Jenny, zit. n. 02.1128). Gut, dass Keller kein Ostfale ist, der wäre sonst am Blocksberg mit der Brockenbahn zu Not und Elend gekommen …

Lange, bevor das Romänchen überhaupt beginnt, schreibt der ehrbare Kaufmann Martin Salander aus einem fernen Brasilien, wo er seine Geschäfte und vor allem Finanzen regeln und dem Pleitegeier entkommen will, an seine Frau zu Münsterburg einen enthusiastischen Brief, als er von Verfassungsreformen in der Schweiz erfahren hat: „‚Wenn Du (…) erfreut bist, daß wir so leidlich bald wieder auf einen guten Weg gekommen sind, so mußt Du das nicht meiner besonderen Geschicklichkeit und Tatkraft zuschreiben, sondern dem freundlichen Glücke, welches mir zur Seite ging. Allerdings habe ich auch einigen Fleiß aufgewendet, wie es der Mensch etwa tut, wenn er sich ein Ziel sichtbar winken sieht. Die Dinge, welche bei Euch zu Hause sich vollzogen haben, diese neue Verfassung, welche unsere Republiken sich gegeben haben, diese unbedingten Rechte, die das Volk ruhig, ohne irgendeine Störung sich genommen hat, alles das möchte ich in seinen glorreichen Anfängen noch sehen und mit genießen, alles ruft mir zu: komm! wo bleibst du? Und nun kann ich als unabhängiger Mann kommen, der seinen Boden hat und nichts zu suchen braucht als die Gelegenheit, zu helfen und zu nützen! Und welch ein großer Augenblick ist es, in welchem unsere alte Freiheit den großen Schritt tut! Rings um uns hat sich in den großen geeinten Nationen die Welt wie mit vier eisernen Wänden geschlossen; zugleich aber hat sich mit dem moralischen Schritt, den wir getan, eine tiefste Quelle neuen Freiheitsmutes und Lebensernstes geöffnet, welche das Äußerste ertragen und das Härteste überdauern läßt und am Ende die Welt überwindet, wäre es auch im Untergang! Ein solches Gefühl der Selbstbestimmung, der Furchtlosigkeit und der Pflichtliebe schützt stärker als Repetiergewehre und Felswände “ (02.776), worüber er mitzuteilen vergisst, dass er alsbald heimkehren will. Durch den Brief erhält der Leser einen ersten Anahltspunkt, dass der Roman nach den unzeitgemäßen Gründungen des Königreichs Italien, des kleindeutschen Kaiserreichs und in dessen Gefolge der Dritten Republik Frankreichs und der Umwandlung der Donau- in eine k. u. k. Monarchie spielt. Tatsächlich wird er aber Gülitgkeit haben, bis die kapitalistische Produktionsweise – wie wir sie kennen – ein Ende findet!
Was an Vorgeschichte geschehen ist, erfahren wir wie nebenbei durch Keller oder lauschen es Gesprächen in der je aktuellen Handlung ab. Obwohl die Handlung linear verläuft, muss der Leser Rückblenden ertragen. Gegen Ende des Romans bringt der Sohn Salanders, Arnold, die ganze Geschichte auf einen Nenner und begrenzt zugleich den Zeitraum insgesamt: „‚So laß regnen, es wird auch wieder aufhören! Erinnere dich, Vater, an den Anfang unseres Jahrhunderts, als nach der durchgerungenen Helvetik das Vaterland auf den Kopf gestellt war und in der Knechtschaft des ersten Konsuls von Frankreich seufzte. Damals berichteten die Pfarrer, daß in ihren Gemeinden viele Leute lebensmüd seien und sich nach dem Tode sehnten! Jetzt nach achtzig Jahren sitzen wir, geringe Leute vom Lande, frei wie Lerchen in der Luft, wenn auch nicht frei von Leidenschaft vielleicht: wir sitzen hier in einem der Häuser der untergegangenen Aristokratie und pflegen Rats, ob wir noch reicher werden wollen oder nicht! Ich fürchte mich aber weder mit dem vielen Gelde, noch ohne dasselbe!’“(02.1008), denn Martin Salander wollte sich immer schon vom kleinbäuerlichen Milieu der Eltern befreien und wurde zunächst Lehrer, ohne unbedingt darin Befriedigung zu finden. Mit dem Erbe der verstorbenen Eltern hatte er ein Startkapital, um in die Textilbranche einzusteigen. Freilich: Wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Jugendfreundes Louis Wohlwend, für den er bürgte, brachten ihn ums Vermögen, das er aber durch den Export von Textilien und Strohwaren nach Brasilien und den Import von Kolonialwaren in die Schweiz wieder zurückgewinnen kann – wie bereits im zitierten Brief angedeutet. Dabei weiß er, als er heimkehren will, noch nicht, dass ihn Wohlwend wieder ein Vermögen gekostet hat … Doch beginnen wir von vorn!

Am 30. Dezember 1847 bejubelt der radikaldemokratische Emigrant Karl Heinrich Marx in der Deutschen Brüsseler Zeitung den Sieg der Radikalen in der Schweiz über den konservativen Sonderbund: „Der Sieg kommt der Volkspartei in allen Ländern Europas zugute; es war ein europäischer Sieg“, bevor im Nachmärz alles schiefläuft, was den 48-ern nur daneben gehen kann. Erinnert sei daran, dass der etwa gleichaltrige, notorisch erfolglose Maler und Lyriker Keller als Freischärler auf Seiten der Radikalen zwo Mal gegen Luzern gezogen ist. Fast ein Jahrzehnt später setzt er seine revolutionären Erfahrungen novellistisch in Frau Regel Amrain und ihr Jüngster um.
Während der Nachmärz den anderen deutschsprachigen Staaten den „Katzenjammer einer gescheiterten Revolution“ (so Morgenthaler auf 18a) beschert, entsteht hier inmitten eines restaurativen Europas eine neue Bundesverfassung, welche den alten Bundesvertrag von 1815 ersetzt und die Eidgenossenschaft von einem Bund souveräner Staaten in den modernen Bundesstaat mit souveränem und mehrsprachigem Staatsvolk verwandelt. Unter den Liberalen – die man nicht mit ihrer neoliberalen Enkelgeneration verwechseln darf - werden zudem die Grundlagen wirtschaftlicher Modernisierung zu einem der fortschrittlichsten Industrieländer Europas gelegt – freilich ohne große Industriestädte und deren augenfälliger Akkumulation des Massenelends, was gemeinhin eine geschichtslose Ökonomie an den Anfang der Moderne stellt – wobei man nicht unterschlagen darf, dass die Schweiz als Auswanderungsland gilt, Auswanderern zumeist aus der ländlichen Unterschicht …
Die führende Wachstumsbranche, von der andere Branchen Impulse empfangen, ist zunächst die Baumwoll- und Seidenindustrie, die sich wesentlich auf die Landschaft um Zürich konzentriert. Von den 12.000 Webstühlen finden sich gerade einmal 147 (nach Böhler auf 18b.293) - also nicht einmal zwo Prozent - in der Stadt selbst, was wiederum das Vorurteil intakter und idyllischer vorindustrieller Zustände fördern mag, wiewohl die Textilindustrie Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abzieht, was wiederum in der Landwirtschaft die Industrialisierung mit anstößt, die Jeremias Gotthelf, der Shakespeare des Dorfes, in seinem Werk aufarbeitet.

„Die ‚Käserei in der Vehfreude’ schildert den bäuerlichen Associationsgeist, wie er eine gemeinschaftliche Sennhütte für ein ganzes Dorf errichtet“, rezensiert im fernen Berlin Gottfried Keller. „Früher wurde der gute Schweizerkäse nur auf den Alpen von einzelnen Kühern ausschließlich producirt, indem man der Meinung war seine Feinheit und Würze sei die einzige Folge der Alpenkräuter. Seit aber die Chemie nachgewiesen hat daß es, wie bei mehren andern Erzeugnissen, so auch beim Käse mehr auf die Behandlungsweise ankomme, haben in der Schweiz viele Dörfer der Niederungen sich diesem Productionszweige zugewendet. Sie bestellen sich einen erfahrenen Senn, jeder Theilnehmer liefert vom Frühjahr bis zum Herbste alle entbehrliche Milch in die gemeinschaftliche Hütte, und die auf diese Weise den Sommer hindurch entstandene Menge von Käsen wird dann auf einen Schlag an einen Händler verkauft und der bedeutende Erlös unter die Theilnehmer vertheilt, je nach der Milch welche sie geliefert haben“, was Gotthelf veranlasse, alle – auch die kleinsten – Leidenschaften des Dorfes - Ehrgeiz, Neid, Eigennutz, Mistrauen, das „Durchdiefingersehen und wie alle die artigen Dinge heißen mögen … Vorzüglich zwei Momente ragen aus der Jugendgeschichte vorliegender ‚Käserei’ hervor: die gewaltige Revolution welche unter den Frauen entstand, als sie, die seit Jahrhunderten über den Ueberfluß an süßer Milch und Butter unbeschränkt gewaltet, darin geschwelgt, Gastfreundschaft geübt und auch ein ansehnliches Nadelgeld bestritten hatten, nun plötzlich sich auf das Unentbehrlichste beschränkt sahen und die reinliche, weiße, so ganz weibliche Domaine den harten Händen der industriellen Männer übergeben sollten. Ferner als die Käserei endlich zustandegekommen, die volksthümliche oder menschliche Art und Weise wie jeder Einzelne, fast ohne Unterschied, sich beeilte die Gemeinschaft zu betrügen durch verfälschte Milch welche er lieferte, und nicht daran dachte wie er sich nur selbst betrog, indem bald das Ganze darüber zugrundegegangen wäre.“ Die gesellschaftliche Tragikomödie ist natürlich mit einer komischen Liebesgeschichte verbunden. Obwohl der radikale Keller das Konservative wie die Kanzelpredigten des gelernten Pfarrers Gotthelf ablehnt, dessen erzählerisches Talent weiß er zu schätzen! „Pfarrer Bizius [Anm.: so der bürgerliche Name Gotthelfs] steht als Schriftsteller nicht über dem Volke von welchem und zu welchem er spricht; er strebt vielmehr mitten unter demselben und trägt an seiner Schriftstellerei reichlich alle Tugenden und Laster seines Gegenstandes zur Schau. … Ob dabei der beste Zweck hinsichtlich der ästhetischen Foderungen sowol als der pädagogischen erreicht werde, ist freilich eine andere Frage. Er sticht mit seiner kräftigen scharfen Schaufel ein gewichtiges Stück Erdboden heraus, ladet es auf seinen literarischen Karren und stürzt denselben mit einem saftigen Schimpfworte vor unsern Füßen um. … // Wahrscheinlich hat Bizius einst Theologie und mithin auch etwas Griechisch u. dgl. studirt; von irgend einer schriftstellerischen Mäßigung und Beherrschung der Schreibart ist aber Nichts zu spüren … Zuerst handelt es sich darum daß man so einfach, klar und natürlich schreibe daß die Legion der Esel und Nachahmer glauben nichts Besseres zu thun zu haben als stracks ebenfalls Dergleichen hervorzubringen, um nachher mit langer Nase vor dem misrathenen Producte zu stehen. Alsdann heißt es hübsch fein bei der Sache zu bleiben und sich durch keine buhlerische Gelegenheit, viel weniger durch einen gewaltsamen Haarzug vom geraden Wege verlocken und zerren zu lassen. Beide Disciplinen fließen öfter ineinander, und Hr. Jeremias benutzt alsdann reichlich die Gelegenheit sie mit einem Griffe beim Schopfe zu fassen und siegreich in eine Pfütze zu werfen. Erstlich ist seine Rede so wunderlich durch {wol, aber, daneben, jedoch}, durch unendliche Referate im Conjunctiv Imperfecti gewürzt und verwickelt, daß man oft ein altes Bettelweib einer neugierigen Bäuerin glaubt Bericht erstatten zu hören. Sodann läßt er sich alle Augenblicke zu einer süßen Kapuzinerpredigt, zu einer Anspielung mit dem Holzschlägel, zu einem feinen Winke mit dem Scheunenthor verleiten, welcher weit hinter die Grenze der behandelten Geschichte gerichtet ist. In „Die Käserei in der Vehfreude“, welche nur von Bernern ganz deutlich gelesen werden kann und wo es sich nur um Käs und Liebe handelt, wird wenigstens ein halbes Dutzend mal auf das frankfurter Parlament gestichelt. … // … Während der Dichter sonst im Leben unbesonnen, leidenschaftlich, ja sogar unanständig sein kann, wenn er nur hinter dem Schreibtische besonnen, klar und anständig und fest am Steuer ist: macht es Gotthelf gerade umgekehrt, ist äußerlich ein solider gesetzter geistlicher Herr, sobald er aber die Feder in die Hand nimmt, führt er sich so ungeberdig und leidenschaftlich, ja unanständig auf daß uns Hören und Sehen vergeht.“ Jedes seiner Bücher sei „eine treffliche Studie zur Feuerbach's ‚Wesen der Religion’. Der Gott der diese Bauern regiert ist noch der alte Donnergott und Wettermacher. Sie hangen ab von Regen und Sonnenschein, von Licht und Wärme und fürchten Hagel und Frost“ wie von ihrem Aberglauben, „der Teufel [spielt] eine gewichtige Rolle und Jeremias Gotthelf lässt uns diplomatischerweise im Unklaren, ob er nur als poetische Figur oder als baare Münze zu nehmen sei. Seine tugendhaften Helden sind alles conservative Altgläubige, und der Gott Schriftsteller mit der schicksalverleihenden Feder weiß sie nicht anders zu belohnen als daß sie entweder reich und behäbig sind, oder es schließlich werden. Die Lumpen und Hungerschlucker aber sind alle radicale Ungläubige und ihnen ergeht es herzlich schlecht. Spott und Hohn treffen sie um so schärfer, je länger ihnen der Bettelsack heraushängt und je dürrer ihre Felder stehen. Dies ist ganz in der Ordnung; denn nicht anders verhält es sich in der Wirklichkeit. Das Volk, besonders der Bauer, kennt nur Schwarz und Weiß, Nacht und Tag, und mag Nichts von einem thränen- und gefühlsschwangern Zwielichte wissen, wo Niemand weiß wer Koch oder Kellner ist…“ Bis in die neueste Zeit „hinein pflegte die deutsche Kritik jeden Schweizer der etwa ein deutsches Buch zu schreiben wagte damit zurückzuscheuchen daß sie ihm die ‚Helvetismen’ vorwarf und behauptete kein Schweizer würde jemals Deutsch schreiben lernen. In jetziger Zeit, wo die Königin Sprache die einzige gemeinsame Herrscherin und der einzige Trost im Elende der deutschen Gauen ist, hat sich Dies geändert, und sie begrüßt mit Wohlwollen auch ihre entferntesten Vasallen, welche ihr Zierden und Schmuck darbringen wie sie dieselben vor 500 Jahren noch selbst gesehen und getragen hat. Jeremias Gotthelf misbraucht zwar diese Stimmung, indem er ohne Grund ganze Perioden in Bernerdeutsch schreibt, anstatt es bei den eigenthümlichsten und kräftigsten Provinzialismen bewenden zu lassen. Doch mag auch Dies hingehen und bei der großen Verbreitung seiner Schriften veranlassen daß man in Deutschland mit ein bischen mehr Geläufigkeit und Geschicklichkeit als bisher den germanischen Geist in seine Schlupfwinkel zu verfolgen lerne. Wir können hier natürlich nicht etwa die philologisch Gebildeten, sondern nur diejenige schreibende und lesende Bevölkerung Norddeutschlands meinen welche so wenig sichern Takt und Divinationsgabe in ihrer eigenen Sprache besitzt daß sie gleich den Compaß verliert, wenn nicht im leipziger oder berliner Gebrauche gesprochen oder geschrieben wird.“ (Blätter für literarische Unterhaltung vom 29. und 31. März 1851)
Die Schweiz spürt die Globalisierung, die noch Welthandel genannt wird: hustet ein Bankokrat (Marx) oder Bankster (Roosevelt, neu aufeglegt durch Obama) im fernen Amerika, bekommen nicht nur Schweizer einen Schnupfen, wie auch der erste neuzeitliche totale Krieg, der Sezessionskrieg nicht spurlos an Spinnmaschinen und Webstühlen in aller Welt vorbeizieht. Es folgen – wie überall – „magere und fette Jahre“ (20c.218), die mageren vor allem für die da unten und die fetten insbesondre für die da oben.
Nicht, dass der Schweiz eine „Bankokratie“ (20a.752) unbekannt wäre!
Mit den 1870-ern wird der Eisenbahnbau impulsgebende Größe, zugleich Objekt der Begierde und moderner Metaphysik. Allen voran wäre der gewesene Freund und Förderer Kellers, der liberale Nationalrat Alfred Escher zu nennen, der sich 1855 aus der Politik zurückzieht, um sich mehr der Wirtschaft widmen zu können. Nun fördert er das Bank-, Kredit- und Versicherungswesen, gründet wie nebenbei Crédit Suisse und Swizz Life, führt die Nordostbahngesellschaft und initiiert die Gotthardbahn, die er bis 1878 auch dirigiert. Staatlich (!) subventionierte private Gesellschaften konkurrieren beim Ausbau des Netzes und sacken unermessliche Spekulationsgewinne ein. Schon 1871 wird der neue, repräsentative Zürcher Hauptbahnhof eingeweiht. Infolge der unzeitgemäßen kleindeutschen Reichsgründung boomt’s - bis es kracht: an der Börse wird 1873 die große Depression eingeläutet, fünf Jahre später verfliegt auch das das letzte Fünkchen Euphorie mit dem Konkurs der Nationalbahn. Kein Wunder, dass auch die Vehfreude gedämpft wird, denn der landwirtschaftliche Sektor bleibt von der Krise nicht verschont. Ungezählte Bauern müssen ihre Betriebe unter Wert verkaufen, können die steigenden Hypothekenzinsen nicht mehr tragen – was die Notare Weidelich, Schwiegersöhne des Martin Salander, weidlich ausnutzen werden.
Gottfried Keller macht sich in Preußen Illusionen zur Entwicklung in der Heimat – wie in Brasilien Martin Salander - und erlebt mit der Heimkehr als 36-jähriger einen Schock. Obwohl’s ihm wundervoll in diesem Land erscheint, schreibt er am 6. März 1855 an Lina Duncker in Berlin, dass er „in den Leuten dagegen, wie überall, die leidenschaftlichste Geld- und Gewinnsucht“ bemerke: „ …: alles drängt und hängt am Golde. Gott besser’s!“, und ein Jahr später an Ludmilla Assing (Nichte des Varnhagen von Ense): „Sonst ist auch die Gesellschaft gut in Zürich. Richard Wagner ist ein sehr genialer und kurzweiliger Mann, von der besten Bildung und wirklich tiefsinnig. … Außerdem ist es schrecklich, wie es in Zürich von Gelehrten und Literaten wimmelt und man hört fast mehr hochdeutsch, französisch u italienisch sprechen, als unser altes Schweizerdeutsch, was früher gar nicht so gewesen ist. Doch lassen wir uns nicht unterkriegen; bereits hat mit den ersten Frühlingstagen das nationale Festleben wieder begonnen und wird bis zum Herbst sein Wesen treiben. In Zürich haben wir vor 14 Tagen ein großes altstädtisches Frühlingsfest gehabt, wo alle Nationen der Erde, wilde und zahme, mit der Lola Montez, dem Kaiser von Rußland, Soulouque, Neuseeländer, Grönländer, Beduinen, Baschibozuks, kurz was man sich denken kann, in den reichsten und zierlichsten Costümen zu Roß und Wagen und zu Fuß durch die Straßen zogen. Auch ergreifen meine Herren Landsleute, als ob sie nicht bereits Feste genug hätten, begierig den Anlaß der Eisenbahneröffnungen, um gleich ein großes Volksfest daraus zu machen, wo viele Tausende zusammenkommen. So ist jüngst eines in St. Gallen gewesen, wo alle Arbeiter, welche die Bahn gemacht, in einem ungeheuren Aufzug mit bekränzten Werkzeugen und Wagen erschienen, so symbolisch und ausgedacht, als ob es aus dem Wilhelm Meister geschöpft wäre.* Possierlich war es, als der Hauptredner begann: Dieß sei der Tag, welchen Gott, die Ingenieurs | und unser Volk gemacht hätten! Nächsten Monat ist wieder eine ähnliche Geschichte in Zürich und so geht es den ganzen Sommer hindurch, … // Die Kehrseite von alledem ist, daß die Schweizer mehr als je, und so gut wie überall, nach Geld und Gewinn jagen; es ist als ob sie alle Beschaulichkeit in jenen öffentlichen Festtagen konzentrirt hätten, um nachher desto prosaisch ungestörter dem Gewerk und Gewinn und Trödel nachzuhängen…“ (am 21. April 1856), eine Beschreibung, die Marx in einem Satz zusammenzufassen vermag, in dem der Ausdruck „Kapitalismus“ das einzige Mal durch ihn im Kapital fällt: „Denn der Kapitalismus ist schon in der Grundlage aufgehoben durch die Voraussetzung, daß der Genuß als treibendes Motiv wirkt, nicht die Bereicherung selbst“ (20b.123), Bereicherung aus nackter Gier und in der Folge Habgier und Geiz bedeuten das Ende der alten Gemeinwesen – ob zu Seldwyla oder Goldach, Ruechenstein, Schwanau oder Münsterburg, aber auch andernorts wie Schilda und Calau. Sie werden oder sind schon wie alle andern geworden, was der junge Arnold Salander auf den Nenner bringt, wenn er nach seiner Rückkehr aus England sagt, „… es würde vieles erträglicher werden, wenn man weniger selbstzufrieden wäre bei uns und die Vaterlandsliebe nicht immer mit der Selbstbewunderung verwechselte! Ich habe, obgleich noch jung, ein ziemliches Stück von der Welt gesehen und das Sprichwort: › C'est partout comme chez nous‹ würdigen gelernt. Wenn wir nun etwa in ein schlechtes Fahrwasser geraten, so müssen wir eben hinauszukommen suchen und uns inzwischen mit der Umkehrung jenes Wortes trösten: Es ist bei uns, wie überall!“ (02.1004 f.), wie der gewesene Staatsschreiber Keller auch das Ende des Grünen Heinrich revidiert, als der als Amtsvorsteher ein Übel kennenlernt, „das mir wirklich neu, obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war. Ich sah, wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab, die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen, wie die Dirnen, die zum Jahrmarkt gehen, etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen. Andere betrachteten die Begriffe Republik, Freiheit und Vaterland als drei Ziegen, die sie unablässig melkten, um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen, während sie scheinheilig die Worte gebrauchten, genau wie die Pharisäer und Tartüffe. Andere wiederum, als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften, witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat, gleich einem armen Hunde, dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält. Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert, doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher. Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel, der ein Gemeinwesen zerstören kann, wenn er zu dicht wuchert; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande, und sobald sie sich ernstlich rührte, stäubte der Schimmel von selbst hinweg. Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer, als er war, und schwieg dennoch, anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten; damit verschwieg ich auch manches, was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können. Ich fühlte; daß das kein Leben hieß …“ (03.795) Schon der Satz »C’est chez nous comme partout«, den der junge Arnold – soll man sagen: resignierend? - ausspricht, deutet auf auf den Widerstreit der Trauer um den besonderen Charakter der Schweiz als ehedem fortschrittlichster Verfassungsstaat in Europa mit der Einsicht, dass sie sich dem Welthandel mit seiner nivellierenden Wirkung nicht entziehen kann. Keine Gesellschaft, kein Staat ist davor gefeit. Darum findet sich auch nichts Nostalgisches in dem Roman als vielmehr Sorge um die latente Gefährdung der demokratischen Errungenschaften durch den Primat der Wirtschaft.
Die Gründerzeit findet Eingang im Werk Gottfried Kellers – gedämpft in der revidierten Fassung des Grünen Heinrich, heftiger im zwoten Band der Leute von Seldwyla. Dabei verschweigt oder schont er mit Ausnahme einer festen Haltung zur Kinderarbeit in der Baumwollindustrie (vgl. hierzu Böhler auf 18c.12) das Fabriksystem und somit die große Industrie überhaupt. Nicht, dass er den anonym erschienen Essay on Trade and Commerce gekannt haben muss, worin im Übergang von Manufaktur zur großen Industrie über „Faulenzerei, Ausschweifungen und romantischer Freiheitduselei“ des Volkes referiert wird und als Abhilfe ein Arbeitshaus empfohlen wird: „Such ideal workhouse must be made a ‚House of Terror’“ (20a.292) und nicht der Fürsorge!, was durch die Fabrik und ihrer Pervertierung im KZ seinen Höhepunkt finden wird: an den Werksmauern und hinter Stacheldraht enden im Namen unternehmerischer Freiheit Demokratie und persönliche Freiheit, aber auch oft genug Recht und Würde. - Mit dem Spätwerk, dem Martin Salander, fasst Keller ein halbes Jahrhundert kapitalistischer Entwicklung in der Schweiz zusammen – Salander ist gegen Ende des Romans 55 und durch und durch ein Kind des Liberalismus -, wobei die Erzählung alles zugleich ist: ein kleiner, moderner Roman, Tragikomödie und Satire. Dass niemand mehr so recht um die überzeichneten realen Personen weiß, ist ein natürlicher Vorgang. Eine erste Hilfe kann dem Interessierten die Keller-homepage mit Aufsätzen zu Leben und Werk geben, in dem vor allem Morgenthaler konkrete Bezüge und Namen nennt.
Die Handlung beginnt mit der Ankunft Salanders in Münsterburg. Wie nebenbei lernen wir hier die wichtigsten Figuren kennen, deren Namen sich durch den Roman ziehen. Freilich sind’s eher Charaktermasken, denn Menschen aus Fleich und Blut. Unter den streitenden Knaben am Brunnen erkennt der Vater Salander nach sieben Jahren Exil seinen eigenen Sohn Arnold nicht wieder – wie sollte er ihn auch in dem Acht- oder Neunjährigen erkennen? -, mit dem die Weidelich-Zwillinge streiten. Aus der Konstruktion des Ortsnamens Seldwyla wissen wir, dass Namen im Werk Kellers bedeutsam sind und den Namensträger charakteresieren. Der Name ist hier eben nicht Schall und Rauch, wenn auch angelegentlich von gegenteiliger Bedeutung: das Adjektiv weid[en]lich ist mutmaßlich vom mhd. weiden[en] im Sinne von jagen/weiden entstanden und bedeutet demnach „dem Jagen gemäß“, woraus sich in adverbieller Verwendung ein [sehr] gehörig entwickelt hat. Weiden selbst bedeutet nicht nur „auf die Weide führen, grasen lassen: hüten“, sondern reflexiv „sich laben, sich erfreuen“ (19.920), was die Weidelich-Zwillinge in ihrer anerzogenen Gier im künftigen Leben weidlich verwirklichen werden und sei’s mittels Betrug.
Da ist Salanders Freund Salomon „Möni“ Wighart. Weit verbreitet ist die Silbe hart/hard in der deutschen Namensgebung. Das Adjektiv bedeutet stark/kühn, die erste Silbe wird dem Verb wiegen nachgebildet sein und auf das bestimmbare Gewicht des Namensträgers hinweisen: Möni W. wägt sein Tun kühn ab und vermittelt alsbald Informationen.
Beim Jugendfreund Louis Wohlwend mag Keller überziehen: das Adverb wohl hängt eng mit dem Verb wollen zusammen, das nicht nur mit dem Willen, sondern auch mit dem Verb wählen zusammenfällt. Wohl ist das, was erwünscht und gewollt ist und – sofern möglich – gewählt wird. Das Verb wenden hingegen wird umgelautet zum winden. Wohlwend ist der ungreifbare Betrüger, „Hans [Dampf] in allen Gassen“ (02.728) der aus allen Fallen sich herauswinden kann und letztlich sich nicht als Täter, sondern als Opfer des Sozial-Darwinismus begreift, wenn er am Tage einer neuerlichen Konkurseröffnung behauptet: „Es ist gewissermaßen mein Ehrentag, an dem ich das Martyrium unseres Jahrhunderts antrete als Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein!“ (02.767) Ironie des Schicksals: Louis’ Karriere beginnt als Schüler mit einem kurriosen Vortrage der Schiller’schen Bürgschaft (02.729 f.), führt über „ein Kommissionsgeschäft … nebst einigen Agenturen“ (02.728) zu Handlungsbeginn zum Finanzdienstleister „Schadenmüller, Xaverius & Komp.“ (02.733), dessen Interessen bis nach Brasilien reichen.
Sind die Salander ehrbare Leute mit weißer Weste, so sind die Weidelich karrieregeil und beflecken ihre Westen. Es sind Charaktere, die sich durch Verschwägerung mit den Salander Wohlstand und guten Ruf erwerben wollen. Im Gegensatz zu den Weidelich-Zwillingen kommt der Betrüger aus Prinzip Wohlwend jedoch immer davon. Zudem stellt sich heraus, dass es keine gute, sondern nur schlechte Nachricht gebe – personifiziert durch Wighart. Da von allem Beginn an schwarzweiß gemalt wird, Gut und Böse bekannt sind mitsamt den Leuten dazwischen, ist der Salander eines sicherlich nicht: ein Wirtschaftskrimi … Freilich für die große Masse, den unternehmerisch nicht geeigneten Charakteren, müsste Jukundus, „der Liebenswürdige“ (01.1029) aus dem Verlorenen Lachen herhalten.

Marx Haupt- und Alterswerk beginnt mit einem Paukenschlag: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung’, die einzelne Ware als seine Elementarform … [ist] ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache“ (20a.49), dieserhalb er mit der „vertrackten“ Analyse der Ware beginnt und über deren Wertformen Gebrauchs- und Tauschwert zum Wesen der Ware vordringt.
Die Sprache aber weiß es von allem Anfang an: Schon das Wort Ware kommt dem Duden aus unsicherer Herkunft. Vermutet wird ein Zusammenhang mit der Substantivierung des Verbs wahren und sei zu verstehen i. S. v. „Aufmerksamkeit, Acht, Obhut, Aufsicht“, was zu der Bedeutung führe, „das, was man in Verwahrung nimmt.“ (19.915) Es lebt heute noch im Verb wahrnehmen (19.908), was nichts anderes nach Nietzsche als ein für-wahr-nehmen ist. Die Ökonomie deutet den Begriff Ware als ein Gut/Produkt, das nicht dem eigenen Bedarf, sondern zum Verkauf bestimmt ist, kurz: mit dem gehandelt wird. Und in eben dem Milieu der Kaufleute spielt der Roman.
Die einfachste Form des Handels aber ist der Tausch. Das Verb tauschen geht zurück aufs mhd. tuschen, dem „unwahr reden, lügnerisch versichern, anführen“, was seine Nähe zum tiuschen (nhd.: täuschen) nicht verleugnet. „Die heute allein übliche Bedeutung ‚Waren oder dergleichen auswechseln, gegen etwas anderes geben’, in der das Verb zuerst im 15. Jh. bezeugt ist, hat sich demnach aus ‚unwahr reden, in betrügerischer Absicht aufschwatzen’ entwickelt“, was mit der „Präfixbildung vertauschen“ zum „‚irrtümlich oder unabsichtlich auswechseln’“ führt und von dort zurück zum mhd. vertuschen (19.839 f.). In der Tat zeigen schon die Strukturen des einfachsten Tausches (be)trügerische Tendenzen: „Wo Gleicheit ist, ist kein Gewinn“, lässt daher Marx den ehrbaren Kaufmann sagen (20a.173). Von scheinbar Gleichen werden wechselseitig Leistungen übertragen, die aber nur gleichwertig erscheinen, keineswegs gleichwertig sind. Im idealen Falle glaubt jeder, ein Schnäppchen gemacht zu haben, schätzt er doch die eingetauschte Leistung höher ein als die, die er weggibt. So ist dem ganzen immer auch eine religiöse Dimension zuzusprechen, und in der Tat: bereits das erste und älteste Opfer ist Ware. Denn auch der Gott wird betrogen, dem das Opfer gilt, wenn das Ungenießbare - Gedärm und Knochen - geopfert wird. Wär’s denn nicht allzu blöde, Genießbares in Rauch und Qualm aufgehen zu lassen, statt es selbst zu genießen? Der Gott könnte ja gestörten Sinnes sein wie der süchtige Raucher: es muss stinken, Rauch entwickeln, brennen! Für den Gott bleibt’s beim Nullsummenspiel. Da bedarf’s keiner wie auch immer gearteten Wertlehre, noch einer Theorie zum Grenznutzen. Kurz: dass der Bankster einen König (eben den Kunden) über die Bank zieht, ist schon im primitivsten Tausch vorgegeben. Mit einem Nullsummenspiel käme der König noch glimpflich davon. Aber dieser König ist kein Gott und die Rollen wandeln sich dem Bankster zum Bankokraten und vom König zum Bettelmann. Einer wird immer verhöhnt – und wär’s auch ein König.
Geiz ist weniger geil (wo der Werbespruch eine sexuelle Komponente ins Geschäftsleben hineinspinnt) als vielmehr nackte Gier. Wessen wir bedürfen, kommt uns von andern und wird durch die Hände des Handels gewiss nicht saubrer.

Heißt es im Verlorenen Lachen, „Jukundus sagte immer die Wahrheit und glaubte dafür auch alles, was man ihm sagte. Er eröffnete stets im Anfang seine ganze Meinung und was er tun und halten konnte und nahm als richtig an, was ihm der andere von seinen Kauf- und Verkaufsbedingungen und von der Beschaffenheit der Ware mitteilte, erst in der Meinung, daß jener schon sich bemühen werde, der Sache näher auf den Grund zu kommen, später, als das nicht geschah, gleich mit dem kecken Vorsatz der Täuschung.“ (01.508) Weil Jukundus naiv ist und ein offenes Buch, muss er als Unternehmer scheitern und findet erst wieder zu sich, als „er einem [ehem.] militärischen Vorgesetzten [begegnete], der ihn wohl kannte, aber lang nicht gesehen hatte. Der fragte ihn nach seinen jetzigen Umständen, und als er dieselben, soweit sie mitteilbar waren, kennen gelernt, sagte er zu Jukundus, er wäre gerade der Mann, den er suche, um in seinem ausgebreiteten Handels-und Unternehmungswesen eine bestimmte Lücke auszufüllen. Er suche einen zuverlässigen ruhigen Mann, von dem er wisse, daß er seine Obliegenheiten kurzweg und pünktlich erfülle, nicht nach rechts oder links schaue, ohne die Wachsamkeit zu verlieren, und hauptsächlich keine eigenen Spekulationen betreibe“ (01.535), was nichts anderes bedeutet als die Wandlung des selbständigen Kaufmanns zum kaufmännischen Angestellten.
Salander hingegen ist kein offenes Buch, wenn auch keines mit sieben Siegeln. Er wirkt aufgeklärt, erfahren, wenn er sich am Ende des Begrüßungsmahls mit seiner Familie sagt „Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß!“ (02.750), sich also zum Pragmatismus bekennt. Dabei hat er doch seinen Sohn in der Auseinandersetzung mit den Weidelichs schon nicht erkannt – wie sollte er auch! Was er nicht weiß und darum nicht sieht, ist das Scheitern der von seiner Frau geführten kleinen Gastronomie und dass – außer ihm - alle Kohldampf schieben. Was er aber durch Wighart schon weiß, ist der erneute Vermögensverlust durch Wohlwend, den er aber verschweigt, um das Wiedersehen nicht zu trüben. Was der Realist mithin nur sehen kann ist die Idylle im Wirtshaus, verstärkt durch legale Drogen. Der scheinbare Vorrang der Familie vorm Geschäftlichen, wenn die wiedervereinte Familie zur Begrüßung eine Suppe auslöffelt. „Als Salander bemerkte, daß die Gattin so wohlig im Stuhle zurücklehnte und sich eben aufraffen wollte, die Teller zu füllen, hielt er sie zurück und schöpfte an ihrer Stelle die Suppe, welche wie Ambrosia duftete. Und wie sie die Löffel zur Hand nahmen, fiel im Garten draußen das Orchester mit einem gewalttätigen Musikstück ein, daß die Kinder in dem Posaunen- und Paukengewitter die ersten Löffel mit einer seltsamen Mischung von Heißhunger und Herzensjubel zum Munde führten. Auf den anfänglichen Lärm folgte jedoch bald ein Pianissimo, dem das Publikum im Garten lautlos lauschte; die drinnen löffelten achtlos fort, ein »Sch!« zischte draußen, worüber Frau Marie erschrak, die Kinder lachten und Martin Salander das Fenster schloß. / »Eßt fort, kümmert euch nicht darum!« mahnte er. So geschah es, und als eine kleine Stunde vorbei, vergnügten sich die Kinder wohlgesättigt an dem ungefährlichen Nachtisch. Jedes hatte ein Glas Wein bekommen, die Mutter aber deren drei getrunken, und nun dünkte der Mann sich im Paradiese zu sitzen, als die aufblühenden, leicht sich rötenden Antlitze mit frohen Augen ihm entgegenglänzten, wohin er blickte, als wollten sie ihm sagen, was das Glück sei, eine Art Kräutlein Kommnichtum! // … Die Kinder wurden immer munterer; Arnold hatte sich dicht an die Seite des Vaters geschmuggelt und sagte plötzlich: »Aber Vater, weißt du nicht, daß ich dich heute schon gesehen habe, bei dem Brunnen, wo die Weidelichbuben mich auslachten, daß ich nur eine Mutter und keine Mama habe!«“ (02.750 f.)
„Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das, was ich weiß“ ist denn auch eine Konstante in Kellers Leben, allein aufs Verstehen sowohl der übertragenen Bedeutung des „wahrnehmen, geistig auffassen, erkennen“ wie eine „klare Vorstellung von etwas haben, ,etwas können“, wie eben einer sein Handwerk versteht. (19.896) Das Kräutlein Kommnichtum verrät, wie unsicher unsere Wahrnehmung ist und wie nahe der Spekulation wir sind, wenn wir ein Etwas für-wahr-nehmen. Und in der Tat sind die Verben sehen und spekulieren verwandt. Das Verb spekulieren ist aus dem lat. speculari entlehnt, welches ein „spähen, beobachten: sich umsehen, ins Auge fassen“ meint und gehört zum lat. specere „sehen, schauen“. Das Verb spekulieren hat aber einen Bedeutungswandel durchgemacht. Umgangssprachlicher Sinn ist heute „auf etwas rechnen“ – was einem für-wahr(scheinlich)-nehmen/halten nahekommt, seit dem 18. Jh. bedeutet es als kaufm. Terminus „riskante [Börsen]geschäfte tätigen“, woraus sich „auf Gewinne aus Preisveränderungen abzielende Geschäftstätigkeit“ für die Spekulation ableitet (19.786). Fördern Handlungen das (allgemeine oder das besondere) Leben, sind also praktisch bedeutsam und führen ggfs. zu anderen/neuen Ergebnissen, so sind schon die Ausgangsvorstellungen „wahr“, indem sie sich bewähren. Die dogmatische absolute Wahrheit wird pragmatisch relativiert durch Wahrscheinlichkeiten wie zuvor die unteilbare Freiheit atomisiert wird in Glaubens- und hernach Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Gewerbe- und Eigentumsfreiheit usw. atomisiert.

Wie schon im Frühwerk begnügt Keller sich ohne lange Umschweife, die titelgebende Person und auch städtebauliche Veränderungen in sieben Jahren einzuführen: „Ein noch nicht bejahrter Mann, wohlgekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist. Dennoch mußte er bald anhalten, sich besser umzusehen, da diese Straßenanlagen schon nicht mehr die früheren neuen Straßen waren, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand. …“ (02.717) Jahre später wird er diesen repräsentativen und darum angemessenen Ort zur Doppelhochzeit seiner Töchter mit den Weidelich-Zwillingen wählen und es ist m. E. der zentrale Abschnitt im Roman, wird doch auf der Hochzeit ein Straßentheater aufgeführt, das allgemein auf die reale Demokratie gemünzt ist und im besondern auf die Bräutigame zielt.
Als die nämlich beraten, wer zuerst das Wort ergreifen solle, „Isidor der Altliberale, oder Julian, der Demokrat, entstand auf der Bühne über ihren Köpfen ein polterndes Geräusch, welches die allgemeine Aufmerksamkeit erregte und aller Blicke dorthin lenkte. / Zwei [maskierte] Rüpel oder zerlumpte Stromer, mit Knotenstöcken und Bündeln am Rücken, zogen Arm in Arm auf und drückten sich gröhlend umher… Es waren offenbar zwei Spaßvögel, die in dieser Verkleidung auftraten, einen Beitrag an die Festlichkeit zu leisten; und man gewärtigte vergnügt, was sie vorbringen würden. Nachdem sie eine Weile über das Schicksal, über Gott und die Welt geschimpft, fingen sie an, zu beraten, was sie denn anfangen könnten, sich ferner redlich durchzubringen? Sie zählten eine Menge tollen Zeuges auf, was sie schon versucht oder probieren könnten, bis der eine auf den Einfall geriet, seine Gesinnung zu verwerten, die noch irgendwo vorhanden sein müsse, da er sie nie gebraucht. »Gesinnung?« schrie der andere, »eine solche muß ich ja auch noch haben, eine wie ein neugeborenes Kind!« Sogleich nahmen sie die Reisebündel vom Rücken, schnürten sie auf und wühlten in dem unhabseligen Schunde herum, fanden aber lange nichts. »Halt,« rief der eine, »da muß was sein!« und brachte ein hölzernes Nadelbüchslein zum Vorschein. Behutsam hob er das Deckelchen zur Hälfte ab und guckte mit einem Auge in die Höhlung. »Ja, da drin sitzt es«, rief er und machte stracks wieder zu. Der andere Rüpel fand ein winziges Pillenschächtelchen, öffnete es ebenso vorsichtig wie jener sein Nadelbüchslein, verschloß es ebenso schnell und schrie, da sitze seine Gesinnung auch ganz wohlbehalten drin. // Da nun jeder dieser Habseligkeit sicher war, hieß es, was damit anfangen? Plötzlich erinnert sich der eine Rüpel, daß ehestens in der Gegend eine glänzende Hochzeit zwischen der reinen Jungfrau Demokratie und dem alten Herrn Liberalismus gefeiert und bei diesem Anlasse ein großer Vorrat von Gesinnung benötigt werde, und zwar von beiden Arten, von der liberalen und von der demokratischen. Jeder, der damit versehen sei, und auch kleinere Beiträge sind willkommen, werde trefflich verpflegt, und wenn er tapfer fresse und saufe, so sei er einer gut besoldeten Anstellung mit permanentem Urlaub sicher usw. Sie wurden einig, an die Hochzeit zu gehen und ihre Gesinnung anzubieten. Um sich aber nicht selber hinderlich zu sein, beschlossen sie, sich auf beide Seiten zu verteilen und der eine bei der Braut, der andere beim Bräutigam sich zu melden. Sie besahen nochmals die kleinen Habseligkeiten im Büchschen und im Schächtelchen, ob sie nicht eine Wegleitung daran zu erkennen vermöchten. Allein sie konnten durchaus nichts erraten und erfanden daher den Ausweg, auszuwürfeln, wessen Gesinnung liberal und wessen Gesinnung demokratisch sein solle. / Sie setzten sich also auf den Boden, zogen einen schmutzigen alten Lederbecher mit Würfeln hervor und würfelten die Parteien unter sich aus, natürlich wieder mit allerhand Schnurren und Possen. »Es ist doch ein lausiges Spiel,« schrie der eine, »wenn man kein Bier dazu hat!« – »Wir wollen uns ein paar frisch gefüllte Töpfe denken,« rief der andere, »sieh den schönen Anstich! Trink!« / Endlich wurden sie mit dem Würfeln, das sie mit vielen Mogeleien lustig zu verlängern gewußt hatten, fertig. Jeder prägte sich seinen Parteinamen wiederholt ins Gedächtnis und machte zur größeren Sicherheit einen Knoten in das alte Schnupftuch, welches der eine von ihnen besaß, so daß dieser beide Versicherungen mit sich trug. Dann gingen sie mit Hallo und Juhe hinter die Bühne und verschwanden, wie sie gekommen.“ (02.870 f.)
Und wieder wird eine Suppe ausgelöffelt, denn in seinem Innersten sträubt Salander sich gegen diese Hochzeit: „Im Saale der Bahnhofswirtschaft wird die Morgensuppe genossen, mitten im Verkehr des reisenden Publikums, ein Bild des rastlosen Lebens“ (02.854), wie das Wort Verkehr nicht nur als Eisenbahn eine bedeutende Rolle im Roman spielt, sondern für die moderne Leistungs- und Wachstumsgesellschaft steht. Ohne Zweifel sind Salander und Keller anfällig für die Errungenschaften des Fortschritts. So berichtet Morgenthaler, dass Keller das erste Honorar für die Buchausgabe in „bescheidenen Obligationen“ der Gotthardbahn angelegt habe, und das, wiewohl er durch die Feder Arnold Salanders schreiben lässt, dass „der Fortschritt nur ein blindes Hasten nach dem Ende hin [sei] und gleiche einem Laufkäfer, der über eine runde Tischplatte wegrenne und, am Rande angelangt, auf den Boden falle, oder höchstens dem Rande entlang im Kreise herumlaufe, wenn er nicht vorziehe, umzukehren und zurückzurennen, wo er dann auf der entgegengesetzten Seite wieder auf den Rand komme. Es sei ein Naturgesetz, daß alles Leben, je rastloser es gelebt werde, um so schneller sich auslebe und ein Ende nehme; daher, schloß er humoristisch, vermöge er es nicht gerade als ein zweckmäßiges Mittel zur Lebensverlängerung anzusehen, wenn ein Volk die letzte Konsequenz, deren Keim in ihm stecke, vor der Zeit zu Tode hetze und damit sich selbst“ (02.851), als wäre die Eisenbahn kein Mittel der Beschleunigung des Transportes und somit zugleich der Kommunikation wie der Raumverdichtung, neben der Steigerung der Arbeitsproduktivität elementare Grundbedingungen der kapitalistischen Produktionsform. – Es ist wieder der Sohn Arnold, der – als der Fall Wohlwend endlich aufgeklärt ist – den Wachstumsfetisch des Vaters mit der Frage „Wollen wir in der Tat kleine Nabobs werden, die entweder ihr Leben ändern oder den weit über ihre Bedürfnisse reichenden Mammon ängstlich vergraben müssen und in beiden Fällen vor sich selbst lächerlich sind?“ überwinden hilft. (02.1007)
Schon nach der eigenen Heirat und mit dem kleinen Vermögen, welches Salander von den Eltern erbt, wird’s Salander „plötzlich zu eng in der friedlichen Schulstube, in der entlegenen Landschaft; ich zog hierher, …, wollte mitten im Verkehr stehen, unter Erwachsenen, auf Freiheit und Fortschritt ausschauen, ein Geschäftsmann, ein Muster von Brotherrn sein, …“ (02.728) bis hin zum selbsternannten „Opfer des Verkehrs“ Wohlwend (s. o.) und der letztlich guten Nachricht durch Möni, „ er habe Wohlwend auf dem Bahnhofe gesehen, wie er mit Weibern, Kisten, Koffern und bösen Blicken erschienen und mit einem Blitzzuge abgefahren sei.“ (02.1018)

Natürlich will Salander das Leben in der Republik mitgestalten, umso mehr als er „mit Verwunderung [sah], wie im Halbdunkel eines Bierstübchens zwei Projektenmacher den Entwurf eines kleinen, Millionen kostenden Gesetzes oder Volksbeschlusses fix und fertig formulieren konnten, ohne daß die vom Volke gewählte Regierung ein Wort dazu zu sagen bekam“ (2.789), kehrt aber auf einer politischen Versammlung den Pädagogen hervor, wenn er seine „lieben Mitbürger“ belehrt, »ehe ich meine abweichenden Ansichten von der vorwürfigen Sache darlege, kann ich nicht umhin, das auch mir teure Wort Republik zu berühren, das wir jetzt seit einer Stunde gewiß zwei Dutzend Male gehört haben. Unsere Vorfahren haben seit bald sechshundert Jahren die Republik in heißen Schlachten begründet und befestigt, ohne das Wort je in den Mund zu nehmen, und die vielen alten Bundesbriefe und Landbücher enthalten es nicht. Erst später haben es die Patrizier und Bürger der herrschenden Städte für sich angewendet, um mit dem schönen Wort ihrer irdischen Herrlichkeit einen antiken Glanz zu verleihen. Wir haben es jetzt im Sprachgebrauch, aber nicht zum Mißbrauch. Mich will bedünken, wer es immer im Munde führt und dabei auf die Brust klopft, könne ebensogut sich der Gleisnerei schuldig machen wie jeder andere Pharisäer oder Mucker! Doch damit haben wir jetzt nichts zu schaffen; nur darauf möchte ich aufmerksam machen, werte Mitbürger, daß auch der Republikaner alles, was er braucht, erwerben muß und nicht mit Worten bezahlen kann; über Naturgesetze hat die Republik nicht abzustimmen, die Vorsehung legt ihr den Plan über die dem Landwirte nützliche Witterung der Jahreszeiten so wenig zur Annahme oder Verwerfung vor als den Untertanen der Könige und diesen selbst, und der Weltverkehr kümmert sich nicht um die Staatsformen der Länder und Weltteile, die er durchbraust. Dies wollte ich mir zu bemerken erlauben, ehe ich zur Eröffnung meiner Ansicht übergehe // und dabei mich mehr mit den faktischen Verhältnissen beschäftige, als bisher geschehen ist.«“ (02.791 f.) Die Reaktion auf eine solche Rede wird heute keine andere sein als im Roman … Und doch erleben wir in Martin Salander den Urahn aller modernen grünen Parteiungen: als er - endlich daheim! - am ersten Abend zum Fenster hinausschaut, entspannt sich ein hochaktueller Dialog mit seiner Frau Marie: „»Wo sind denn nur die vielen schönen Bäume hingeraten, die sonst vor und neben dem Hause standen? Hat sie der Eigentümer abschlagen lassen und verkauft, der Tor!? Das war ja ein Kapital für die Wirtschaft!« / »Man hat ihm das Land weggenommen oder eigentlich ihn gezwungen, Bauplätze daraus zu machen, da einige andere Landbesitzer den Bau einer unnötigen Straße durchgesetzt haben. Nun ist sie da, jedes schattige Grün verschwunden und der Boden in eine Sand- und Kiesfläche verwandelt; aber kein Mensch kommt, die Baustellen zu kaufen. Und seit die guten Bäume dahin sind, ist auch mein Erwerb dahin!« / »Das sind ja wahre Lumpen, die sich selbst das Klima verhunzen…«“ (02.752 f.), um dann den Biedermann herauszukehren, wenn er nach seinem alten Stiefelknecht fragt, dass wir erkennen, dass Münsterburg in direkter Nachbarschaft zu Seldwyla liegen muss, wo wir mit Recht ein Treibmittel und Energieträger der kapitalistischen Produktionsweise vermuten dürfen.
Hier nämlich hatte gerade einmal zwo Jahrzehnte zuvor Jukundus Meyenthal „ein Handelsgeschäft errichtet, welches sich auf den Holzreichtum der Stadtgemeinde und der umgebenden Landschaft gründete. Zu den großen Allmenden, die von der allemanischen Bodenteilung herrührten, waren später noch die Waldungen von Burg und Stift gekommen, an deren Mauern die Stadt sich angebaut hatte. / Diese hatte bisher die Quellen ihrer Behaglichkeit geschont und auch aus bürgerlichem Stolz erhalten, wie sie ihre reichen Trinkgeschirre und den alten Wein im Stadtkeller sorgfältig erhielt. Allein durch irgendeine Spalte war die Verlockung und die Gewinnsucht endlich hereingeschlüpft und es wandelte ungesehen schon der Tod durch die weiten Waldeshallen, schlich längs den Waldsäumen hin und klopfte mit seinen Knochenfingern an die glatten Stämme. Als daher eben um diese Zeit Jukundus auftrat, um das Bau- und Brennholz anzukaufen und auszuführen, kam sein Geschäft alsobald in Schwung; denn die Seldwyler zogen die Vermittlung des ihnen wohlbekannten ehrlichen Mitbürgers dem Andringen der fremden Händler, durch die das Unheil eingeschlichen, vor. / Jetzt begannen die hundertjährigen Hochwaldbestände zu fallen und auch sofort dem Strich der Hagelwetter den Durchlaß auf die Weinberge und Fluren zu öffnen. Allein sie waren auch einmal jung und niedrig gewesen oder schon mehrmals vielleicht, und sie konnten wieder alt und hoch werden. Doch als die Axt auch an die jüngern Wälder geriet, für das zuströmende Geld immer schönere Zwecke erfunden und die Berghänge dafür immer kahler wurden, fing es den Jukundus innerlich an zu frieren, da er von Jugend auf ein großer Freund und Liebhaber des Waldes gewesen. Während er an dem Handel einen ordentlichen Gewinn machte, begann er sich desselben mehr und mehr zu schämen; er erschien sich als ein Feind und Verwüster aller grünen Zier // und Freude, wurde unlustig und oft traurig und vertraute sich seiner Frau an, da sie sein frohes Lächeln, das zu dem ihrigen wie ein Zwillingsgeschwister war, fast seltener werden sah und ihn ängstlich befragte. Sie dachte aber, die Dinge würden mit oder ohne den Mann ihren Lauf gehen und wahrscheinlich nur noch schlimmer, und sie war nur darauf bedacht, ihn bald aus eigenen Kräften wohlhabend und unabhängig zu wissen, um auch von dieser Seite her stolz auf ihn sein zu können. Sie bestärkte daher den Mann nicht in seiner Unlust, sondern ermunterte ihn vielmehr zum Ausharren und er fuhr dann so fort.“ (01.505 f.) Bis ich mich auch an die schwäbischen Brüder der Alemannen zu Stuttgart 21 erinnert fühle: „Da wurde an einer schief und spitz sich hinziehenden Berglehne, welche der Wolfhartsgeeren hieß, ein schönes Stück Mittelwald geschlagen. Aus demselben hatte von jeher eine gewaltige Laubkuppel geragt, welches eine wohl tausendjährige Eiche war, die Wolfhartsgeereneiche genannt. In älteren Urkunden aber besaß sie als Merk- und Wahrzeichen noch andere Namen, die darauf hinwiesen, daß einst ihr junger Wipfel noch in germanischen Morgenlüften gebadet hatte. Wie nun der Wald um sie her niedergelegt war, weil man den mächtigen Baum für den besondern Verkauf aufsparte, stellte die Eiche ein Monument dar, wie kein Fürst der Erde und kein Volk es mit allen Schätzen hätte errichten oder auch nur versetzen können. Wohl zehn Fuß im Durchmesser betrug der untere Stamm, und die waagrecht liegenden Verästungen, welche in weiter Ferne wie zartes Reisig auf den Äther gezeichnet schienen, waren in der Nähe selbst gleich mächtigen Bäumen. Meilenweit erblickte man das schöne Baumdenkmal und viele kamen herbei, es in der Nähe zu sehen. / Als man nun gewärtigte, welcher Käufer den höchsten Preis dafür bieten würde, erbarmte sich Jukundus des Baumes und suchte ihn zu retten. Er stellte vor, wie gut es dem Gemeinwesen anstehen würde, solche Zeugen der Vergangenheit als Landesschmuck bestehen zu lassen und ihnen auf allgemeine Kosten Luft und Tau und die Spanne Erdreich ferner zu gönnen; wie die verhältnismäßig kleine Summe des Erlöses nicht in Betracht kommen könne ge- //genüber dem unersetzlichen innern Wert einer solchen Zierde. Allein er fand kein Gehör; gerade die Gesundheit des alten Riesen sollte ihn sein Leben kosten, weil es hieß, jetzt sei die rechte Zeit, den höchsten Ertrag zu erzielen; wenn der Stamm einmal erkrankt sei, sinke der Wert sofort um vieles. Jukundus wandte sich an die Regierung, indem er ihr die Erhaltung einzelner schöner Bäume, wo solche sich finden mögen, als einen allgemeinen Grundsatz belieben wollte. Es wurde erwidert, der Staat besitze wohl für Millionen Waldungen und könne diese nach Gutdünken vermehren, allein er besitze nicht einen Taler und nicht die kleinste Befugnis, einen schlagfähigen Baum auf Gemeindeboden anzukaufen und stehen zu lassen. / Er sah wohl, daß man überall nicht zugänglich war für seinen Gedanken und daß er sich nur als Geschäftsmann bloßstellte und heimlich belächelt wurde. Da kaufte er selbst die Eiche und das Stück Boden, auf welchem sie stund, säuberte den Boden und stellte eine Bank unter den Baum, unter dem es eine schöne Fernsicht gab, und jedermann lobte ihn nun für seine Tat und ließ sich den Anblick gefallen. Aber von diesem Augenblicke an suchte auch jedermann ihn zu benutzen und zu übervorteilen, wie einen großen Herren, der keiner Schonung bedürfe. / Aus Widerwillen gegen die Baumschlächterei änderte Jukundus nach und nach, aber so rasch als möglich, sein Geschäft, indem er den Holzhandel verließ und dafür sich auf denVerkehr mit jenen Schätzen warf, welche aus dem Schoße der Erde kommen und das Holz ersetzen.“ (01.506 f.) Einige Zeit später vollendet sich Jukundis unternehmerisches Schicksal, wie fünf Seiten weiter das des Baumes …
Nicht, dass niemand in der zwoten Hälfte des 19. Jh. gewusst hätte, welche Gefahren in der Holzwirtschaft lauern und die heute im Zeichen des Tourismus’ noch verstärkt werden. Als nämlich Salander beim Anwesen eines Schwiegersohns „das Buchenwäldchen [bewunderte] und die dahinter emporragenden Wipfelmassen des größeren Forstes, eine Umgebung, die nicht mit Geld zu bezahlen sei“, antwortet der „»O ja, es macht sich nett! … Nur wird es nicht mehr so lange stehenbleiben, als es schon // steht. Der Wald gehört der Gemeinde Unterlaub und soll in ein paar Jahren geschlagen werden; die Holzhändler sind schon dahinter her. Da werd' ich unsere Buchen auch darangeben, es geht in einem zu, und sie tragen ein schönes Geld ein!« / »Sind Sie bei Trost?« rief Salander. »Ihre Buchen schützen ja allein Haus und Garten samt der Wiese vor den Schlamm und Schuttmassen, die der abgeholzte Berg herunterwälzen wird!«“ (02.902 f.) Was da so besorgt klingt zeigt aber auch weniger ein reines ökologische, als vielmehr ein „nachhaltiges“ ökonomisches Motiv. Als Salander wieder einmal vom Bahnhof aus „einen längeren Gang durch abermals neuentstandene oder ausgebaute Quartiere [machte] und unterhielt sich damit, ein und anderes Haus zu erspähen, auf welches er flüssiges Kapital geliehen hatte. Da er aber kein fleißiger Stadtgänger war, so vermochte er die Häuser schon nicht mehr herauszufinden. Hierüber fielen seine Gedanken auf das bedenkliche Umsichgreifen der Baulust, welcher er ja selbst Vorschub leistete, und auf die Reden, welche bereits von einem unvermeidlichen Häuserkrach umgingen. Mag er kommen, dachte er, ich habe nur erste Hypotheken, und ohne das: mitgeflogen, mitgefangen!“ (02.922)

Wohlwend ist von anderem unternehmerischen Kaliber als Jukundus! Als Salander nämlich am Tage nach seiner Ankunft Tacheles reden will, finden wir unvermittelt uns bei einem Hause wie im alten Goldach zu Strapinskis Zeit, denn Salander „bemerkt, daß an diesem Hause wirklich Arnold von Winkelried mit den Speeren im Arm auf Goldgrund gemalt, prangte, nebst einer Inschrift: »Sorget für mein Weib und meine Kinder!« Das Haus gehörte dem Herrn Louis Wohlwend, der auch das Bild malen ließ“ und den Salander im ersten Stockwerk bei Schadenmüller & Komp.« findet. In der leeren Kontorstube ist man damit beschäftigt, „Abzüge eines unordentlich autographierten Zirkulars zu falten, in Umschläge zu stecken und mit Gummi zu verkleben“, als Salander „in das Kabinett“ des Herrn W. eintreten kann. „Als er eintrat, sah er an einem breiten Schreibtisch von Mahagoni, in einen großblumigen Schlafrock gekleidet, einen Mann sitzen, der ihm den Rücken zuwandte und eifrig zu schreiben schien, ohne sich aufzurichten.“ (02.754) Es ist Wohlwend, der eine Komödie spielt und sich zugleich als Mann von Welt gibt. „»Ei der Tausend, so sei willkommen«, sagte der …, die Hand hinhaltend und den unwillkommenen Ankömmling prüfend anblinzelnd, eher wie ein kritischer Gläubiger als wie ein böser Schuldner“, um den Rollentausch zu proben und nicht ohne Ironie, wenn wider bessern Wissens fragt „ » …was führt dich für ein guter Stern her?«“ (02.755) Er hat auch sogleich eine Entschuldigung fürs Missgeschick: „»In der Tat, ich erinnere mich an etwas dergleichen, habe aber nicht beachtet, wen es betrifft. Unsere Geschäfte haben // sich leider durch zu raschen Aufschwung so sehr ausgedehnt, daß ich den Überblick momentan nicht zur Verfügung habe. Die Bank hat ein bedeutendes Guthaben bei uns; indessen, wir stehen in Gegenrechnung, und ich müßte nachschlagen. Sapperment! Hundertsechzigtausend Franken! Du machst ja große Geschäfte, Freund!«“ (02.755 f.), und kann vorgeblich nix machen und bleibt doch großspurig: „»… Du mußt wissen, daß wir uns in einer unversehens hereingebrochenen Krise befinden, welche hoffentlich vorübergehend ist!« / »Wer sind denn die Wir?« / »Nun, die Firma und ich, deren Inhaber! Früher war ein gewisser Schadenmüller dabei. …«“ und weiß – als Salander ungehalten wird - sich auf Recht und Gesetz zurückzuziehen: „»noch bin ich nicht fallit! Und nie gewesen! Und wenn ich es wäre, so stehe ich in der Hut der Gesetze und des Rechtes und ist überall mein Haus meine Burg!«“ (02.756) und gibt sich selbst als gutes Beispiel, den Kopf oben zu halten in der eher unfreiwilligen Muße und sich anderweitig zu beschäftigen. Salander aber „nahm seine brasilianische Anweisung dem guten Freunde aus der Hand, steckte sie sorgfältig ein, unterbrach die Rede und fragte nur noch: »Bist du verheiratet, Louis Wohlwend?« / »Wieso fragst du das? Nein!« erwiderte dieser. / »Ich meinte nur wegen des schönen Winkelriedspruches, der an dein Haus gemalt ist! Du bist wohl im allgemeinen ein Beschützer der Witwen und Waisen oder solcher, die es werden könnten?« / »Du weißt, daß ich von jeher einem idealen Zuge nachgehangen bin, und die Wohnhäuser freier Bürger mit edlen Sinnsprüchen historischen oder moralischen Gehaltes zu schmücken und dazu Anregung zu geben, dünkt mich lobenswert!«“ (02.757)
Es soll nicht die letzte Begegnung der beiden „Freunde“ sein – doch wer will derweil bezweifeln, dass der von Salander beauftragte Notar mit Recht befürchtet, dass „viele anvertraute Gelder … ins Wasser gefallen [sind], wo es am tiefsten ist“ (02.758), wie das Wasser noch eine weitere Metapher hergeben muss mit einem Seitenhieb auf alle Utopie! Was man im Kabinett W.s nur ahnen kann – Wohlwend ergeht sich dort in Heraldik -, wird keine zehn Seiten später als kleines Reich der Freiheit aufleuchten, wenn bei einem Waldspaziergang der Familie Salander Wohlwend beim Fischen in gar nicht einmal trübem Wasser entdeckt wird. So ist das selbstbestimmte Leben: gestern noch Kaufmann, gerade noch Künstler und morgen schon Fischer! „Die Überraschung bannte beide Parteien fest, so daß um Wohlwends Beine die Bachwellen einen kleinen Schaum erregten und hinter Salander seine Familie gedrängt stehenblieb. Wie es meistens geschieht, war der unrechtleidende Teil wieder verlegener als der andere, und da Wohlwend die Salanderschen verblüfft vor sich sah, richtete er sich hoch auf, brachte die Hand an den Hutrand und rief: »Ah, salut!« / »Gibst du hier Audienzen?« sagte Salander endlich, ohne sich zu rühren. / »Wie du willst!« versetzte Wohlwend; »wo sollte ich am heutigen Tage mich hinflüchten als an den Busen der Mutter Natur? Es ist gewissermaßen mein Ehrentag, an dem ich das Martyrium unseres Jahrhunderts antrete als Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein! Heut stehe ich im Amtsblatt, da ist die erste Folge, daß ich mein bescheidenes Plätzchen im Kaffeehaus, mein harmloses Spielchen um den Kaffee entbehren muß; das erfordert die Etikette, wie sie einmal ist, bis sich die Sintflut des Geschwätzes verlaufen hat! Du weißt, Freund Martin, daß ich von jeher einem edeln Idealismus gehuldigt; der kommt mir nun zu gut und läßt mich an // so idyllischen Gegenständen Trost suchen, wie sie sich hier darbieten! …«“(02.767 f.) Auf Anraten der Frau aber ziehen die Salander ihres Weges, dass Wohlwend „wie versteinert in seinem Bache [stand]. In Gesicht und Stimme der Frau hatte trotz einer blassen Unbeweglichkeit eine solche mit Verachtung durchwirkte Strenge gelegen, daß ihm die Furcht aufsteigen wollte, es gäbe noch höhere Mächte als Konkursrichter und Gläubigerversammlungen.“ (02.768)

Jahre später – Wohlwend hat inzwischen in ein Vermögen eingeheiratet, dass er einen Teil seiner Schuld begleichen kann – hat er eine neue Quelle des Wohlstandes entdeckt. Da ist er nämlich gegenüber Salander überzeugt, „»daß ihr bei der Aufrichtung des unmittelbaren Volkswillens, die ihr glorreich vollzoget, eine große Sache übersehen, sozusagen rein vergessen habt! Die Religion habt ihr links liegen lassen und die Kirche vor den Kopf gestoßen, statt die Geistlichkeit ins Interesse zu ziehen! Das wird sich rächen!« / »Wer hat denn der Religion oder vollends den Geistlichen etwas getan?« fragte Salander, »ich wenigstens, der nicht dabei gewesen, weiß nichts davon!« / »Es ist genug getan, wenn man tut, als ob sie nicht da wären[Anm.: eine selbstironische Anspielung auf Kellers Irreligiosität?], und es ist jammerschade um die Möglichkeit, den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten!« / Salander rief lachend: »Den Gottesstaat der Neuzeit zu errichten? Du sprichst ja in Jamben! So wollen wir auch damit fortfahren! Weißt du noch, wie Schillers Don Carlos schließt? Nicht? ›Kardinal, ich habe das Meinige getan, tun Sie das Ihre!‹ So wird das Stück immer wieder schließen!« / »Und ich werde nicht ruhen und meine Idee an den Mann zu bringen suchen!« entgegnete Wohlwend, für welchen Salanders Zitat unbrauchbar war, da er den Don Carlos nie ausgelesen hatte. »Ich könnte viel Versäumtes nachholen und mich gegen den Lebensabend hin vielleicht dem Vaterlande noch nützlich machen!« / »Das wird ja immer merkwürdiger!« dachte Salander, »er kommt, eine theokratische Bewegung auf unsere Demokratie …«“ (02.933)
Und so ist es: Wohlwend wirbt fleißig für seine Idee, reist durch die Weltgeschichte, um „geistliche und weltliche Anführer“ heimzusuchen, erdenkt sich sich eine Verfassung, „in welcher für alle Ratsversammlungen, vollziehenden Gewalten und Gerichte dem lieben Gott das Präsidium vorbehalten war und zur unmittelbaren Leitung der Geschäfte Vizepräsidenten durch die Kirchensynode gewählt wurden, die mit dem großen Landesrate zusammenfiel. Diese Synode sollte aus ebensoviel Laien als Geistlichen bestehen. In allen weltlichen und geistlichen Behörden, besonders auch in den Gerichten, wurde bei wichtigen Beschlüssen und Urteilen, wenn die Stimmen gleichstanden, dem göttlichen Präsidenten der Stichentscheid mittels des Loses anheimgestellt“ (02.997) usw. usf. Man hört hernach selbst seinen Schöpfer Gottfried Keller befreit aufatmen, dass Wohlwend „außer bei ein paar Perpetuum-Mobile-Erfindern und dergleichen wenig oder gar keinen Anklang“ findet. Muss man da nicht unwillkürlich an den Kreationismus und sonstiger fundamental-religiös verbrämter Erscheinungen bis hin zur Überspitzung durch den SF-Autoren Hubbard und seiner Gründung Scientology® denken, deren Nähe zu totalitären Systemen sich nicht verheimlichen lässt? Und auch das Mittel der Intrige ist dem Religionsstifter nicht fremd, wenn er seine Schwägerin – eine junge Frau von „klassischer Schönheit“ – einsetzt, um dem guten Ruf Salanders zu schaden.
Aber wird denn nicht schon die kapitalistische Produktionsweise auf eine religiöse Spitze getrieben? Schon im Zusammenhang von Ware und Tausch wurde dies gezeigt. „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding“, behauptet Marx „Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ Bliebe es beim Gebrauchswert, nichts wäre mysteriös an der Ware. Aber der Tauschwert erhebt sich über den Gebrauchswert. Um zu begreifen, was geschieht, greift Marx zu einer Analogie und flüchtet „in die Nebelregion der religiösen Welt … Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. … Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt … aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert“ (20a.85 ff), kurz und gut, aus der Arbeitsteilung.
Wessen wir bedürfen, kommt uns von andern. Was wir tun, nehmen uns andere. „Der Unternehmer arbeitet nicht mehr für den Kunden, sondern für den Markt …“, dass die Produktion selbst Spekulation wird (20a.236 f.), selbst die „Exkremente der Produktion“ werden nutzbar gemacht (20c.110). Die schöpferische Phantasie kennt keine Grenzen und trachtet, selbst aus Scheiße Geld zu machen! Alles lässt sich kaufen und verkaufen, wird Ware – bis hin zu Gewissen und Gesinnung, und verselbständigt sich, um ein eigenes Leben zu führen, „agiert“ nach den Worten Walter Benjamins, „nach eigenen Gesetzen als Schauspieler auf einer schemenhaften Bühne“ (zit. n. 18c.11 f.) – wie die zwo Rüpel zur Hochzeit der Salander-Töchter.
Geld ist die besondere Ware, welche die Unterschiede der Gebrauchswerte auslöscht im Preis. Für die Mischpoke von kreativer Branche und Marketing gibt’s den Seitenhieb durch Marx: „Der Warenhüter muß daher seine Zunge in ihren Kopf stecken oder ihnen Papierzettel umhängen, um ihre Preise der Außenwelt mitzuteilen.“ (20a.110)

„Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“ ohne „beide Extreme“ vermittelnden Prozess von An- und Verkauf, „Geld heckendes Geld“, das „in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr“ – der Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft - trägt (20c.404 f.). „Wie das Wachsen den Bäumen, so scheint das Geldzeugen … dem Kapital in dieser Form als Geldkapital eigen“, es wächst. Und ein weiteres Bild ist das des eingekellerten Weines, der „nach einer gewissen Zeit auch seinen Gebrauchswert verbessert“, egal, was sein Besitzer gerade macht, „schlafen oder wachen, sich zu Hause oder auf Reisen befinden, bei Tag und bei Nacht.“ (20c.406) Die Gemeinschaft der Gläubigen spricht dem Ding ein Eigenleben zu, glaubt, es arbeite, dass man mit Marx schrei’n will: „Das Geld hat jetzt Lieb’ im Leibe“ (ebd.)!
Der Handel aber ist viel älter und kommt uns aus einer keineswegs idyllischen Vormoderne und wird selbst die Postmoderne überleben. Aber das Geheimnis des Geldes steckt schon in der scheinbaren Komparativbildung vom Gläubigen zum Gläubiger, der immer einen braucht, der Schuld auf sich lädt. Darum heißt auch der moderne Sünder ein Schuldner. Der Gläubiger ist dabei allemal der bessere Gläubige am System, hat er doch i. d. R. nicht nur das kirchliche, sondern auch das bürgerliche Recht auf seiner Seite, belegt und auf Heller und Pfennig berechenbar durch angewandte Mathematik und Saldenbildung in der kaufmännischen Buchhaltung und der höheren Mathematik in glanzvollen Tempeln von Bank und Börse. „In der Krise wird der Gegensatz zwischen der Ware und ihrer Wertgestalt, dem Geld, bis zum absoluten Widerspruch gesteigert. … Die Geldhungersnot bleibt dieselbe, ob in Gold oder Kreditgeld, Banknoten etwa, zu zahlen ist.“ (20a.152) Da ist es egal, ob heute noch alle sechs Sekunden ein Kind auf der Welt verhungert, Hauptsache bleibt, „toxische“ Papiere werden entgiftet, systemtragende Säulen nicht geschleift und dem Markt überlassen. „Von ihrer Geburt an waren die mit nationalen Titeln aufgestutzten großen Banken nur Gesellschaften von Privatspekulanten, die sich den Regierungen an die Seite stellten und, dank der erhaltenen Privilegien, ihnen Geld vorzuschießen imstande waren. Daher hat die Akkumulation der Staatsschuld keinen unfehlbareren Gradmesser als das sukzessive Steigen der Aktien dieser Banken, deren volle Entfaltung von der Gründung der Gründung der Bank von England datiert (1694). / …
Um dieselbe Zeit , wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknotenfälscher zu hängen.“ (20a.783) „Ruhig fuhr nun das Schifflein Martin Salanders zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturmes wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen. Manches Stück mußte er noch als gefälschte Ware über Bord werfen; allein der Sohn wußte unbemerkt die Lücken so wohl zu verstauen, daß kein Schwanken eintrat und das Fahrzeug widerstandsfähig blieb den bösen Klippen gegenüber, welche bald hier, bald dort am Horizont auftauchten.“ (2.1018)

 

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