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Illusion der absoluten Idylle
Wenn im Frühling die ersten Sonnenstrahlen durch die Latten vor den Fenstern dringen, erinnert sich das morsche, verkommene Holz an die entsetzlichen Ereignisse, die vor Jahrzehnten hinter ihnen verborgen geschehen waren. Sie sehen die dunkle Gestalt wieder, hören die Schreie des Mädchens und beobachten ihren verzweifelten Kampf, der tiefe Spuren auf dem Fußboden und dem Kaminsims hinterlassen hatte, erneut. Sie verfolgen die brutale Hetzjagd vom See hinauf zum Haus, das Aufstoßen der Tür und das anschließende Spiel des Jägers mit seiner Beute. Das Mädchen wimmert hinter dem zerfallenen Lehnstuhl, ihr Schluchzen verrät sie. Und als der Kampf beginnt, halten sie den Atem an.
Feucht, schmierig und mit hineingezogen in das Schauspiel wird der abgetretene Perserteppich, dessen Mottenlöcher kaum kleiner als die roten, zerlaufenden Flecken auf seinen Fäden sind. Aus den Parkettspalten kriecht jetzt das Ungeziefer hervor; Wanzen und Maden bedecken bald den ganzen Boden. Man hört sie knacken unter dem Gewicht des Mädchens und unter den Stiefeln des Tyrannen. Panik breitet sich aus, zieht sich durch die trägen Fasern des Holzes, wirbelt den Staub auf. Einen dumpfen Schlag und dem klirrenden Geräusch zerberstenden Glases später, ist die alte Hütte auch von außen gezeichnet. Das einfallende Licht ist nun rot, macht die Gesichter beider zu einer Leinwand. Bald beginnen Rinnsale den Raum in Bewegung zu versetzen, und je länger er in Bewegung ist, desto inhaltsloser wird die Luft darin. Der ätzende Geruch von Schweiß und Tränen hintergeht die Illusion der absoluten Idylle, verschleiert den Vordergrund und bahnt sich den Weg zurück zum Geschehen:
Das Mädchen liegt auf den Ellenbogen gestützt auf dem Boden; über ihr ein Mann in Bluejeans und einer Kunstlederjacke. In seiner Hand ruht ein schwerer Kerzenhalter, benetzt mit den Spuren seines Opfers. Während seine Füße nicht aufgaben, ihr wehzutun, holt der Kerzenhalter wieder aus. Sie beginnt zu weinen, sie hat Angst; sie hat keine Chance.
Der Messinghalter zischt auf sie zu und trifft sie an der Schläfe. Ihre Haut gibt auf und öffnet seine Pforten, durch die sofort Blut dringt und ihr bald das Schreien unmöglich machen wird. Sie gurgelt nur noch so laut sie kann und versucht, die weiteren verheerenden Treffer mit Händen und Füßen abzuwehren, doch bald schon ist Elle von Speiche getrennt, und nun gibt es keine Hindernisse mehr.
…
…
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Minutenlang dauert die Richtung. So bedacht, dass es unter keinen Umständen zu ihrer Hinrichtung wird. Sie liegt nun schon vor dem Kamin, ihre Haare in der Asche, die Schneidezähne zusammengeschoben in einer Spalte im Parkettboden.
…
…
Langsam wird sie so bleich wie das Leinentuch, das eine alte Holzskulptur verdeckt. Sie wird so müde und gequält, dass sie auf die Gegenwehr vergisst.
…
Er war nicht bleich. Er war gelassen, ausgeglichen und erkannte seine Chance. Bald schon war der hölzerne Zeuge gefüllt mit der schmalen, zielgerichteten Brutalität des Einen; und erfüllt von der unfreiwilligen Unterwürfigkeit des Anderen.
Das Mädchen wurde zu Stein. Sie wurde zu einem Stein, der nie splitterte und nie seinen hilflosen Glanz verlor. Und selbst Jahrzehnte später kamen noch die Einen, oder anderen, und setzten ihre Taten fort, mal als Tyrann, mal als Mitleidender …