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Stürzende Idylle

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01.07.2006
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Stürzende Idylle

Die Welt ist groß und will sich auf die Frau stürzen. Sie muss hier weg, sie darf nicht stehen bleiben. Blau, Grün, Weiß ist hinter ihr her. Das Blau hat ihr den Mund verschlossen, das Grün hat ihre Fesseln umklammert, das Weiß hat sich in ihr Gesicht gewürgt. Die müssen so tun. Als ob sie der Himmel, das Gras und die Bäume, der Schnee auf den Bergen wären. Die Frau will nichts sehen, nur fort, fort, fort. Die Sonne könnte lachen, aber jetzt muss sie ihr unbedingt auf Knie und Schenkel brennen. Die Frau sollte eigentlich eine Hose anhaben, aber die ist verschwunden. Sie darf nicht stolpern, aber die Beine wollen ihr nicht recht gehorchen. Sie versucht das Rosige auf dem Schotter nicht zu sehen.

Da sind Insekten, sie scheinen um sich selbst zu krabbeln. Nichts kann sich mehr von der Stelle bewegen. Die Frau wird zu einer Blume am Wegesrand, einer Blume mit Rot in der Mitte. Die anderen Blumen werden sich von ihr abwenden wollen.
Da ist Wasser, es darf über Steine hüpfen. Da ist Wald, er darf lange stehen und dunkel sein. Da sind Kühe, sie dürfen alles zerkauen. Sie will am ehesten das Wasser werden: Rein, klar, kalt.

Die Welt ist winzig, die Frau wird sie einfach in den Mund nehmen und schlucken. Dann wird alles wieder gut sein. Wenn sie am Wasser gewesen sein wird. Wenn sie den blutigen, zerrissenen Fetzen gewaschen haben wird. Dann wird sie im Wasser sitzen bleiben und langsam gefühllos werden.

 

Ich finde das deine kurze Geschichte ein gelungenes Experiment ist.
Ganz besonders gut gefällt mir: "Da ist Wasser, es darf über Steine hüpfen. Da ist Wald, er darf lange stehen und dunkel sein. Da sind Kühe, sie dürfen alles zerkauen."
Das ist sprachlich sehr schön.

 

Hallo Andrea,

ist ja schon ein paar Jahre alt, die Geschichte. Aber ich las sie trotzdem, verstand sie ohne Erklärung, und sie gefiel mir.

Es wurde die Frage gestellt, was die "Einschränkungen" mit der Thematik zu tun haben. Da könnte ich Folgendes erklären, warum ich denke, dass die Form den Inhalt stützt:

1. Es darf kein Prädikat geben, das nur aus einem Vollverb besteht.

Diese Regel verhindert, dass einfache, lineare Verlaufsbeschreibungen entstehen. Daher erhält der Text eine Form, die dem Gedankenfluss der Frau folgt: Immer wieder schweift sie ab, kreist zwar um ihr Thema, vermeidet aber den wirklichen Kern.

2. es darf nur an einer einzigen Stelle Adjektive als Attribute geben.

Diese Adjektiv erhält dadurch eine zentrale Sonderstellung und liefert einen Schlüssel zum Hauptthema.

3. Das, was passiert ist, sollte durch eine Landschaft mit idyllischen Versatzstücken deutlich gemacht werden.

Auch hier geht es um Vermeidung und Verdrängung. In einer solchen Landschaft kann eigentlich nichts Schlimmes passieren. Passiert aber doch. Dauernd.

Beste Grüße
Naut

 

Hallo Andrea H,

es ist schön, dass Naut diese Gruselgeschichte wieder in Gespräch gebracht hat. Das Schreckliche ist zu ertragen durch Verwandlung. Schon Ovid hat dafür Beispiele in den Metamorphosen gebracht. Japanische Märchen schlagen statt Kampf oder Flucht Verwandlung vor:

Die Frau wird zu einer Blume am Wegesrand, einer Blume mit Rot in der Mitte.
Aber warum wollen sich die anderen Blumen von ihr abwenden? Die Natur heilt? Die Frau kommt aus der Menschenwelt in ein anderes System mit anderen Regeln.

Dann aber am Schluss doch eine weniger idyllische Verwandlung: zu Eis. Häufige Reaktionen auf traumatische Erlebnisse sind die „gefrorenen Seelen“.
Warum zwei Lösungen: Blume und Eis?
Eine ähnliche Geschichte hat Schönberg vertont: Erwartung.

Ist deine Geschichte auch ein Bild für die Frau von heute, von der die „Welt“ alles verlangt?

will sich auf die Frau stürzen
.
Sie tut es wohl auch.

Jedenfalls ein sehr gelungener Text.
Gerne gelesen und mit dem Wunsch, er möge viele Leser bekommen.
Herzlichst
Wilhelm

 

Huch, ich hab ganz vergessen, auf eure Kommentare zu antworten!

Hallo Naut, also besonders was du zu Punkt zwei sagst: Das hatte ich so gar nicht bedacht, find ich aber eine 1A-Erklärung und sehr schlüssig. Danke dafür und für dein durchdringendes und kluges Verständnis! :)

Hallo Wilhelm, die anderen Blumen wenden sich von ihr ab, weil sie verletzt ist, weil sie nicht mehr in eine harmonische oder idyllische Welt passt. Aber man muss die Geschichte gar nicht als Stellvertretergeschichte oder irgendwie sonst verschlüsselt, sondern sie ist eigentlich ganz konkret: Einer Frau wurde in einer idyllischen Berglandschaft Gewalt angetan und sie ist auf der Flucht, ist durcheinander, würde sich gerne wieder einordnen, ist aber aus dieser Umwelt herausgefallen und passt nicht mehr hinein.

Ist deine Geschichte auch ein Bild für die Frau von heute, von der die „Welt“ alles verlangt?
Oh Gott, nein, bestimmt nicht! :D
aber das passt doch ganz gut auf die Geschichte:
Das Schreckliche ist zu ertragen durch Verwandlung.
Danke für eure Kommentare!

 

Lächelnd lugt "heimfahrtenachforschend" ein Fragender durch Felsspalten in Azur auf den brüchigrötlichen Waldbach, der durch Weltenwälder fließt, nicht halt machend, nie zuende, nie.
wunderbarwundernd
Isegrims

 

Hallo Isegrims, nach fast zwei Jahren bedanke ich mich erst heute für deine kleine Nachdichtung! Hat mich gefreut! :)


Hallo Manlio!

Die schmalste Stelle zwischen Wade und Fuß nennt man auch "Fessel".


das Weiß hat sich in ihr Gesicht gewürgt
vielleicht wäre "in ihren Mund gewürgt" passender?
Beides wäre passend.

Die müssen so tun. Als ob sie der Himmel, das Gras und die Bäume, der Schnee auf den Bergen wären.
Sie verstellen sich? Aber sie wollen sich doch auf die Frau stürzen? Heißt das nicht, die Fassade ist gefallen?
Das ist eher so gemeint, dass für die Frau nicht einmal mehr auf die Farben Verlass ist, so sehr ist sie durcheinander. Die Idylle des blauen Himmels, der grünen Wiesen und Bäume und des weißen Schnees, wie sie etwa ein Postkartenbild zeigt, zerbricht durch das, was dieser Frau geschieht.

Die Frau wird zu einer Blume am Wegesrand, einer Blume mit Rot in der Mitte.
Sie versteckt sich?
Nein, aber wie durch diese ganze Gedicht-an-Unifassadegeschichte in jüngster Zeit deutlich wurde, werden Frauen nicht selten mit Blumen verglichen. Diese hier ist eine am Wegesrand, die einfach gepfllückt wurde (könnte man auch einen Bezug zu Goethes Heideröslein herstellen, wenn man unbedingt wollte ;)). Das "Rot in der Mitte" bedeutet einfach, dass sie im Schambereich verletzt ist

Die anderen Blumen werden sich von ihr abwenden wollen.
Hier passt die Konstruktion mit dem Hilfsverb nicht so gut, finde ich.
Ja, möglich, ich find den ganzen Satz jetzt nicht mehr so gelungen.

Da ist Wasser, es darf über Steine hüpfen. Da ist Wald, er darf lange stehen und dunkel sein. Da sind Kühe, sie dürfen alles zerkauen. Sie will am ehesten das Wasser werden: Rein, klar, kalt.
Die Natur wandelt sich vom Feind zum Freund. Das ist sehr interessant, aber auch rätselhaft.
Spannend an dem Text finde ich besonders den Wandel, den die Natur in kurzer Zeit durchläuft. Von groß und gefährlich zu klein, fast niedlich. h
Zuerst ist die Natur nicht ihr Feind, aber etwas, was auf einmal nicht mehr vertraut, keine Idylle mehr ist. Und ja, hier wird sie zur Wohltat, zu etwas, was die Frau beruhigt.

Ich danke dir für deinen Kommentar zu diesem alten Text von mir. :)

Gruß
Andrea

 

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