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Angust

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12.04.2007
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Angust

Angust

Es fürchtete sich, wollt' nicht weg. Nicht ins, nicht ans Licht. Hing an seinem Heim wie die Zecke am Wirt - ob der will oder nicht. Das Früchtchen liebte diesen Ort. Kannte eh keinen andern. Hier fand sich alles zum Leben: Wessen es bedurfte, kam ihm zu - wie von selbst. Kostete nichts. Also drängte es ihn nicht, den Ort zu verlassen. Wer hätte schon das Paradies freiwillig verlassen? Oder das Schlaraffenland.

Doch eines Tages geschah, was der Balg nicht verstand. Der Mutter Mund behauptete, 's wär an der Zeit, den Ort zu verlassen. Selbständig zu werden. "Aber ich fühl mich wohl, Mama", jammerte der Balg. "Lass zusammen uns bleiben!" Doch der Mutter Mund spie ihn aus: "Du musst hinaus ins richtige Leben!" "Aber Mama!", rief erstaunt der Balg, "war unser Leben falsch?"

"Wie könnte unser Leben kein richtiges gewesen sein?", fragte der Balg und verirrte sich in Zweifeln. "Mama, warum hast du mich verlassen?" Das grelle Licht der Erkenntnis blendete ihn. Wie er sich nach Mäßigung und Eindeutigkeit sehnte, lernte er den Zweifel hassen. Gegen alle Erkenntnis setzte der Balg sich eine dunkle Brille auf - auch zum Schutz vor den Blicken der andern, die auf einmal um ihn und Mama herum waren. Mama und der Balg waren nicht einzigartig. Die Welt bereitete nichts denn Angst und Bange. Daher kam dem Balg auch Name und Geschlecht: Angust und Bängel.

Langsam wurd es auch in Angusts Kopf hell. Erinnerte sie sich der Heimat, schüttelte es sie nun. Wie konnte sie sich wohlgefühlt haben zwischen Blase und Mastdarm in direkter Nachbarschaft von Harn und Kot? Man hatte sie von Beginn an belogen und betrogen. Mutter Mund tut keine Wahrheit kund! Ohne ein "A dieu" sagte Angust von der Mutter sich los, wünschte die Mutter zum Teufel und das Leben mitsamt der Welt gleich hinterher. Welchen Sinn hätt das Leben. Morgens hineingeschlüpft in Schuh und Kleid und wieder hinaus geschält aus Kleid und Schuh abends. Nicht jede findet ihren Leonce, nicht jeder eine Lena ...

Alles schien verloren zu sein, was vordem sie geschätzt hatte. Angust dachte ans Ende. Seit sie die Heimat verloren hatte, war sie nicht sicher. Wie also sollte das Ende erreicht werden? Angust konnte kein Blut sehen, da würde ihr flau und das Abenteuer des Abschieds wäre abgebrochen, bevor es richtig begonnen hätte. Viele Wege waren ihr zu ihrem Ende damit verwehrt. Einfach ins Wasser zu gehen taugte nicht, sie war eine begnadete Schwimmerin. Zudem wäre Ersticken kein angenehmer Tod. Aber alle Methoden könnten fehlschlagen: ein Strick könnte reißen. Die Feuerwehr sie auffangen usw. usf., dass wir nicht ins Detail gehen wollen und es uns in die Depression triebe, dass wir Hand an uns legten.

Eines Tages hörte Angust von einem Initiationsritual auf einer fernen Insel im Südpazifik. Da war die Lösung ihres Problems! Die konnte nur in der Verquickung zweier todsicherer, zudem unblutiger Methoden liegen und noch schöner wäre: sie reifte eben dadurch zu ihrem Ende zum Manne! Würde ein ganzer Kerl, streifte den Bängel ab.

Heute nun hat Angust sich ein Herz und ein Seil geronnener Wolfsmilch gepackt und genommen. Mit ihrem Freund besteigt sie den höchsten Turm der Stadt. Einmal noch schaut sie sich um, herab auf die Welt, pfeift auf die armseligen Kreaturen dort unten. Ein letztes Mal.

Angust wird ganz anders. Der Freund legt Hand an, hilft Angust ans Seil. "Mir ist angst und bang", zittert Angust. "Ist es das wert?" Der Freund und Helfer unterbricht: "Noch können wir's lassen", sagt er beruhigend. "Du brauchst dich aber nicht zu fürchten, Angust. Gleich hast du alles überstanden und wer weiß, ob danach nicht alles schöner ist als hier. Vielleicht winkt das Paradies ..."

Angust schließt die Augen. Springt. Vierzig oder mehr Meter tief.

Wie das Ende des Seils erreicht ist, knackt's im Fußgelenk und Angust fährt auf -

himmelwärts ...

 

Grüß dich Friedel,

weiser Mann. Ich bin verwirrt.
Erst dachte ich: nett, FrauzuMannTranssexuelle in Sinn- und Lebenskrise sucht die Erlösung.

Dann dachte ich: das ist Friedrichard, so einfach kann es nicht sein.

Dann dachte ich:jetzt habe ich es: gespickt mir Anspielungen (Initiationsriten, Selbstmord (des weiblichen Ich), Himmelfahrt (in die neue geschlechtliche Identität)), beschreibst du die Mannwerdung der Prot.

Dann dachte ich: ne, kann auch nicht sein, wäre auch zu einfach.

Dann dachte ich: des Menschen Elend, vertrieben aus dem Paradies des Mutterschoßes in die Welt, daran und am Leben verzweifelnd, Mann und Frau gleichermaßen, kondensiert in der Figur Angust.

Jetzt denke ich: schön, sprachlich brilliant und mit einer Meta-Ebene, die ich ohne Kompass, Karte und Sauerstoffgerät nie finden werde. :bonk:

Lieben Gruß
Dave

 

Ja, das nenn ich mal 'ne schnelle Reaktion auf einen meiner Texte,

lieber Dave,

nur - das wird Dich vielleicht am Rande (nur) interessieren - beim "Dowdy ..." seligen Angedenkens ging's noch schneller: nach einer halben Stunde kam die erste Stellungnahme.

Aber: Du bist doch nicht ernstlich verwirrt? Du beschreibst doch, was Du siehst. Und:

warum sollte es nicht einfach auch mal einfach sein?

Nunja, die Anspielungen: Leonce & Lena vielleicht, vielleicht auch, dass aus Ang(u)st schnell ein (dummer) August werden kann - der ja der "Erhabene" ist. Aber da bistu ja selbst drauf gekommen - im Prinzip jedenfalls. Könnte aber sein, dass das nicht alles ist ...

Danke für die Stellungnahme, doch wo ist hier ein "weiser Mann"?

Gruß

Friedel

 

Hallo Jynx,

das scheint ein grundsätzliches Problem bei mir zu sein: wohin mit ihm? In der Tat scheint mir das dargestellte Leben, aber auch die Sprache ein Experiment zu sein: wann hättestu je so kurze und auch elliptische Sätze von mir gesehen? Und ist es nicht ein schönes Experiment, Geschichte und Leben mit einer mathematischen Kurve enden zu lassen? Nicht nachwinken, sondern nachwirken solltestu ihn lassen - den Text, nicht das hier.

Gruß

Friedel

 

Hallo Kurzgeschichtler,

schön, von Dir zu lesen. Was Braun sagt klingt wie die religiöse Erhöhung physikalischer Gesetzlichkeiten (Erhaltung der Masse, z. B., wonach - vereinfacht gesagt - nix verloren gehe. Da füg ich hinzu: wir erkennens nur nicht unbedingt.)

Aber siehstu denn denn Schluss so schlimm?

Gruß & danke

Friedel

 

Hallo Kurzgeschichtler,

klar ist der Schluss ein Bungee-Sprung, Deine Interpretation wärmt mich aber auch und - zugegeben - die Geschichte läuft ja zu 90 % darauf hinaus und den Büchner heranzuziehen lässt mich kribbeln...

>Geschichte kann also nicht so schlecht sein<. Soll wohl so sein!

Dank Dir und auch

Dir, Sam.

Da haben wir wieder unser altes Problem, dass die Geschichte - ich denk, sie ist fertig, obwohl ich ja nie fertig werd - Dich nicht findet. Du willst >wohl anraten, der Autor solle sich auf das Wesentliche der Geschichte konzentrieren, das Wer / Wo / Was, und ich will wohl zu mehr Klarheit und Durchdachtheit raten<, wofür ich Dir auch dank, aber's sind alles Dinge, welche die Geschichte besitzt ...

Gruß

Friedel

 

Hallo Friedel,

das ist eine ganz reizende Geschichte. Das Drama des Auszugs, bzw. der Vertreibung ins furchterrregende Leben hat mich beruehrt - besonders humoristisch.
Wortspiele wie Mutter Mund sind in diesem Text nie zufaelliges Geplaenkel, sondern regen wirklich zum Denken an und stiften ueberraschende Zusammenhaenge: Das Fortschicken als zweite Geburt, passend zur Metapher des Abnabelungsprozesses.
Auch das Spiel mit den Geschlechtern, vom Es zum Baengelbalg, und mit Hilfe eines Initiationsrituals zum Manne und damit aber doch irgendwie zurueck in den muetterlichen Paradiessschoss fand ich gut. Muss ich aber nochmal drueber nachdenken.
Beim Lesen hatte ich irgendwie die Stimme vom Trommeloskar im Ohr - warum nur?
Eine wirklich sehr gelungene Geschichte ueber das lustige Drama der menschlichen Existenz.

lg
fiz

 
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Keine Bange,

Jynx,

hier wird kein Generationenkonflikt ausgetragen. Der findet eher in der Geschichte statt und betrifft wohl jede Generation von Frischlingen. So ist der Gang der Geschichte.

Das >@Nix versteh'n< Ares seh ich auch eher als formaliserten Reflex auf Sam. Und Are zeigt ja auch eine Lösung. So kann man's sehen, so wie auch der langweilige Brotberuf durch Extremsportarten ausgeglichen werden kann.

Ich dank Dir,

liebe Are,

für den Beitrag!

Hallo großer Bruder Parzivals,

>das ist eine ganz reizende Geschichte. Das Drama des Auszugs,< aus dem Paradies oder das ist in Wirklichkeit selten ein Lustspiel. Aber es tut gut, dass auch der Witz gefunden wird. Und warum soll Angust/August nicht mit den Matzerats zu tun haben? Nach Georg Büchner das Beste von Grass ... das ist aber ein schönes Lob!

Dank Euch allen fürs Lesen und Kommentieren & ein schönes Wochenende wünscht

Friedel

 
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>Welchen Sinn hätt das Leben. Morgens hineingeschlüpft in Schuh und Kleid und wieder hinaus geschält aus Kleid und Schuh abends. Nicht jede findet ihren Leonce, nicht jeder eine Lena ...< mutet mich an, als bereitete ich Dir,

liebe Jynx,

vorzeitig den "Weg", doch komisch i. S. von "seltsam" ist dann der Verdacht eines Generationskonfliktes zu einem Beitrag, wo keiner ist, schon weil er gar nicht möglich ist, obgleich es an Konfliktpotential nicht fehlt.

's ist schon ein seltsames Gefühl, binnen weniger Tage zwo ältere Texte wieder besprochen zu sehen, die sich in aktuellen Texten widerspiegeln (Dave ist das - wenn auch unbewusst, ja geradezu unwissentlich - in der KG aufgefallen). Aber Dein Beitrag,

liebe Are,

gibt dem Ganzen noch eine besondere Richtung, denn das ahd. angust ist nicht etwa wegen der indogerm. Wurzel *anghu-, sondern aus dem Lateinischen übernommen (als hätten Baiern/Franken/Friesen/Sachsen/Schwaben (Alamannen)/Thüringer keine Angst gekannt. Der Begriff folgt dem lat. angustus bzw. angustia, die „Enge“, „Beengung“, „Bedrängnis“ und angor, „das Würgen“*. Am interessantesten ist mir Dein Hinweis >Der Wortteil -clave- bei angusticlave lässt an Enklave oder auch Esclave (Sklave) denken. Hatte bisher keine Vorstellung von dem, was dieses Wort bedeuten könnte<. Spätestens seit Epikur findet sich Angst thematisiert (Wortspiel: Augustinus schreibt auch darüber). Hegel gilt die Spannung zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein (gerade bei Bluff of God - wundervolles & ironisches Pseudonym- angerissen) als notwendig, welche durch Arbeit überwunden wird. Da kann man schon für sich behalten, was Marx dazu meinte.

Ich dank Dir -
auch wegen des Hinweises auf ein reales Schicksal -
fürs wiederholte Lesen & kommentieren!

Gruß

Friedel

*Das Wort „Angst“ gibt es als Wortexport auch im Englischen. Es bedeutet so viel wie Existenzangst. Man spricht von „angst-ridden“ (von Angst geritten, im Sinne von beherrscht). Vermutlich wurde das Wort 1849 von George Eliot eingeführt. (vgl. Wiki ohne starke Männer)

 
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Hallo Friedel,

Mir wird angst und bange, Deinen kryptischen Text wieder mal falsch zu interpretieren.

Was ich mir zusammenreimen kann:

Das Trauma der Geburt verlässt das Menschenkind nicht, und die Weltangst würde ihn/sie (???) zum Selbstmord führen, wenn die modernen Zeiten nicht Bungee-Jumping im Sonderangebot hätten. Ein Bisschen Adrenalin verdrängt die Frage nach dem Sinn des Lebens auch vorerst mal, muss ja nicht gleich Suizid sein, für den Angust ohnehin nicht recht den Mut aufbringen will.

Für die Anspielung auf Leonce und Lena fehlt mir wieder mal ein Nachschlagwerk. Und was hat es mit der Insel in der Südsee auf sich?

Dem wechselnden Geschlecht kann ich auch keinen Sinn entnehmen, der die Verwirrung rechtfertigt, aber da bin ich vielleicht zu begriffstützig.

Der Inhalt gibt mir genug zu rätseln, um auch noch nach einem grammatikalischen oder mathematischen Experiment zu suchen.

Insgesamt fand ich die Geschichte amüsant. Könnte auch unter “Gesellschaft” stehen.

Gern gelesen und gerätselt.

Liebe Grüße

Elisabeth

 
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Hallo Elisabeth,

schön, dass Du dich an den Text heranwagst und m. E. hervorragend interpretierst. Wo kann da noch ein Geheimnis vor Dir bestehen? Google,
"Georg Büchner + Leonce und Lena" (es genügt auch der Titel allein) eingeben und unter Gutenberg lesen. Neben dem zerbrochenen Krug Kleists mE die einzige Komödie im eigentlichen Sinne, oder wer könnte über Minna von Barnhelm lachen?

Gruß & Dank fürs Lesen + Kommentieren!

Friedel

 

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