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Vaters Geschenk

sim

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13.04.2003
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Vaters Geschenk

Plötzlich steht mein kleiner Bruder nackt auf dem speckigen Linoleum in der Küche und sagt keinen Ton. Abgemagert ist er. Die Rippen stehen wie Fischgräten hervor, jede einzeln zu zählen. Der Bauch ist so eingefallen, dass man das Gummiband eines Weckglases darum spannen könnte.
Er hat blaue Stellen an den Hüften, vermutlich, weil der Fußboden unter der dünnen Isomatte aus dem Supermarkt viel zu hat war. Seit Tagen hat er nur gelegen, geschwächt vom Fieber.
»Geht es dir besser?«, frage ich.
Paul klappert mit den Zähnen und hat Gänsehaut. Sein Penis ist so klein als wäre er gerade aus einem kalten See gekommen. Das wenige Schamhaar klebt an seinem Bauch und er riecht, als hätte er im Schlaf gepinkelt.
Auch das noch. Jetzt muss ich wieder zum Fluss und sein Bettzeug und seinen Pyjama ausspülen.
»Wo ist Mama?« Paul kann gar nicht so stark zittern, wie er friert. Trotzdem steht ihm der Schweiß auf der Stirn. Wenn wir mehr Wasser hätten, würde ich ihn unter die Dusche schicken und ihn anschließend in ein flauschiges Frotteehandtuch hüllen, damit ihm warm wird. Bestimmt hat er noch Fieber.
Ich wringe den Feudel aus, schmeiße ihn auf den Küchenboden und lege Paul meine Wolljacke um die knochigen Schultern. Zwar steht in der Küche der Herd, doch die Wärme reicht nicht bis in die Zimmer. Wir haben November und man hat uns den Strom abgestellt.
»Mama ist noch nicht zurück. Sie wollte nach der Arbeit noch zum Basar.«
Paul lässt sich zum Küchenstuhl schieben. Der Geruch von Krankheit beißt in meiner Nase, aber ich setze mich, nehme meinen Bruder auf den Schoß und in die Arme. Sein Haar fühlt sich fett und stumpf an, als ich darüber streiche. Es müsste dringend gewaschen werden. Ein bisschen Glut ist noch im Herd, ein bisschen Holz liegt noch auf dem Stoß, und ein bisschen Wasser ist noch in dem Kanister. Aber das werden wir brauchen, wenn Mama zurück ist. Für die Suppe …
Holz ist knapp, seit alles nur noch aus wiederverwertbaren Pfandkisten verkauft werden darf. Manchmal schleiche ich in die Wälder, sammle morsche Äste und Zweige.
Pauls Stirn ist nicht mehr heiß. In meinen Armen zittert er ein bisschen weniger.
»Hast du die Zeitungen …?«, fragt er leise. Ich nicke nur.
Einmal in der Woche darf er die Lokalanzeiger in die Treppenhäuser legen. Einen Cent bekommt er pro Blatt. Geld, durch das wir wenigstens ab und zu mal Kohlen kaufen können.
Zur Bestätigung fahre ich ihm noch einmal kräftig mit der Hand durchs Haar. »Mach dir keine Sorgen.«

Man gewöhnt sich daran, zu rechnen, sich mit anderen auf den Basaren um das zu prügeln, für das keiner mehr bezahlen möchte. Nur Paul können wir nicht losschicken. Mit seinen zwölf Jahren ist er nicht kräftig genug. Ich bin etwas stärker. Aber Mama ist am erfolgreichsten. Deshalb geht meistens sie über die Märkte, nachdem sie für einen Rubel die Stunde und einen Liter Milch pro Tag die Fußböden einer Molkerei putzen darf.
»Ich hatte einen merkwürdigen Traum, als ich krank war«, sagt Paul und seine Stimme ist immer noch belegt von den Tagen, die er auf der alten Matratze verbracht hat. »Papa ist zurückgekommen. Und er hat mir aus dem Himmel einen Bleistift mitgebracht. Den hat er mir geschenkt.«
»Aus dem Himmel?«
Paul rutscht unruhig auf meinem Schoß hin und her. Die Wolljacke verrutscht und er sitzt mit seinem nackten Hintern auf meiner letzten sauberen Hose. Die Beine nimmt er zur Seite, damit er mich anschauen kann, ohne den Kopf verrenken zu müssen.
»Weißt du nicht, dass Papa tot ist?«
»Papa ist auf dem Mond.« Wieder fahre ich ihm mit der Hand durchs Haar. »Er baut dort Swimmingpools für die reichen Leute und bestimmt wird er uns bald Geld schicken. Oder Flugtickets, damit wir nachkommen können.«
»Nein.« Paul schüttelt den Kopf. »Papa hat sich beschwert, weil sie ihn nicht bezahlt haben. Und da haben sie ihn erschossen. Weißt du das wirklich nicht?«
»Hast du das auch geträumt?«
Vor sechs Wochen hatte Papa den Befehl von der Agentur Eigenverantwortung bekommen. Für eine Baufirma sollte er Fliesen in Swimmingpools auf dem Mond verfugen. Wenigstens für einen Winter konnte er so Arbeit finden. Also hat er nicht nur die Chance nach so vielen Jahren, sondern auch seinen alten Lederkoffer gepackt, den klammen Herbst mit der Schwerelosigkeit getauscht, die triste Hoffnungslosigkeit mit Enthusiasmus und versprochen, uns so bald wie möglich in die Sonne des Lebens zu holen.
Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Kein Überweisung, kein Brief, keine E-Mail, nicht einmal eine Postkarte.
»Nein«, sagt Paul. »Das habe ich nicht geträumt. Ich habe nur geträumt, dass Papa zurück aus dem Himmel gekommen ist und mir einen Bleistift geschenkt hat.«
»Du hattest Fieber. Da träumt man manchmal so wirres Zeug.«
Paul steht auf, zieht die Wolljacke vor seiner Brust zusammen und geht an die Schublade des Küchentischs.
Ich begebe mich zurück zum Eimer mit dem kalten schmutzigen Wasser, tauche den Feudel wieder hinein, knie mich hin und wische den Boden.
»Lass das«, sage ich zu meinem Bruder, denn aus dem Augenwinkel sehe ich ihn mit einem Bleistift auf der Tischplatte zeichnen. Er hört nicht auf mich. Unbeeindruckt kratzt er mit dem Stumpen über das Holz, beißt sich dabei auf die Lippe, Schweiß tritt ihm auf die Stirn und die Zähne klappern wieder schneller.
»Du sollst das lassen. Ich muss das doch alles wieder sauber wischen.« Genervt stehe auf, gehe zu meinem Bruder an den Tisch und sehe auf die Zeichnung.
Grau senkt sich ein tiefer Krater in das Holz, schraffiert, wie Beton. Ein Erdwall ist neben dem Loch aufgehäuft, so lebendig, dass ich glaube, die Regenwürmer darin riechen zu können. Schaufelbagger fahren über den geschundenen Boden und ein Zementwagen fährt mit dem Heck an den Rand der Grube.
»Hast du das alles gerade erst gezeichnet?«
Paul antwortet nicht. Er kratzt weiter konzentriert den Bleistift über den Tisch. Ich sollte böse sein, aber ich kann es nicht. Es ist, als fände der Bleistift seine Farben von selbst, als würden die Räder der Autos und die Zementmaschine auf dem Rücken des Lasters sich drehen. Und aus der Tiefe des Kraters kann ich die Stimme meines Vaters hören.
»Hilfe!«
»Sie haben ihn in den Pool gestoßen und den Zement über ihn geschüttet.« Paul hält in der Zeichnung inne, löst seine Zähne von den Lippen, wischt sich den Schweiß von der Stirn und ein paar Tränen aus den Augen. »Aber er ist in den Himmel gekommen. Es ist nicht schlimm.«
Woher nimmt er so etwas? Hätte man uns nicht längst benachrichtigt, wenn Papa etwas passiert wäre?
»Wann soll das passiert sein?« Ich beuge mich über den Tisch, stütze mich auf der Platte ab und betrachte abwechselnd die Zeichnung und das Gesicht meines Bruders. So ernsthaft wie er aussieht, habe ich keinen Zweifel, dass er daran glaubt.
»Als ich krank wurde«, antwortet Paul. »Aber jetzt geht es ihm gut. Deshalb hat er mir den Bleistift geschenkt und mir gesagt, dass ich wieder gesund werden kann.«
Ich höre seinen Magen knurren. Vielleicht ist es ein aus Hunger und Fieber geborener Albtraum, von dem er mir erzählt. Hatte er nicht selbst von einem merkwürdigen Traum gesprochen?
Mein kleiner Bruder zieht die Wolljacke wieder fester zu. Ich gehe um den Tisch herum, stelle mich hinter den Stuhl und lege meine Hände auf seine Schulter.
»Du hast geträumt. Du hast den Bleistift doch aus der Schublade geholt.«
Mehr mich als ihn möchte ich davon überzeugen. Das Bild auf dem Tisch ist so echt, dass der Zement immer fester wird. Ich habe Paul noch nie so zeichnen sehen. Und liest man nicht immer wieder von Menschen, die so sensibel sind, dass sie spüren, wenn etwas Schreckliches passiert?
Hatte mein Bruder nicht versucht, unseren Papa am gepackten Koffer festzuhalten, hatte er ihn nicht weinend beschworen, nicht zum Mond zu fliegen? Es könnte doch möglich sein, dass er da schon eine Ahnung hatte. Eine Ahnung, die wir nur als Ausdruck seiner Bindung zu seinem Vater gesehen haben. Als wir versucht hatten, ihn zu trösten, hatte er uns als Lügner beschimpft und noch mehr geweint.
»Ich habe ihn im Traum dort hineingelegt.« Sein Blick ist fest wie der Zement auf dem Bild auf der Tischplatte, seine Stimme flehentlich wie die Hilferufe meines Vaters in der Grube.
»Du glaubst mir nicht.«
Und wie ich ihm glaube. Gegen alle Vernunft glaube ich ihm. Das Bild macht mir Angst. Ich muss in die Realität zurückfinden, heraus aus dem bösen Schein eines Albtraums auf dem Küchentisch. Ich muss mich wieder zum Feudeleimer begeben, die Flecken vom Linoleum putzen und am besten die Tischplatte gleich mit, möglichst, bevor unsere Mama, hoffentlich mit Abfällen, vom Wochenmarkt zurückkommt.
»Ich glaube dir«, sage ich und sehe an seinem verzogenen Mund, dass er mir das nicht abnimmt.
»Ich sage die Wahrheit.«
Ich wringe den Feudel aus und gehe damit zum Tisch.
»Kannst du dich anziehen und dir eine alte Zeitung zum Malen nehmen?«
Ohne Murren steht Paul auf und geht in unser Zimmer. Er meckert auch nicht, als ich den Lappen über die Zeichnung wische. Kurz erschrecke ich, denn einen Moment lang sieht es aus, als fließe das Wasser in einen blau gekachelten Pool, unter dem mein Vater ertrinkt.
Gott sei Dank hat Paul das nicht gesehen. Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, hat Paul eine Unterhose und ein T-Shirt an, die Wolljacke darüber. Er ist immer noch barfuß.
»Ich habe Hunger.«
»Mama kommt bestimmt bald.«
Er kramt in einer alten Kiste neben dem Kohleherd, zerrt sich eine Zeitung heraus und legt sie auf den noch etwas feuchten Tisch. »Kannst du nicht schon Feuer machen? Dann geht es schneller, wenn Mama wieder da ist.«
»Wir haben nur noch sehr wenig Holz.«
Den Bleistiftstummel schon wieder in der Hand, beugt er sich über die Zeitung.
»Warte.«
Mit schnellen und harten Strichen malt er etwas über die Buchstaben. Ich könnte wahrscheinlich vor lauter Wörtern nichts sehen, aber wir haben kein Zeichenpapier, nur die paar Schulhefte, die wir dringend für den Unterricht brauchen.
Zeitungen bleiben immer ein paar übrig von der wöchentlichen Tour meines Bruders. Die muss er behalten, obwohl es illegal ist. Wenn er sie zurückgibt, wird dem Verlag die Ration an Papier gekürzt.
Manchmal, wenn wir Kleister haben, mache ich uns Briketts daraus. Die brennen länger als das nur zusammengedrückte Papier.
Ich kippe das schmutzige Wasser aus dem Eimer in die Erde der Pflanzen auf der Fensterbank und frage Paul, ob er zur Toilette müsste. Es ist günstiger, mit gebrauchtem Wasser zu spülen.
Er schüttelt den Kopf und reißt seine Zeichnung aus der Zeitung, trägt sie vorsichtig zum Herd, öffnet die Klappe, schmeißt sein Bild hinein und setzt sich auf den kalten Boden.
Den Herd lässt er nicht aus den Augen, Rauch steigt in meine Nase, doch nicht der beißende Geruch verbrennender Druckerschwärze, sondern das warm knisternde Aroma eines Kiefernscheits.
Ich schnuppere. Es kann unmöglich sein, was ich da sehe und rieche, aber der Blick in den Ofen zeigt mir ein grell loderndes Feuer. Ein behaglicher Duft strömt durch die Wohnung.
»Das ist das Geschenk von Papa«, sagt Paul, als ich ihn entgeistert ansehe. »Er konnte uns ja kein Geld mehr schicken, weil sie ihn vorher ermordet haben. Aber den Stift.«
Ich knie mich hinter meinen Bruder, nehme ihn in die Arme. »Paul. Papa ist nicht tot.« Er drückt mich von sich, springt auf und rennt zu dem Zeitungsbogen auf dem Tisch.
Hektisch malt er etwas, schaut dabei immer wieder zur Tür und zu mir. Langsam nähere ich mich ihm wieder, stelle mich hinter ihn, sehe das schüttere Haar unseres Vaters, seine vollen Lippen, das Muttermal an seinem Kinn und das gerippte Unterhemd, das er immer trug. Ich sehe die Haare an seinen Armen und die groben Poren seiner Haut. Doch die Augen sind nicht, wie ich sie in Erinnerung habe. Sie sind stumpf und leblos. Auf einmal fängt Paul an zu weinen, dreht sich um, presst sein Gesicht in meinen Magen. Er schluchzt, holt immer wieder Luft, zittert.»Ich kann ihn nicht wieder lebendig malen.«
Hilflos streichle ich ihm über den Kopf. Was soll ich ihm sagen? Wenn Mama doch bloß schon vom Basar zurück wäre.
»Es ist gut Paul. Wein dich aus.«
Wir verharren, als hätte jemand die Welt angehalten, den Kreislauf des Lebens oder wenigstens die Zeit gestoppt. Er weinend an mich gelehnt, ich mit der Hand in seinem Haar, bis mein Bruder sich langsam beruhigt.
Mein T-Shirt klebt feucht von Pauls Tränen an meinem Bauch. Auch mein Magen knurrt. Meine Mama müsste längst zurück sein. Vielleicht hat sie auf dem Basar nichts bekommen und klappert die Läden ab, fragt nach dem, was sich die Kinder für ihre Kaninchen und Meerschweinchen holen.
»Du hast auch Hunger?«, fragt Paul.
»Ja.«
»Lass uns etwas zu essen machen.«
»Wir haben nichts mehr da.«
»Lass uns Mama überraschen, wenn sie kommt.« Er dreht sich um, blättert die Seite der Zeitung um und malt ein Stück Fleisch über die Buchstaben.
Aus der Klappe unter dem Herd holt er eine Pfanne, stellt sie auf die Ringe über dem Feuer. Die bemalte Zeitungsseite trägt er vorsichtig zum Ofen, formt einen Ausguss, aus dem er ein paar Tropfen Öl in die Pfanne gießt, bevor er das Fleisch ausreißt.
Ich habe keine Lust mehr, mir Gedanken über Illusionen und Träume zu machen. Zu lecker riecht das warme Fett, zu verlockend brutzelt es in der Pfanne. Der Duft von Thymian, Salz und Knoblauch zieht durch die Küche. In einen Topf hat Paul kleine Rosenkohlschnipsel in Wasser geschüttet, in einen anderen buchstabenbedruckte Kartoffeln. Und ich schwöre, ich kann die Mahlzeit schon in der Luft schmecken, wenn ich Mund und Nase öffne und schlucke.
Ich will mich dem Traum hingeben, decke den Tisch, frage Paul, ob er mir eine Kerze und einen Strauß Blumen zeichnen kann. Eifrig macht er sich an die Arbeit und der Geruch von Hyazinthen verbreitet sich.
Mein Bruder füllt die Teller, wir sitzen vor dem Mahl, fassen uns an der Hand und beten.
Jetzt fehlt nur noch Mama …


Die von Bernadette zur Verfügung gestellten Wörter sind: Bleistift, Magenknurren, sensibel, Linoleum, schnuppern

 

Tja, sim, eine gut geschriebene Geschichte, die aber leider Schwächen ausweist - einige davon hast du ja schon beseitigt. Die größte Schwäche besteht für mich darin, daß du die heutige Armut so beschreibst, wie sie in den 50er Jahren existierte.

Damit meine ich nicht den symbolhaften und viel zu oft genannten Feudel, sondern die Existenz von Linoleum und den mit Holz oder Kohle zu befeuernden Herd in der Wohnung – beides sind heute beinahe Luxusartikel. Das Linoleum besteht zu beinahe 100% aus Naturprodukten (Leinöl, Baumharzen, Holzmehl, Kork, Kalkstein und Jute) und ist daher etwas für Öko-Freaks, entsprechend hoch ist der Preis: Ab 30 € pro qm.

Und selbst wenn man annimmt, der Herd wurde irgendwo billig erstanden oder von der Oma geerbt, so besteht heute kein Mangel an billigem oder umsonst zu habendem Holz – die (Super-)Märkte wissen zum Beispiel nicht wohin mit den Gemüsekisten, die aus hygienischen Gründen nicht wieder verwendet werden dürfen.

Dies alles war in den 50er Jahren natürlich anders - du hast die Atmosphäre von damals auch wunderbar eingefangen -, und ich dachte schon, du willst den Jüngeren unter uns einmal zeigen, wie es damals war. Aber dann kam das Austragen von Lokalzeitungen und der angeblich in Spanien Fliesen in Swimmingpools verfugende Vater, da glaubte ich mich im falschen Film. Erst machst du mir glauben, ich wäre in einer bestimmten Zeit – ein weiteres Beispiel: Es ist unwahrscheinlich, daß ein 14-jähriger heute weiß wie das Gummiband eines Weckglases aussieht, geschweige denn, er kann, als Ich-Erzähler im hier und heute, das richtig hinschreiben -, und dann: Es ist heute, wenn’s nicht glauben wollt, schaut Kontraste.

Es gibt noch weitere Unklarheiten: Es scheint, daß der jüngste Familienmitglied der einzige ist, der Geld verdient (Einen zehntel Groschen bekommt er pro Blatt, Geld, durch das wir wenigstens ab und zu mal Kohlen kaufen können.). Was tut aber der große Bruder, und was die Mutter, wenn sie sich nicht gerade um die Gemüsereste prügelt?

Deinen Kommentaren kann ich entnehmen, daß du glaubst, die Armut und Hunger würden in Zukunft zunehmen. Das kann gut sein, aber dann wird diese Armut eine andere sein als die von 50er Jahre – oder auch die von heute.

Was du dagegen gut hinbekommen hast, ist diese Mischung aus Traum und Wirklichkeit, zum Beispiel dieses Riechen von Düften, die nicht da sind und die allein durch die damit zusammenhängende Rituale (so tun als ob) hervorgezaubert werden. Es scheint, daß Hunger die Fantasie beflügelt – ich habe mal einen Film gesehen, der die Armut der großen Depression in Amerika der 30er behandelte, in dem ein Landstreicher vor dem offenen Feuer sitzt und sich darauf einen Huhn träumt, das er zuvor nicht in der Lage war zu stehlen.

Dion

 

Ich würde mich gerne in die Diskussion einschalten - ich finde die Verhältnisse, wie sim sie geschildert hat, völlig in Ordnung. Zum Einen kann ich mir nicht vorstellen, dass er den Anspruch einer repräsentativen Auswertung hatte und zum Anderen gibt es die von ihm geschilderten Punkte auch heute noch.
Es gibt sehr wohl Leute, die hungern und die auf Märkten nach essen suchen/betteln. Der Holzofen, Dion, ist zwar heute sicherlich Luxus, allerdings sind in vielen alten Wohnungen durchaus noch Holz-/Kohleöfen zu finden - ich selbst kenne jemandem, bei dem das so ist.
Übrigens kenne ich auch, dass Familien der Strom abgestellt wurde, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr gezahlt haben. Sie haben dann nur noch Strom auf "Karte" bekommen - ich bin mir nicht ganz sicher, wie das funktioniert hat, aber ich glaube sie hatten täglich eine gewisses "Strombudget" zur Verfügung und wenn das leer war, hatten sie eben pech.
Natürlich KÖNNTE der Anschein entstehen, dass die Geschichte in der Zeit früher angesiedelt ist - aber es muss nicht. Wenn man da wirklich die Verhältnsise von Anfang an klar stellen wollte, so könnte man vielleicht noch die eine oder andere Sache einstreuen, die nur in die heutige Zeit gehören kann.

 

Ja, Bella, sicher gibt es Leute, die einen Herd wie beschrieben (mit Ringen auf der Kochplatte) haben – und die sind die Glücklichen, wenn man daran denkt, was andere Heiz-Formen kosten! Den so ein Herd funktioniert auch ohne Strom und man kann nahezu alles in ihm verbrennen – auch Papier, und davon gibt es Unmengen überall.

Mit anderen Worten: Niemand, der so einen Herd hat, muß frieren. Aber in dieser Geschichte müssen die Leute nicht nur Hungern - das kann es geben, wenn man sich besonders dumm oder stolz anstellt (was fast das Gleiche ist) -, sondern auch frieren, wohl, damit das Elend größer ist. Nur leider ist so ein Herd nicht geeignet, das darzustellen. Andererseits muß aber der Rauch aufsteigen, damit die Geschichte funktioniert, und dafür braucht man Feuer, die Alternative Strom ist ja abgeschaltet.

Ebenso verhält es sich mit dem Linoleum: Es muß wegen der Wörterbörse in der Geschichte auftauchen, aber Linoleum ist heute teuer und das Billige aus den 50er Jahren hat nach 40 Jahren sicher schon der Teufel geholt.

Um nicht mißverstanden zu werden: Mir gefällt die Geschichte, aber sie ist nicht gut genug recherchiert - nicht, wenn sim der Autor ist -, bei einem Anfänger würde ich das vielleicht anders sehen. :D

Dion

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sim,

ich bin durch diese Geschichte nicht so gewohnt flüssig gekommen, wie es mir sonst bei deinen Texten gelingt. Natürlich sind viele wunderbare Passagen enthalten, die eine sehr unmittelbare Atmosphäre erzeugen, mir das Gefühl geben, dicht dran zu sein.

Ich habe den Text mehrfach und an verschiedenen Tagen gelesen, um auszuschließen, dass mir vielleicht die Stimmung zum Lesen fehlte, oder aber die Konzentration. Aber ich bin immer wieder an denselben Stellen hängen geblieben, und deshalb werde ich sie dir jetzt einfach mal nennen.

Zitat: "Wo ist Mama?" Paul verschränkt die Arme um seine Brust...

Irgendwie, ich kann nicht mal genau sagen warum, stört mich das Wort "verschränkt". Es ist mir für die geschilderte Situation zu wenig, klingt blutleer. "Umklammert" würde ich da besser finden, wäre meiner Meinung nach ein stärkeres Bild.

Zitat: "Mama ist noch nicht zurück. Sie versucht, auf dem Wochenmarkt ein paar Abfälle zu bekommen, damit sie uns wenigstens eine Suppe kochen kann."

Sorry, aber der Satz ist mir zu dicke, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein älterer Bruder das so zu seinem jüngeren Bruder sagt. Du hast die Chance der wörtlichen Rede nutzen wollen, um dort für die Story wichtige Infos unterzubringen. Aber genau so liest sich das. Könnte er nicht einfach sagen, dass die Mutter auf dem Wochenmarkt wäre, und sich den Teil mit den Abfällen, damit sie überhaupt eine Suppe kochen können, denken? Ich würde das irgendwie eleganter finden.

Zitat: Der Geruch von Krankheit beißt in meine Nase, aber ich setze mich, nehme den Jungen auf den Schoß und in die Arme.

"Den Jungen" klingt viel zu distanziert für die liebevolle Handlung. Oder ist das irgendwie gewollt, eine bewusste Distanzierung, während er sich "überwindet", seinen Bruder zu umarmen. Der Satz wirkt trotz der Handlung unterkühlt. Wenn du das als Ziel hattest, dann ist es genial, durch die Widersprüchlichkeit in Begriff und Handeln Kälte zu erzeugen, trotz einer liebevollen, beschützenden Geste. Wenn es nicht gewollt ist, würde ich es ändern auf "meinen Bruder".

Zitat: Zur Bestätigung fahre ich ihm noch einmal kräftig mit der Hand durchs Haar. "Ja", heißt das. "Mach dir keine Sorgen."

"Ja", heißt das finde ich störend, es zersplittert zwei schöne Sätze, die sonst harmonisch ineinderfließen könnten und es macht in der Aussage nicht viel her, weil ich mir das schon Denke, wenn er ihm zur Bestätigung durch das Haar streicht.

Zitat: "Die Beine nimmt er zur Seite, damit er mich anschauen kann, ohne den Kopf zu verrenken."

Hier würde ich "ohne sich den Kopf verrenken zu müssen" schreiben, das würde irgendwie notwendiger und zwingender klingen.

Zitat: "Du sollst das lassen. Ich muss das doch alles wieder sauber wischen." Etwas entnervt lasse ich den Feudel liegen ...

Mit lassen hast du eine schnell aufeinander folgende Wortwiederholung, die du evt. vermeiden könntest, wenn er sagen würde "Hör auf damit!"

"Etwas entnervt" finde ich vom Klang her nicht gut. Könnte man "Leicht genervt" nehmen? Oder vielleicht nur "genervt".

Das sind nur Kleinigkeiten. Ich finde insgesamt, dass die Geschichte einen sehr eigenwilligen und ungewöhnlichen Zauber entfacht, ich hatte keine Mühe, von der Realität in das Märchen zu kommen, das war toll und vollzieht sich nahtlos. Deine Beschreibungen erzeugen wie immer starke Bilder. Viele Bilder besonders durch jene Beschreibungen, die nun Gegenstand der Recherche-Diskussion geworden sind. Du darfst nur auf keinen Fall auf sie verzichten, aber das weißt du ja sicher selbst.

So, das war's, ich hoffe, ich konnte mich einigermaßen nachvollziehbar äußern.

Grüße von Rick

 

Hi Dion,

du hast mich erwischt. Ich habe nämlich für diese Geschichte gar nicht recherchiert, nicht, weil ich sie nicht ernst genug genommen habe, sondern weil ich die Geschichte einer Fantasie erzählen wollte, von der unklar ist, ob es nun Fantasie oder erlebte Realität ist. Die Geschichte eines Bleistift, der seinem Besitzer Trost gibt und sei es nur in der Fantasie.
Ich wollte keine realgesellschaftliche Studie über Armut im Deutschland des 20 oder 21. Jahrhunderts schreiben.
Sehr wohl wollte ich Kennzeichen verschiedener Epochen finden, auch weil Armut ein Kennzeichen aller Epochen ist.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass in einer Art Märchen die gegenwärtigen Preise von Linoleum, Holz oder von Waschmittel errechnet werden. Mir reichte es schlicht aus, mir vorstellen zu können, dass alles, was es einmal gab, auch wiederkehren könnte.
Es reichte mir, dass ich mir vorstellen konnte, dass Holz so knapp sein könnte, dass es teuer wird und dass ich mir vorstellen kann, dass es Kinder gibt, die arbeiten müssen, weil die Eltern keine Arbeit finden und Kinder die billigeren Arbeitskräfte sind.
Und so habe ich meine Bilder für das gefunden, was in den beiden Protagonisten die Fantasie freisetzt. Das Frieren war dabei zur Erschwernis nicht unbedingt nötig, bot sich eher durch das Fieber an.
Ich habe also auf das, was hier als Unlogik gesehen wird in ganz anderer Weise Wert gelegt, als ich es bei einer Geschichte für die Rubrik Gesellschaft getan hätte. Nämlich in einer Raum und Zeit übergreifenden Weise, die Elemente der fünfziger Jahre (da fehlt noch der Kohlenklau), der Gegenwart, Deutschlands aber auch von Entwicklungsländern hat. Zunächst wollte ich die Swimmingpools sogar in Bogota bauen lassen, weil ich es sogar vorstellbar finde, dass die Fairtradeorganisationen irgendwann Güter aus Deutschland unter dem Gütesiegel verkaufen, dass die produzierenden Arbeitern anständig dafür bezahlt werden. Der gesellschaftliche Hintergrund dieses Märchens sollte also sowohl irgendwo zu irgendeiner Zeit Realität gewesen sein oder sein können, als auch für unsere gegenwärtige Realität völlig an den Haaren herbeigezogen sein. Von daher taten mir schon die glättenden Kompromisse dessen, was ich erzählen wollte weh, die ich bisher eingegangen bin. Denn Zeitübergreifend war für mich dabei deutlich von Zeitlos zu unterscheiden.
Aber ich sehe, dieser Ansatz hat schlicht nicht funktioniert, egal, ob es nun an der Erwartung liegt, dass die Geschichte in einer konkreten Zeit mit einem konkreten Hintergrund angesiedelt ist oder an meiner Unfähigkeit auf diese zeitunabhängige Reise mitzunehmen.
Das ist natürlich zu kritisieren und die Kritik nehme ich an.
Ich werde es aber an diesem Märchen nicht mehr ändern, denn das hieße ja, das Grundkonzept aufzugeben, von dem ich nach wie vor überzeugt bin. Ich konnte es halt nur noch nicht in der Geschichte vermitteln.
Ärgerlich, dass diese Unfähigkeit als Schlamperei ankommt, aber leider nicht zu ändern.

Was tut aber der große Bruder, und was die Mutter, wenn sie sich nicht gerade um die Gemüsereste prügelt?
ein berechtigter Einwand, die Mutter wollte ich statt auf den Gemüsemarkt sogar erst für einen Euro putzen lassen. Na da wäre aber was los gewesen, wo doch die Ein-Euro-Jobs nur für gemeinnützige Arbeiten vergeben werden dürfen. ;)
Aber daran ändere ich noch einmal was.
Das kann gut sein, aber dann wird diese Armut eine andere sein als die von 50er Jahre – oder auch die von heute.
Das ist ganz sicherlich richtig. Die Armen sind dann bestimmt (ich wollte es mir verkneifen, ehrlich) noch ein bisschen stumpfer und abgebrühter, ungebildeter und verwahrloster. ;)

Hallo Bella, vielen Dank. :)

Hallo Rick,

ah, schönerweise mal wieder stilistische Hinweise. :)
die Verstärkung des Verschränkens habe ich durch das kleine Wort "um" versucht, denn normalerweise verschränkt man die Arme ja vor der Brust. Das scheint noch zu schwach zu sein. Mit "umklammert" bin ich ehrlich gesagt auch nicht zufrieden, aber ich bin sicher, mit fällt noch etwas besseres ein.

Du hast die Chance der wörtlichen Rede nutzen wollen, um dort für die Story wichtige Infos unterzubringen
Ja, habe ich. Das ändere ich auch noch ab. Vielen Dank für den Hinweis.
"Den Jungen" klingt viel zu distanziert für die liebevolle Handlung
Nein, es klang für mich schlicht nicht distanziert. Wenn es so ankommt, muss ich es ändern.
"Ja", heißt das finde ich störend
Tserk hatte die Redundanz ja auch schon angemahnt, nur auf den ersten Teil des Satzes. So kann ich mich damit anfreunden, es zu ändern. Ich hoffe, Tserk ist damit auch einverstanden.
Mit lassen hast du eine schnell aufeinander folgende Wortwiederholung, die du evt. vermeiden könntest, wenn er sagen würde "Hör auf damit!"
Ich glaube, ich ersetze lieber das zweite "lassen" irgendwie, da das erste ja auch schon eine bekräftigende Wiederholung eines zuvor gesagten Satzes ist. Dann kann ich auch das Etwas bei der Gelegenheit weglassen.
Du darfst nur auf keinen Fall auf sie verzichten, aber das weißt du ja sicher selbst
Ich glaube sogar, ich werde die ersten Begriffe wieder einbauen, schon weil die Beseitigung nicht den gewünschten Effekt hatte, sondern nur die Konsequenz meines Ansatzes verwässert hat.

Liebe und renitente Grüß und vielen Dank fürs Lesen und eure Auseinandersetzung.

sim

 

Okay, sim, ich verstehe dein Bemühen, eine Geschichte ohne zeitlichen Bezug schreiben zu wollen, nur war mir dies aufgrund deiner bereits erfolgten Änderungen (z.B. Isomatte) bzw. deiner Antworten auf Kommentare nicht bewußt, ich dachte, du wärst um historische Authentizität bemüht, nur wären dir dabei ein paar dumme Fehler unterlaufen.

Doch abgesehen davon finde ich, daß jede Geschichte in jeder Rubrik dieses Forums in sich stimmig sein muß. Das heißt konkret: Wenn du heute schreibst, der Junge trägt Lokalzeitungen aus, dann sieht jeder Leser nicht nur den heutigen Jungen Zeitung austragen, sondern sieht auch den heutigen Überfluß an Papierwerbung, die erst unsere Briefkästen und später Papiercontainer füllt – da fehlt es dann schwer zu glauben, die Familie hat nichts zum heizen, denn wenn es Papier im Überfluß gibt, dann gilt das auch für Holz, weil Papier vor allem aus Holz gemacht wird. Wenn dem in deiner in naher oder ferner Zukunft spielenden Geschichte anders sein sollte, dann müßtest du das dem Leser sagen, d.h. sein heutiges Verständnis von Lokalzeitungen, Gemüsemärkten, Kohle oder Linoleum zerstören, bevor du diese feststehenden Begriffe verwendest. Oder anders gesagt: Die Tatsache, daß die Fantasie gegen das Ende der Geschichte die Oberhand gewinnt, kann die zuvor gelegten Stolpersteine nicht zum Verschwinden bringen – ich bin schon gestolpert, wähnte mich, wie schon angedeutet, im falschen Film.

Nichts für Ungut. :)

Dion

 

Hallo Dion,

stolpern soll natürlich jeder nur ein bisschen und sich dann fragen, warum die Bezüge vielleicht nicht stimmen. ;)
Du hast natürlich Recht, ich habe das Gewicht der feststehenden Begriffe völlig unterschätzt. Daher empfand ich sie für mich als logisch.

Ich hoffe jetzt, bei den Änderungen im Detail nicht den Blick für das Ganze verloren zu haben. Im Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich sie dabei nur konsumierbarer, aber auch stumpfer gemacht habe.
Um den realen Bezug abzuschaffen habe ich Spanien gegen Haiti (in der Gegenwart eines der ärmsten Länder der Erde) ausgetauscht, den Cent absichtlich Zent geschrieben und bei der Währung auf den guten alten Taler zurückgegriffen.
Linoleum gibt es jetzt nur noch als Wunschvorstellung und Obst und Gemüse nur noch in Plastikkisten, da alle natürlichen Ressourcen geschont werden müssen.
Das hat den Nachteil unglaublich vieler notwendiger Erklärungseinschübe, die mE den Erzählfluss bremsen.

Kurz: Ich bin mit der Geschichte eigentlich nicht mehr zufrieden.

Lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sim!

Deine Geschichte ist sehr gut geschrieben, sie rührt an, sie bringt die ganze Situation, in der die Kinder sich befinden sehr nahe, alles sehr anschaulich.

Aber als ich sie das erste Mal las, hatte ich den Eindruck, dass die Geschichte in einer Zeit oder einer Situation spielt, in der Krieg herrscht oder durch irgendeine andere Katastrophe die Grundversorgung nicht mehr gewährleistet ist. Aber da wird nichts konkretisiert. Deine Geschichte ist eine Armutsutopie und das Ergebnis davon ist, dass sie ein bisschen wie eine Geschichte aus einer christlich-sozialen Zeitschrift klingt. Da sind die Armen eben einfach arm, nach den Gründen dafür wird nicht gefragt bzw. niemand hat wirklich Schuld daran! Geschichten dieser Art zielten nur darauf ab, Mitleid zu erregen, aber nicht darauf, Umstände, die zu Armut führen können, aufzuzeigen, weil das das gesellschaftliche System hinterfragt hätte. Und die Kirche hat sich schon immer nur ungern mit dem Staat angelegt.

Aber wenn ein halb verhungertes und krankes Kind derart anschaulich dargestellt wird, und es wird GAR nichts über die Gründe dafür gesagt, dann ist das frustrierend. Die Arbeitslosigkeit der Eltern (das Verschwinden des Vater) reicht als Grund nicht aus. Da müssten wohl noch andere Faktoren dazu kommen.

Es ist mir schon klar, dass du die ganze Situation derart bedrückend schildern wolltest, damit die Flucht in die Phantasie auch plausibel wird. Aber deine Geschichte könnte ohne eine Erdung in der Realität leicht in den Verdacht geraten, dass sie sich der anrührenden Armutsdarstellung nur als Selbstzweck bedient, d.h. den Leser mit Hilfe des Mitleids, das man beim Lesen empfindet, von der Geschichte zu überzeugen. Ob das legitim ist oder nicht, weiß ich nicht genau, aber es ist sicher eine Gratwanderung.

Kurz gesagt: Die Geschichte klingt schon ein bisschen nach Armutsromantik.

Übrigens:

Aber Mama ist am Erfolgreichsten

"am erfolgreichsten" ist einfach ein Superlativ in attributiver Stellung und muss sicher klein geschrieben werden.

Gruß
Andrea

 

sim schrieb:
Linoleum gibt es jetzt nur noch als Wunschvorstellung und Obst und Gemüse nur noch in Plastikkisten, da alle natürlichen Ressourcen geschont werden müssen.
Das hat den Nachteil unglaublich vieler notwendiger Erklärungseinschübe, die mE den Erzählfluss bremsen.

Kurz: Ich bin mit der Geschichte eigentlich nicht mehr zufrieden.

Tut mir Leid, sim, das wollte ich nicht. Ich habe jetzt deine Geschichte nicht noch einmal gelesen, aber das mit den Plastikkisten ist wieder nicht so besonders, weil Plastik aus Erdöl gemacht wird, und das ist das Erste, woran es in naher Zukunft mangeln wird. Eher schon kann ich mir vorstellen, daß Linoleum wieder billiger wird im Vergleich zu PVC - weil aus nachwachsenden Rohstoffen -, das könntest du mit einem Nebensatz erledigen, vielleicht in etwa so: ... Linoleum, wie zu Ur-Omas Zeiten wieder das Billigste von Billigem ...

Dion

 

Hallo Andrea,

die Gefahr des Mitleidseffekts sehe ich natürlich auch. Und natürlich gibt es ganz grundsätzliche Verursacher von Armut. Auch (Massen)arbeitslosigkeit hat ja Gründe.
Dass ich sie hier weggelassen habe, lag aber weniger daran, diese Auseinandersetzung zu scheuen, sondern eben daran, dass die Ursprungsidee in diesem Falle ja eine ganz andere war.
Gesellschschaftskritisch kann man da natürlich sagen, es war eine "Opium fürs Volk Idee". Trost in einer Fantasie, die in der Realität nicht vorkommt. Wir können nicht auf Wunder hoffen, die uns sättigen.
Insofern sind deine Überlegungen natürlich welche, die mir politisch willkommen sind.
Eine in der Realität geerdete Geschichte würde von mir schon deshalb nicht mal mit der fantasievollen Ahnung eines Wunders enden.

Hi Dion,

liegt ja nicht an dir.

das mit den Plastikkisten ist wieder nicht so besonders, weil Plastik aus Erdöl gemacht wird, und das ist das Erste, woran es in naher Zukunft mangeln wird.
Daran hatte ich gedacht. Plastik gibt es nur als wieder verwertbare Pfandkiste. Bei den Erzeugergemeinschaften für Obst und Gemüse werden die ohnehin schon seit Beginn der achtziger Jahre eingesetzt.

Ich lasse es jetzt einfach mal ein paar Tage ruhen. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Ach Sim, wieso machst du dir es so schwer?

Ich hoffe jetzt, bei den Änderungen im Detail nicht den Blick für das Ganze verloren zu haben. Im Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich sie dabei nur konsumierbarer, aber auch stumpfer gemacht habe ...Kurz: Ich bin mit der Geschichte eigentlich nicht mehr zufrieden.
Das wirkt doch nur merkwürdig jetzt. Ich glaube, die meisten von uns wäre zufrieden gewesen, wenn du die Gegenwarts-Clous (wie Arbeitsagentur und Cent) rausgenommen und es stimmmungsmäßig in der Vergangenheit belassen hättest. Das wäre doch stimmig gewesen.
Über die heutige oder zukünftige Armut kannst du doch noch andere Geschichten schreiben.

Gruß, Elisha

 

Elisha schrieb:
Ach Sim, wieso machst du dir es so schwer? Das wirkt doch nur merkwürdig jetzt. Ich glaube, die meisten von uns wäre zufrieden gewesen, wenn du die Gegenwarts-Clous (wie Arbeitsagentur und Cent) rausgenommen und es stimmmungsmäßig in der Vergangenheit belassen.
Na, weil es leider nicht funktioniert hat, was ich vorhatte.
Und so wichtig und schön es ist, wenn die meisten von euch zufrieden sind, so möchte ich doch selbst auch zufrieden sein. :)


Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

ich muss mich noch mal melden und dir empfehlen, speziell den Anfang wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückzubringen. Der war echt viel besser.

Die Linoleum-Diskussion war müßig, weil die Wohnung diesen Boden haben kann und es könnte zig Erklärungen dafür geben, warum das so ist. Der Autor wäre nicht verpflichtet, darüber auch nur eine zu liefern, das wäre dann der geschätzten Fantasie der Leser zu überlassen und bedarf wirklich keiner weiteren Erklärung.

Jetzt ist das jedenfalls nicht mehr DEIN Anfang der Geschichte.

Ich glaube, es gibt manchmal Situationen, da lässt man sich von den Diskussionen um die eigene Story so sehr verunsichern, dass man den Draht zu ihr verliert, und mit jeder Änderung, die man (eher unwillig) vornimmt, verrät man sich selbst.

Vielleicht muss man da auch mal den mindestens Ein-Monatigen-Schubladen-Verbannungs-Abstand wählen und dann entscheiden, ob und was zu tun wäre. Jetzt aber liest sich der Einstieg wie ein "zähneknirschenden Kompromiss" und hat die ganze Atmosphäre eingebüsst, die er vorher hatte. Wahrscheinlich nervt es dich schon, dieses Hin und Her bei dieser Geschichte. Musste ich aber dennoch loswerden.

Grüße von Rick

 

Ich glaube, es gibt manchmal Situationen, da lässt man sich von den Diskussionen um die eigene Story so sehr verunsichern, dass man den Draht zu ihr verliert, und mit jeder Änderung, die man (eher unwillig) vornimmt, verrät man sich selbst.
Hallo Rick, ja genau das ist passiert und daher auch meine Bemerkung, dass ich selbst nicht mehr zufrieden mit dem Text bin.

Insofern bin ich dir dankbar über das Feedback, das diesen Eindruck teilt.

Lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber sim!

So, bevor ich Dich jetzt noch länger warten lasse, poste ich Dir mal das, was ich schon fertig hab. Der Rest der Liste (wird nicht mehr viel sein) kommt dann abends. ;-)

Mir hat Deine Geschichte auch gut gefallen! :) Und ja: die erste Version besser als die momentane.
Überraschend ist die Wendung der Geschichte, aber Hunger und Not regen eben die Fantasie an. ;)

Nach all dem, was da im Thread schon vorgegangen ist, fällt es mir schwer, meine Kritik anzubringen, da sie einen Punkt betrifft, der bisher noch gar nicht genannt wurde (und wenn, dann hab ich ihn überlesen). Ich hab einige Zeit überlegt, den Punkt einfach unter den Tisch fallen zu lassen, aber das wäre unehrlich.
Was ich an schon gemachten Änderungen wieder zurücknehmen würde und warum, schreib ich einfach unten in die Liste.

Paul klappert mit den Zähnen und hat Gänsehaut. Sein Penis ist so klein als wäre er gerade aus einem kalten See gekommen. Das wenige Schamhaar klebt an seinem Bauch und er riecht als hätte er im Schlaf gepinkelt.
So, wie Du ihn zu Beginn beschrieben hast, dachte ich eher an einen Vier- oder Fünfjährigen, als an einen Zwölfjährigen – besonders durch das Nacktsein. Beim Schamhaar denke ich eher an einen Vierzehn-, Fünfzehnjährigen, und beim Pinkeln ist er wieder vier. Naja, gut, mit hohem Fieber kann es schon sein, daß er auch in dem Alter mal ins Bett macht.
Paul rutscht unruhig auf meinem Schoß hin und her. Die Wolljacke verrutscht und er sitzt mit seinem nackten Hintern auf meiner letzten sauberen Hose.
Aber hier gebe ich ihm endgültig keine zwölf mehr. Schon gar nicht, wenn er sich bereits körperlich entwickelt (Schamhaar). Nackt auf dem Schoß des Bruders (oder der Schwester) zu sitzen, kommt mir in dem Alter schon eher befremdlich vor, zumindest bei »normaler« Erziehung …
Noch was zum ersten Zitat: Daß der Blick hier auf den Penis gerichtet wird, kommt mir ebenso unnatürlich vor. Er steht da und zittert, hat Gänsehaut, die Zähne klappern – eigentlich ist das ja schon genug an Beschreibung, sodaß Du das mit dem Penis einfach streichen könntest. Warum sollte der Bruder (was ja nicht ganz klar ist, es könnte auch die Schwester sein) extra noch so genau auf den Penis schauen, wenn man doch schon am Gesicht und dem Oberkörper erkennt, wie kalt ihm ist. Um das so genau zu erkennen, müßte er (sie) den Blick extra darauf richten – würde er (sie) das tun, oder doch Pauls Schamgefühl respektieren, das er mit zwölf ziemlich sicher schon hat? Daß er nackt dasteht, finde ich okay, aber das mit dem Penis als Gradmesser und dem Auf-dem-Schoß-Sitzen finde ich wirklich nicht so passend.
Eher würde ich statt »lege Paul meine Wolljacke um die knochigen Schultern« schreiben, daß er einen schmutzigen, vielleicht schokoladeverschmierten Jogginganzug oder was auch immer aus der Schmutzwäsche anzieht, dann wäre die Angst des Ich-Erzählers, daß die letzte saubere Hose schmutzig wird, auch begründet.

Der »Feudel« scheint eins Deiner Lieblingswörter zu sein – dem bin ich schon mal in einer Deiner Geschichten begegnet, und das ist noch gar nicht lange her. :)
sim, mutiger Retter des Feudels. :D ;)

Zum Holz noch ein Gedanke: Sie können ja ruhig Holz sammeln gehen (weg mit den wiederverwertbaren Pfandkisten, solche Erklärungen sind doch nicht die eines Jugendlichen) – wenn es z. B. tagelang geregnet hat, ist das Holz (egal, ob es aus dem Wald ist oder ob es zum Abfall gestellte Bretter oder zerkleinerte Möbel sind) naß und brennt schlecht. Und gerade, wenn es in der Wohnung kalt ist, trocknet es auch nur langsam.

Du läßt jetzt die Mutter arbeiten, d. h., ein paar Rubel (:D) mit Putzen verdienen. Das finde ich nicht schlecht, allerdings erwähnst Du zuerst nur, daß sie arbeitet, und an dieser Stelle habe ich mir erst Gedanken gemacht, warum sie dann so überhaupt nichts haben. Denn wenn sie richtig arbeiten würde, müßte sie zumindest entweder die Stromrechnung oder was zu essen zahlen können. Erst später erklärst Du, daß es nur eine stundenweise, schlecht bezahlte Arbeit ist, das ist meiner Meinung nach zu spät. Würde das schon bei der ersten Erwähnung einfügen, oder sie eben wieder nicht arbeiten lassen. Wenn sie arbeitslos ist, bekommt sie wohl auch deshalb nichts, weil der Mann ja arbeitet und zumindest am Papier verdient, und das ist es ja, was ja für die Bürokratie zählt, nicht die Realität.

So, jetzt aber wirklich der Reihe nach: ;-)

»Plötzlich steht mein kleiner Bruder barfuß und nackt auf dem speckigen Beton in der Küche und sagt keinen Ton. Wenn der Boden wenigstens mir Linoleum ausgelegt wäre, aber das ist teuer in Zeiten, in denen alle natürlichen Ressourcen geschont werden müssen.«
– Wenn er nackt ist, gehe ich davon aus, daß er auch barfuß ist, es reicht also eins davon.
– mit Linoleum
Außerdem würde ich Dir hier dazu raten, die alte Version, »auf dem speckigen Linoleum in der Küche und sagt keinen Ton«, wieder einzubauen. Das war ein toll beschriebenes Bild für den Einstieg. Und das Linoleum kann schon in der Wohnung drin gewesen sein, oder sie haben es irgendwann billig erstanden. Es gibt ja auch Restehallen oder Abverkäufe etc. Der Bruder würde wohl auch nicht an zu schonende natürliche Ressourcen denken – das klingt ziemlich unnatürlich in der Situation.
Obendrein fällt es mir aber auch schwer zu glauben, daß bei Euch einer Familie mit Kindern nicht vom Jugendamt oder Sozialamt so weit geholfen würde, daß die Kinder wenigstens nicht am nackten Boden leben müssen – auch in dieser Hinsicht ist also die erste Version die glaubwürdigere.

»Die Rippen stehen wie Fischgräten hervor, jede einzeln zu zählen, der Bauch ist so eingefallen, dass man das Gummiband eines Weckglases darum spannen könnte.«
– nach »zählen« würd ich einen Punkt machen.

»Er hat blaue Stellen an den Hüften, vermutlich, weil der Federkern schon überall durch die verschlissene Matratze seines Bettes zu sehen war.«
– auch da klang die alte Version besser: »vermutlich, weil der Fußboden unter der dünnen Isomatte aus dem Supermarkt viel zu hart war.«
Gut, ich habe mir auch beim ersten Lesen Gedanken gemacht, warum der arme Junge wohl auf der Isomatte schlafen muß. Eher hätte ich aber einen Grund eingefügt, als es so zu ändern – das mit dem Federkern klingt keineswegs glaubwürdiger, vielmehr denke ich mir da: Warum kann er dann nicht im Bett des Vaters liegen, wenn der doch in Spanien ist? Dabei ist es doch ganz einfach: Mit der Isomatte kann er in der Küche schlafen, wo es zumindest ein bisschen wärmer ist, weil ab und zu der Ofen eingeheizt wird, wie Du ja auch selbst schreibst.

»er riecht als hätte er im Schlaf gepinkelt.«
– riecht, als

»Wenn wir warmes Wasser hätten, würde ich ihn unter die Dusche stellen und ihn anschließend in ein flauschiges Frotteehandtuch hüllen,«
– das noch zum oben Gesagten: Hier würde ich schreiben »ihn unter die Dusche schicken …« ;)

»Wir haben November und man hat uns den Strom abgestellt.«
– Ich fand an der alten Version nichts auszusetzen, aber die Änderung stört in dem Fall nicht. Egal, welche Du nimmst. Warum man Heizungen in Wohnungen nicht abstellen können sollte, weiß ich eigentlich nicht. In meiner alten Wohnung hab ich mit Gas geheizt, das hätten sie mir abstellen können, jetzt heize ich mit Fernwärme, die könnten sie auch abstellen.

»Nachts kann ich es wagen, die Säge mitzunehmen.«
– Schon mal nachts im Wald gewesen? Ohne Taschenlampe, meine ich, weil Batterien sind teuer, und zum Aufladen von Akkus braucht man Strom.

»Einen Zent bekommt er pro Blatt, Geld, durch das wir wenigstens ab und zu mal Kohlen kaufen können.«
– nach »Blatt« würde ich einen Punkt machen, und statt »durch« würde ich »um« schreiben

»»Papa ist auf Haiti.« Wieder fahre ich ihm mit der Hand durchs Haar. »Er baut dort Swimmingpools für die reichen Leute und bestimmt wird er uns bald Geld schicken. Oder Flugtickets, damit wir nachkommen können.««
– Würde ich wieder zurückändern auf Spanien. Einfach, weil es glaubwürdiger klingt.

»Keine Überweisungen, keine Briefe, nicht einmal eine Postkarte.«
– wenn es keines ist, dann immer Einzahl, da »kein« »nicht einmal ein« bedeutet: Keine Überweisung, keinen Brief, … (bei der Postkarte hast Du es automatisch richtig gemacht?)

»wie er mit einem Bleistift auf der Tischplatte etwas zeichnet.«
– »etwas« würde ich streichen

»Genervt stehe auf und gehe zu meinem Bruder an den Tisch und sehe auf die Zeichnung.«
– das erste »und« würde ich durch einen Beistrich ersetzen

»Er beißt sich nur auf die Lippe und kratzt weiter konzentriert den Bleistift über den Tisch.«
– das Beißen auf die Lippe wiederholt sich da

»Er sieht so ernsthaft aus, dass ich keinen Zweifel habe, dass er daran glaubt.
»Als ich krank wurde«, antwortet Paul. »Aber jetzt geht es ihm gut. Deshalb hat er mir den Bleistift geschenkt und mir gesagt, dass ich wieder gesund werden kann.««
– drei »dass« in diesem Stück, vielleicht geht ja eins noch weg. ;-)

Fortsetzung folgt. ;-)

Alles Liebe,
Susi :)

 

Liebe Häferl,

zunächst mal vielen Dank für die Anregungen.
Am Samstag habe ich noch heimlich still und leise ein paar Änderungen durchgeführt, bei denen ich den Linoleumboden schon wieder ausgelegt hatte. ;)
Zu Pauls Alter und zu Pauls Scham.
Bei nackt und barfuß kann ich das barfuß sicherlich streichen, da es mit assoziiert wird, Das ist richtig.
In seiner Entwicklung ist Paul ganz sicherlich uneinheitlich. Das liegt im konkreten Moment zum Beispiel an der Krankheit, generell aber sicherlich auch am Schwellenalter zwischen Latenz und Pubertät.
Kranke Kinder und auch Jugendlich verhalten sich oft kindlicher als sie sind. Auch das Bedürfnis nach Körperlichkeit steigt.
In vielen Punkten muss Paul recht erwachsen sein (mit den Zeitungen für die Familie etwas dazuverdienen, anstatt Taschengeld zu bekommen zum Beispiel). Das führt auch oft im Ausgleich dazu, dass er in Entwicklungsbereichen kindlicher ist, in denen er es sich leisten kann.
Ich habe kein Problem damit Bemerkungen über Penisgröße zu streichen oder ihm einen Jogginganzug anzuziehen, bevor er sich auf den Schoß des Bruders (oder der Schwester) setzt. (Übrigens ein schönes Zeichen für erfolgreiche Emanzipation, dass fast alle einen Jungen darin lesen, obwohl er fast nur häusliche Aufgaben erledigt.)
Ich bitte dabei aber eines zu bedenken. Wenn jemand nackt in der Küche steht und die Arme vor der Brust verschränkt, dann muss man nicht extra hinschauen, um das Genital zu sehen. Und in der Enge von Armut gelten oft andere Grenzen. Wenn zum Beispiel Wasser und Energie knapp sind, kann es sein, dass Geschwister ohne Rücksicht auf ihre Scham gemeinsam in die Badewanne müssen.
Grenzen werden ohne "Missbrauchsverdacht" verrückt. In vielen Slums dieser Welt ist es zum Beispiel so, dass Geschwister sich ein Bett teilen müssen, da es nicht genügend gibt.

Der Feudel ist gar nicht unbedingt eines meiner Lieblingswörter und gerettet werden muss er auch nicht. Er ist hier ein so gebräuchliches Wort wie bei euch leiwand.

Zum Holz: Ja, ich könnte durchaus Wert auf trockenes Holz legen, würde ganz sicher die eine oder andere Erklärung überflüssig machen. Auch wenn ich "wiederverwertbare Pfandkisten" als Wiederkäuung offizieller Sprachregelungen durchaus möglich finde. Ältere Bewohner der neuen Bundesländer kennen bestimmt einige solcher offiziellen Sprachregelungen, die ihnen schon als Kind in Fleich und Blut übergegangen sind.

Die Rubel als Währung analog zum Cent zeigen vielleicht an, in welche Richtung ich von Beginn an wollte. Nach den ersten Kritiken habe ich mich leider davon abbringen lassen, nach den nächsten wurde mir immer klarer, dass ich im Gegenteil darin konsequenter sein muss.
Wenn ich richtig konsequent gewesen wäre, dann wäre Paul anfangs vielleicht weiß, das ältere Kind hätte mit dem Feul den Boden gewischt, dann aber das Rentierfell im Iglu ausgeschüttet und einen farbigen Jungen auf seinen Schoß genommen.
Das erschwert natürlich die Identifikation. Deshalb habe ich darauf verzichtet und diese Brüche in der Logik eher an anderen Stellen eingebracht. Vielleicht hätte ich das schon nach der ersten Kritik daran eher verstärken als glätten sollen. Dann wären darüber keine Missverständnisse entstanden.
Die Isomatte werde ich entsprechend auch wieder einbringen, sogar ohne Erklärung. Es wäre ja schließlich auch möglich, dass Vater und Mutter schon vorher in einem Bett von 90 cm Breite gemeinsam geschlafen haben. Und egal, welche Erklärung kommt, könnte man sich dann immer noch fragen, ob das älteste Kind oder die Mutter überhaupt ein Bett haben und wenn ja, warum sie nicht wenigstens so lange darauf verzichten, wie Paul krank ist.

»er riecht als hätte er im Schlaf gepinkelt.«
da ich hier schon den Kommafehler habe noch eine Bemerkung zum Bettnässen. Es kann bei kranken Kindern auch im Alter von 12 natürlich vorkommen. Es steht aber nicht einmal fest. Auch der Fiebrschweiß kann vor allem, wenn der Kranke nicht ausreichend trinkt, sehr streng nach Urin riechen.
– Würde ich wieder zurückändern auf Spanien. Einfach, weil es glaubwürdiger klingt.
Hier ist so ein Punkt, an dem ich von Beginn an nicht konsequent genug war. Haiti wäre schon etwas konsequenter gewesen, da es die Realität auf den Kopf stellt. Schließlich gilt es als eines der ärmsten Länder der Welt. Allerdings habe ich auch Haiti am Samstag schon wieder gestrichen und jetzt in der Konsequenz ersetzt, die deutlich macht, dass es mir nicht um sozialrealistische Alltagslogik ging. Der Vater baut die Swimmingpools jetzt auf dem Mond. Das mag aus der Atmosphäre reißen und völlig unglaubwürdig klingen, hat aber den Vorteil, dass es all die natürlichen Ressourcen, die Grundmittel zur Versorgung dort nicht gibt. Eine Dekadenz, die sich leistet, Güter wie Wasser, Energie und Lebensmittel für Milliarden irgendeiner Währung auf einen unwirtlichen Trabanten zu schicken, um ihn sich für den eigenen Luxus bewohnbar zu machen, beraubt letztlich die Erdenbewohner um das, was sie brauchen. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen. Armut entsteht, weil die einen auf Kosten der anderen immer reicher werden. Insofern ist der Mond für mich da auch die abgeschlossene Version.
»wie er mit einem Bleistift auf der Tischplatte etwas zeichnet.«
– »etwas« würde ich streichen
schon die "wie" Formulierung hätte ich bei anderen moniert. Peinlich genug, dass sie mir durchgerutscht ist. In älteren Texten von mir findet sie sich sicherlich noch, aber in letzter Zeit empfinde ich sie eigentlich immer als störend und falsch. Hatte sie aber auch schon Samstag geändert.


Lieben Gruß und vielen Dank noch mal, sim

 

Ich weiß nicht genau, was du in der Geschichte verändert hast, sim, aber das Linoleum stört mich jetzt nicht mehr. Überhaupt scheint die Geschichte eine runde geworden zu sein, jetzt, wo der Vater auf dem Mond Zement mit Wasser mischt, das auf der Erde – wir sind noch auf der Erde, oder? – kostbar zu sein scheint, wer weiß, vielleicht wird das Wasser vom Mond importiert? :D

Das Schöne an Science Fiction ist ja, daß man nicht wissen kann, was einmal sein wird. Gut möglich also, daß man in ferner Zukunft wieder Weckgläser und immer noch Bleistifte und Federkerne und Feudel haben wird, bei gleichzeitig billiger Post vom Mond, wer weiß, vielleicht werden da nicht nur Swimmingpools gebaut, sondern wachsen dort auch Wälder (bei geringer Schwerkraft sicherlich viel schneller!), um der Erde bei der Papierknappheit aus der Patsche zu helfen – ich sage ja, bei SF ist beinahe alles möglich, und außerdem haben deus ex machina schon die alten Griechen erfunden, wie heißt es so schön: Wo der Wille ist, gibt es auch einen Weg. :D

Ja, Vieles wird sich ändern, aber die nackte Nacktheit wird genauso bleiben wie die Leute, die sich daran stören - völlig zurecht, wie ich finde, denn wären Menschen dazu bestimmt, nackt zu sein, wären sie so geboren worden.* :D

Damit wir uns nicht mißverstehen, sim, ich halte die Idee mit der Science Fiction für eine gute, denn da muß man nichts oder nur wenig erklären, deine Geschichte wirkt so echt glaubwürdiger, und zwar unabhängig davon, daß es da nach wie vor ein paar Dinge gibt, die aus heutiger Sicht nicht so plausibel klingen, wichtig ist allein, wie die Geschichte vom Leser aufgenommen wird.

Dion

* Zitat von Oscar Wilde

 

Hi Dion,

vielen Dank für die Rückmeldung. Dabei bin ich heute noch nicht einmal dazu gekommen, die Änderungen und Korrekturen durchzuführen, die ich noch machen wollte.
Gedacht war der Mond zwar eigentlich anders, nämlich so, dass die Güter den Armen auf der Erde fehlen, weil sich die Reichen sie dort hoch exportieren lassen, aber wer weiß, wohin uns die Entwickung noch bringt. ;)

Lieben Gruß, sim

 

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