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Zugvogel

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30.06.2004
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Zugvogel

Draußen frischt der Wind auf und treibt rote Blätter am Fenster vorbei. Sie wirbeln in mein Blickfeld, führen einen hektischen Tanz auf, als wollten sie meine Aufmerksamkeit erregen, bevor sie ihres Weges ziehen. Ich liege auf der Seite, beobachte sie, und wünschte, ich könnte mit ihnen davonfliegen.

An einem Herbsttag wie diesem bin ich einmal von zu Hause fortgelaufen. Kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag, als Mutter angefangen hatte, Männer auf mein Zimmer zu senden. Einen Rucksack mit nützlichen Dingen auf dem Rücken, habe ich mich mitten in der Nacht aus dem Schloss geschlichen. Einem der Wächter hatte ich meine Halskette geschenkt, dafür, dass er mir das Tor öffnete. Doch noch vor dem Wald holten mich die Soldaten meiner Mutter ein und brachten mich zurück in ihre Obhut. Der Torwächter hatte mich verraten.
Seit diesem Tag darf ich meine Gemächer nur noch verlassen, wenn meine Mutter mich vorführen will. Bei ihren Festbanketten sitze ich an ihrer Seite, einen Soldaten hinter meinem Stuhl, und lächele, während sie unauffällig die anwesenden Männer auf deren Tauglichkeit prüft. Wenn die Feierlichkeiten vorbei sind, nenne ich ihr meine Wahl, und wenn sie damit einverstanden ist, lässt sie den Mann auf mein Zimmer bringen. Viermal bin ich seitdem schwanger gewesen. Viermal habe habe ich einen Wächter bestochen, dass er mir Bitterkraut bringt. Sie denken sich nichts dabei. Für sie ist es nur eine Teepflanze. Doch meine Bücher wissen, dass es Leben nimmt. Nicht meines, aber das, was in meinem Körper heranwächst. Ich möchte keine Kinder bekommen. Nicht hier.
Mein Zimmer liegt auf halber Höhe des Turmes. Im Herbst kann man von meinem Fenster aus den rotgoldenen Wald sehen, wenn es stürmisch ist, dringt das Knacken und Rauschen selbst durch die Glasscheiben an meine Ohren. Scharen von Zugvögeln ziehen jedes Jahr an meinem Turm vorbei, ihre heiseren Stimmen singen von Freiheit. Ich weiß überhaupt nicht, was hinter dem Wald liegt, aber in meinen Träumen ist es ein wildes Land, voller Wind und Weite.

Der weiche, warme Körper neben mir regt sich. Der Ruf des Herbstes ist in seine Träume vorgedrungen und hat ihn geweckt. Ich spüre, wie sich der Arm um meinen Körper lockert und schließlich weggenommen wird. Der warme Atem in meinem Nacken verschwindet. Über meinen Rücken läuft eine Gänsehaut, als er die Decke zurück schlägt, aufsteht und auf bloßen Füßen zum Fenster tappt.
Ich bleibe ruhig liegen und betrachte seinen schlanken Körper, bewundere den geraden, braungebrannten Rücken, die kräftigen Schultern und das offene, lange Haar, das so fein und leicht ist wie Daunen. Ich habe sofort erkannt, was er ist, als ich ihn gestern zwischen den anderen Gauklern beim Erntedankbankett sah. Inzwischen habe ich Übung darin. Der Gang, der Blick, die Körperhaltung, es ist immer das Gleiche. Dennoch musste ich sicher gehen, musste ihn mit zu mir nehmen, sehen, wie er auf den Ruf des Herbstes reagiert.
Er stößt das Fenster auf und lässt die kühle Luft herein. Es duftet nach Regen, frischem Lehm und Rauch. Wahrscheinlich brennen unten die Bauern ihre Stoppelfelder ab. Er breitet die Arme aus, als wolle er den Herbst umarmen und schnuppert in den Morgen. Sein lichtbraunes Haar weht schleierartig in den Böen, die auch einzelne Blätter hereintragen.
Plötzlich dreht er sich zu mir um und lächelt. Es schneidet mir jedes Mal ins Herz, wenn sie das tun. So wild und frei, mit einem Anflug von Spott in ihren runden Augen. Immer etwas überlegen, weil sie umherziehen können, wie es ihnen gefällt.
„Herbst“, seine Stimme ist so hell, wenn ich nicht wüsste, was er ist, würde ich mich darüber wundern. Ich lächele, weil er es von mir erwartet. Weil einer wie er einem freundlichen Gesicht nicht widerstehen kann. Sofort leuchten seine Augen noch stärker. Er ist glücklich. Nach einer angenehmen Nacht, beginnt nun für ihn die Zeit der Wanderung. Mein Hals wird eng vor Neid.
Betont langsam wühle ich mich unter den Decken hervor und setze mich auf die Bettkante. Die kühle Luft lässt mich frösteln, doch ich bleibe ruhig sitzen, locke ihn mit meinem nackten Körper zu mir. Meine Hand tastet nach dem Messer, das eingeklemmt zwischen Matratze und Bettrahmen ruht. Ich finde den rauen Griff und schließe meine Finger darum.
Er lässt sich vor mir auf den Knien nieder und streicht mit seinen langen schlanken Fingern durch mein wirres Haar. Ich schaudere, als seine Fingerspitzen an meinen bloßen Schultern ankommen und sacht meinen Rücken hinuntergleiten.
„Du bist sehr schön, Prinzessin.“
Ich ziehe vorsichtig am Messer. Es hat sich irgendwo verhakt. „Danke“, antworte ich, um ihn abzulenken.
Er grinst. „Aber jungfräulich bist du wirklich nicht.“
Ich zucke mit den Schultern. Ich habe diese Unterhaltung zu oft geführt, mit zu vielen Männern, Streunern, wie ihm, Männern aus dem fahrenden Volk, denen sowieso niemand glaubt, wenn sie etwas erzählen. „Nein, das ist nur eine Legende. Du weißt schon, in unserer Familie sind die Prinzessinnen seit Generationen angeblich jungfräulich. Die Gunst der Götter sorgt dafür, dass wir immer wieder Kinder gebären, obwohl wir nie das Bett mit einem Mann teilen. Sie wollen, dass wir über dieses Land herrschen, deswegen segnen sie unsere Körper.“ Mein Lächeln ist bitter.
Er grinst noch breiter. „Ja, diese Geschichte kam mir schon immer etwas seltsam vor.“ Seine Hände sind am Ende meines Rückens angekommen und wandern nun wieder nach oben. „Was wäre, wenn ich es herumerzählen würde?“
Ich lasse den Messergriff los, um ihm durch seine Daunenhaare zu streicheln. Sie kitzeln wunderbar leicht und weich meine Handflächen. „Wer würde dir glauben? Du bist nur ein Mann der Straße.“
Er lacht, nimmt meine Hand und küsst die Fingerspitzen. „Ich werde es nicht weitersagen, jungfräuliche Prinzessin, sei beruhigt.“ Schwungvoll richtet er sich auf und geht zum Fenster zurück. Sofort schiebe ich meine Hand zurück neben die Matratze. Ein paar kräftige Rucke, und das Messer ist frei. Rasch schiebe ich es unter das Kopfkissen, als er sich nochmals zu mir umdreht. Mit einer Hand greift er nach seinem Hemd, um es überzustreifen.
„Ich muss gehen, die Straße ruft mich.“
Ich lächele wieder, unschuldig, wie ich es schon lange nicht mehr bin. „Die Straße? Oder der Herbst?“
Er hält in seiner Bewegung inne, das Hemd noch immer in seiner Hand. Verwunderung tritt in seine Augen, verwirrt schüttelt er den Kopf. Ich bemerke einen rötlichen Schimmer, der sich auf seiner Brust ausbreitet. Ich muss mich beeilen, sonst ist es zu spät. Ich muss ihn noch einmal zu mir locken. Einladend breite ich die Arme aus, doch er bleibt stehen, sieht mich weiterhin fragend an, während sich das Rot auf seiner Brust verdichtet. Man kann schon die einzelnen Federchen erkennen.
Ich senke den Blick, lasse das Haar vor mein Gesicht fallen, versuche, hilflos und traurig auszusehen. „Du bist doch ein Zugvogel, nicht wahr?“ Ich höre seine Schritte auf dem Fußboden, als er zögernd wieder näher kommt.
„Woher weißt du das?“
Ich lächele zu ihm auf. „Märchen, Legenden. Wie die Geschichten über unsere Familie, nur, dass sie bei euch wahr sind.“ Sein Atem geht schnell, ich sehe, wie sich seine Brust hebt und senkt. Ich weiß, dass es ihnen Schmerzen bereitet, sich zu verwandeln, wenn die Federn durch ihre menschliche Haut stoßen. Lange, dunkelbraune Schwungfedern sprießen an der Außenseite seiner Arme. Doch seine Angst überwiegt seine Schmerzen, ich sehe es in seinen Augen.
„Ich dachte, das Wissen um uns sei verlorengegangen.“
„Ich habe es wiedergefunden. Ich habe viel Zeit, in den alten Märchenbüchern zu lesen. Es gibt so viele Geschichten über euch, wie ihr euch im Herbst in Vögel verwandelt und gen Süden zieht, wie euch nichts auf der Welt lange an einem Ort hält.“ Noch immer lächele ich ihm tröstend zu. „Keine Bange, ich werde niemandem von euch erzählen. Du kannst beruhigt weiterziehen.“
Sein dankbares Lächeln geht in seinem schmerzverzerrten Gesicht unter, als er vor mir auf den Boden stürzt. Sein ganzer Körper krümmt sich, ein leises Wimmern dringt aus seiner Kehle. Ich blicke auf seinen Rücken hinab, auf dem nach und nach ein dichtes Federkleid sprießt. Mitleid ergreift mich. Er sollte nicht so leiden. Er war so freundlich, so sanft. Ich zögere, beobachte seine Verwandlung und frage mich, ob ich ihn ziehen lassen kann. Doch dann treibt der Wind einen weiteren Schauer Blätter herein, nasskalt bleiben sie auf meiner bloße Haut kleben. Ich kann den Wald riechen.
Langsam ziehe ich das Messer unter dem Kissen hervor. Er bemerkt es nicht, windet sich mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Ich gehe neben ihm in die Hocke, drehe ihn mit einer Hand auf den Rücken.
„Weißt du, was man noch über die Zugvögel sagt? Dass derjenige, der von ihrem Blut trinkt, zu einem der Ihren wird.“ Ich flüstere nur, aber er hätte mich sowieso nicht wahrgenommen. Zu gefangen ist er in seinem Schmerz. Mit geübtem Druck durchtrenne ich seine Kehle. Er schreit nicht, nur ein leises Gurgeln ist zu hören. Blut spritzt auf meine Hände, meinen bloßen Körper, das Bett. Ich presse meine Lippen an die tiefe Wunde und beginne zu trinken.
Vielleicht wird es dieses Mal gelingen.

Die vorgegebenen Wörter waren: rot, Mutter, Lehm, Wald, schnuppern

 

Hallo Felsenkatze,
nachdem ich dich im Chat um eine Geschichte angewinselt habe, hast du mir diese gnädigerweise zur Kritik überlassen, dann will ich mal nicht so sein. Zunächst einmal hat mir die Geschichte recht gut gefallen, dennoch ist mir hie und da was aufgefallen.

Zum Beispiel:

Ich senke den Blick, lasse das Haar vor mein Gesicht fallen, versuche, hilflos und traurig auszusehen. „Du bist doch ein Zugvogel, nicht wahr?“ Ich höre seine Schritte auf dem Fußboden, als er zögernd wieder näher kommt.
„Woher weißt du das?“

Einen Satz weiter oben schreibst du, dass man die ersten Federn erkennen konnte. Das wäre, abgesehen vom Wissen der Prinzessin, welches sie aus Büchern hat, ein gutes Indiz.

Außerdem frage ich mich natürlich, warum niemand mitbekommt, das keiner der Zugvögel die Nacht mit ihr überlebt. Würde ich merken, das alle Mitglieder meines Volkes, welche ihr frönen, danach irgendwie verschwunden sind, würde ich es mir dreinmal überlegen, ob ich mit dieser Frau eine Nacht verbringen möchte.

So, dass soll es schon an Kritik gewesen sein. Eigentlich sollte sie umfangreicher werden, aber an mehr hab ich mich "leider"(??) nicht gestört. Ich hoffe es klingt nicht zu sehr von oben herab, das war nämlich nicht meine Intention. :)

Also nochmal als Fazit: Eine insgesamt sehr gute Geschichte.

 

Hey Paule,

danke für die Kritik und so.

Die Stelle mit der Frage könnte ich tatsächlich noch etwas abändern, es sollte eigentlich eher heißen, woher sie von dem "Volk" der Zugvögel wusste. Mal sehen, wann ich dazu komme.

Zu deiner anderen Anmerkung: es ziehen ja nicht alle Zugvögel zusammen durch die Gegend. Ich glaube nicht, dass jeder von denen Bescheid weiß, mit wem die anderen jeweils schlafen. Wenn es so etwas wie ein großes Jahrestreffen der Zugvögel gibt, werden sie wohl bemerken, dass welche fehlen, aber wer kann schon wissen, was denen zugestoßen ist.
Vielleicht schicken sie ja mal jemanden auf Erkundung... :D Wäre mal eine nette Fortsetzung.

Danke für das Lob. :) Freut mich, dass es dir gefallen hat.

Grüße,

Ronja

 

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