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Spiegelgefecht
Die Wörter waren: gegenüber, Hinterhof, Mundwinkel, Briefmarke und weitermachen.
Der Wüstenwind riss und zerrte an seinem verfilzten, grauen Reiseumhang und blies ihm die schwarzen Haare ins Gesicht.
Mit einer gereizten Bewegung fegte Iskar die Haare wieder fort, kniff die Augen zusammen, stapfte weiter durch den Sand und verfluchte ein weiteres Mal an diesem Tag die Tatsache, dass die Magie, die er gelernt hatte, nicht für den Alltag war.
Schon sah er sich versucht der Erschöpfung nachzugeben, sein Lager aufzuschlagen und morgen weiter zu gehen, als die ersten Häuser von Amon-Shakal aus dem sandigen Treiben auftauchten.
Er hob seinen Blick gen Himmel, der von jenen regenlosen, düstergrauen Wolken bedeckt war, wie sie immer in der Umgebung einer Zitadelle des Ordens zu finden waren.
Gerade als der Sandsturm vollends losbrach, erreichte Iskar die Stadt.
Er ging ein paar Schritte und hielt dann inne. Alle seine Sinne sagten ihm, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht richtig war…
Langsam drehte er sich um und blickte zurück, dann begriff er, was falsch war.
Gerade noch hatte der Wind ihn umtost, und Sand durch die Luft gewirbelt, doch es schien … als ob der Sturm einen Bogen um die Stadt machen würde. Iskar konnte den Sandsturm einige Meter weiter toben sehen, doch weder regte sich hier ein Lüftchen, noch war irgendein Laut des Windes zu vernehmen, der ein paar Schritt entfernt ohrenbetäubend heulen musste.
Das hatte ihm die Generalmagistratur nicht gesagt…
Kopfschüttelnd wandte er sich wieder um und blickt hoch zur Zitadelle, die im Zentrum der Stadt emporragte und dort saß, wie eine Spinne in ihrem Netz.
Jetzt, da auch das Geräusch seiner Schritte im Sand verstummt war, bemerkte Iskar auch, dass sich nicht nur nicht der Sturm, sondern überhaupt gar kein Laut, vernehmen ließ.
Eine totale und drückende Stille lag über der Stadt.
Iskar riss sich los von seinen Betrachtungen und setzte seinen Weg die staubige Straße entlang fort, vorbei an den schmutzigweißen Fassaden der Häuser mit ihren starrenden Tür und Fensteröffnungen.
Er überquerte einen großen Platz, der wohl einst ein florierender Markt gewesen war. Nun erblickte er nichts weiter als die zusammengesackten Reste von Verkaufsständen.
Nirgendwo zeigten sich Menschen, die ganze Stadt lag da wie ausgestorben.
Plötzlich zerriss ein Poltern die Stille und Iskar fuhr herum. Zuerst sah er nur einen der Stände, der nun gänzlich am Boden lag, doch dann erfasste sein Blick einen graugrünen Schatten, der gerade um eine Hausecke in einen Hinterhof verschwand.
Kurz kämpfte Furcht gegen Neugier, dann unterlag sie und Iskar setzte dem Ding, was auch immer es sein mochte, nach.
Er stürmte in den Hinterhof.
Ein greller Lichtblitz zuckte auf, Iskar taumelte geblendet zurück. Als er wieder sehen konnte, war der Hinterhof leer, bis auf ihn und das rostige Gerippe eines Fasses. Keine Spur zeugte von dem seltsamen Wesen.
Am Fuße der Zitadelle angekommen legte er den Kopf in den Nacken und blickte an dem großen Turm empor, der, obwohl schmutzig weiß bis hellgrau, düsterer schien als die tiefste Wüstennacht.
Noch einmal versicherte er sich der pergamentenen Unterstützung des Briefs in seiner Tasche, dann hob er die Hand und ließ sie einmal gegen die schwere Eisenpforte sausen.
Diese reagierte mit einem durchdringenden Dröhnen, das sich den Turm hinauf fortzusetzen schien. Sekunden darauf begann sich die Tür unter Quietschen und Kreischen zu öffnen.
Iskar trat in eine große, leere aus dem Felsgrund gehauene Halle.
Plötzlich nahm er im Augenwinkel eine Bewegung war und wirbelte herum. Er erblickt wieder den graugrünen Schatten, wollte ihn genauer betrachten, doch es ging nicht. Der Schatten blieb ein Schatten, eine unscharfe Wolke nichtidentifizierbarer Existenz.
Dann sagte der Schatten etwas, oder nein, es war kein Sprechen, sondern eher das Vermitteln eines Gefühls. Er sollte dem Schatten folgen.
Nämlicher führte ihn zu einem engen Treppenaufgang, den Iskar vorher nicht bemerkt hatte, und die schmalen Stufen hinauf, durch das steinerngraue Schneckenhaus der Wendeltreppe. Iskar kam an verschlossenen Türen vorbei, von denen er sich zuerst fragte, was wohl dahinter sei, bis er eine halb offene passierte, und sich sein Wunsch sofort ins Gegenteil verkehrte.
Schaudernd vertrieb er die Bilder aus dem Kopf und eilte keuchend weiter die gewundene Treppenflucht hinauf, immer dem Schatten hinterher, der problemlos die Stufen hinaufglitt.
Schließlich erreichten sie eine schwere hölzerne Pforte. Iskar blieb davor stehen, und wartete, ob etwas passiere, doch während eines Augenzwinkerns verschwand der Schatten so schnell, wie er unten aufgetaucht war und Iskar war allein.
Er hob eine feuchte Hand und klopfte zaghaft, fast hoffend, niemand werde antworten, an die Türe.
„Herein“, krächzte etwas, das nur noch entfernt an eine Stimme erinnerte.
Kurz verharrte er noch, dann kratzte er die letzten Reste Mut zusammen, die dieser Ort übrig gelassen hatte, und öffnete die Tür.
Vor ihm tat sich der seltsamste Raum, den er je gesehen hatte. Er war kreisrund und besaß vier große Fenster, die in die Himmelsrichtungen wiesen. Doch war ihr Glas nicht durchsichtig, sondern blutrot, sodass der ganze Raum in ein fast groteskes Licht getaucht war.
Bücher quollen aus den zahlreichen Regalen, auf den langen Tischen sirrten Apparaturen, die jeglicher Mechanik widersprachen, neben ihnen blubberten seltsame Reagenzien in schmalen Glaskolben und flossen durch dünne Röhren von einem Ende des Tisches zum anderen, wobei sie schillernd ihre Farbe wechselten.
An ein Regal gelehnt stand ein enormer Spiegel mit Halbreliefs abstruser Kreaturen und der kryptischen Inschrift "Realitas Splendor - Alle Wirklichkeit ist Schein" auf dem Rahmen.
In diesem Raum schien keine Unmöglichkeit und Absurdität unauffindbar, wenn man nur lange genug suchte.
Iskars Blick blieb an einem hohen, grob gearbeiteten Lehnstuhl gegenüber dem Spiegel hängen, der im Schatten eines massiven Schrankes stand. Im Lehnstuhl saß etwas sehr dürres und sehr altes.
„Was willst du?“, fragte dieses Etwas nun ungeduldig und zwei rote Punkte blitzten ihn an.
Iskar setzte an etwas zu sagen, verschluckte sich und begann von neuem:
„Me..Mein Name ist Iskar Lethirod, Nekromant zweiten Grades, ich k..komme von der Generalmagistratur in Hirád und soll euch f..folgende Order überbringen.“
Er eilte durch den Satz wie gehetztes Wild.
„Tritt näher, und erkläre mir, was die Generalmagistratur“ – das Krächzen klang bei diesem Wort leicht spöttisch – „von mir will!“
Obwohl sich jede Faser seines Seins dagegen sträubte, überwand sich Iskar und trat ein paar Schritt an den alten Nekromanten heran.
Er konnte nun den Tisch erkennen, der neben dem Lehnstuhl stand. Auf dem Tisch lagen – Iskar wunderte sich kaum mehr – tausende von Briefmarken, über- und nebeneinander. Offenbar hatte der Alte noch vor kurzem daran gearbeitet.
Der Moment stiller Betrachtung ging vorbei und die roten Punkte fingen seine Augen wieder ein und hielten sie gnadenlos fest.
„Eine Order, sagtest du?“
Iskar nickte stumm.
„Worauf wartest du? Was für eine Order?“
Er zog den Brief aus dem Mantel und hielt ihn dem Alten hin.
Eine skelettfingrige Hand kam aus der Dunkelheit des Lehnstuhls und umschloss das Pergament. Hastig zog Iskar seine Hand zurück.
Doch anstatt ihn zu lesen, warf der Alte den Brief einfach hinter sich.
„Ich hasse Briefe, sag mir was drinsteht!“
Die roten Punkte hielten Iskar weiter beinahe körperlich unangenehm fixiert, als er nun zu sprechen anhob:
„Es ist so, dass…nunja…die Generalmagistratur seit geraumer Zeit keine Steuern mehr aus Amon-Shakal bekommt.“
Ein höhnisches Krächzen ertönte aus der Dunkelheit.
„Wo sollen die Steuern denn herkommen? Du hast doch die Stadt gesehen!“
Iskar schluckte, das hatte er, und sie hatte ihm nicht gefallen.
Nun kam er zum Teil der Order, der ihm schon die ganze Zeit Kopfschmerzen bereitet hatte.
„Die Generalmagistratur hat…hat weiterhin beschlossen, dass ich euch…nunja…als Statthalter hier ablöse, um…um das Eintreiben der Steuern für den Orden zu überwachen.“
Es war heraus.
Eine Sekunde lang herrschte völlige Stille, dann fuhr plötzlich eine skelettfingrige Hand aus dem Dunkeln und packte ihn am Hals.
Die roten Punkte, die nun Feuer zu sprühen schienen, kamen näher.
„Die Generalmagistratur will was? Mich ersetzen?“
Das Krächzen des Alten erstickte fast in seiner Wut. Er hatte Iskars Hals jetzt so fest gepackt, dass Iskar um Luft rang. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn
„Niemand setzt mich ab!“
Iskar fühlte sich zurückgeschleudert, taumelte rückwärts und prallte gegen ein Bücherregal. Zusammen mit einigen Büchern fiel er zu Boden. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, hatte der Alte sich erhoben, und kam nun langsam auf ihn zu.
„Ich werde dir zeigen, was es heißt, mich herauszufordern!“
Nun, da er nicht mehr im Dunkel des Lehnstuhls saß, waren die eingefallen, zu einer Maske des Hasses erstarrten Züge des Alten zu erkennen.
Iskar wich zurück.
Der Alte hob die Hände und ein Stück hässlich gelber Todesmagie brach daraus hervor. Iskar warf sich zu Seite und die Magie zerfetzte ein Bücherregal.
Verkohlte Seiten, Asche und Holzsplitter flogen durch die Luft.
Durch den Qualm des verkohlten Regals konnte Iskar das Gesicht des Nekromanten sehen. Als sich ihre Blicke trafen, und der Alte die Angst in Iskars Blick sah, zuckte sein Mundwinkel, als wollte er mit einem längst verlernten Grinsen seinem höhnischen Triumph Ausdruck verleihen.
Wieder hob er die Hände und ein weiterer Schwall Vernichtung flog in Iskars Richtung. Gerade noch konnte er ausweichen, doch die gelbe Welle streifte dennoch seinen Arm. Schmerz durchzuckte seine Seite und begann sich auszubreiten.
Keuchend hielt er seinen Arm und versuchte kriechend die Tür zu erreichen.
Ein weiteres Bücherregal und ein Tisch mit Chemikalien waren getroffen worden und der Raum war erfüllt von beißendem Qualm.
Durch die Schwaden sah er die beiden rot glühenden Augen des Nekromanten auf sich zukommen. Verzweifelt versuchte er aufzustehen, aber sackte zurück. Da stieß er an etwas Kaltes, Glattes.
Zuerst wusste er nicht, was es war, doch dann lag der Gedanke so klar vor ihm wie Nordmeerwasser.
Er kauerte sich hin, und wartete.
Die Augen kamen näher.
„Du wirst für deine Dummheit sterben, jemanden herauszufordern, der über die Macht von Tausenden von Leben verfügt. Einzeln eingesammelt hab ich sie alle. Magisch verstaut, um ihre Macht zu nutzen. Die Generalmagistratur kann mich nicht absetzen und ich werde ihr deinen Kopf schicken, als Beweis dafür!“
Er hob die Hände, ein menschliches Skelett, umgeben von Qualm und Asche, und schleuderte einen riesigen Schwall Tod und Verderben in Iskars Richtung.
Mit allerletzter Kraft warf dieser sich nach links, die Magie traf auf den Spiegel hinter ihm, prallte zurück und traf den alten Nekromanten.
Ein schriller, krächzender Schrei abgrundtiefen Hasses entrang sich seiner Kehle, dann war er verschwunden.
Langsam und unter Schmerzen zog sich Iskar mit einer Hand am Spiegel empor. Der beißende Qualm begann sich zu legen.
Er blickte sich um, verkohlte Bücher und Regalreste bedeckten den Boden, die Chemikalien hatten sich zu einer blubbernden Pfütze am Boden gesammelt und fraßen sich durch die Buchseiten, die darin lagen.
Iskar schleppte sich zu dem Lehnstuhl und ließ sich hineinfallen.
Was der Alte zum Schluss gesagt hatte kam ihm wieder in den Sinn, als sein Blick durch ein zerstörtes Fenster auf die leere Stadt fiel und er begriff.
Nur, wo hatte er die Leben aufbewahrt, wo konnte man Tausende von Leben verstauen?
Er sah sich genauer um. Der Bücher waren es zwar hunderte in dem Raum, aber nicht Tausende, es gab einfach nichts geeignetes hier. Da glitt sein Blick über den Tisch zu seiner Linken und das, was darauf war und die Erkenntnis dämmerte in ihm herauf, wie ein Morgenhimmel, der die Nacht abstreift.
Er betrachtete die Briefmarken genauer – und schreckte hastig zurück, als eine ihn ansah.
Wieder zur Ruhe gekommen durchwühlte er hastig alle Marken. Alle schienen zu leben.
Dann spürte er es. Die unsägliche Macht, die von diesem unscheinbaren Haufen Papierschnipsel durch seine Finger in ihn hinein floss, spürte sie in seinen Adern pulsieren, bemerkte kaum, wie sich die Wunde an seinem Arm schloss und der Schmerz verblasste, so berauscht war er von dem neuen Gefühl der grenzenlosen Macht, die er nun kontrollierte.
Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen, wie ein König über sein Reich blickt.
Dabei streifte sein Blick den Spiegel – und er erstarrte mitten in der Bewegung.
Aus dem Spiegel sah ihn nicht sein eigenes Gesicht, sondern das des Alten an, der an seiner Statt im Lehnstuhl saß. Er blickte an sich herab, doch sah er aus wie immer.
Gehetzt blickte er sich um, der Alte war doch tot, verschwunden.
"Spürst du die Macht?", vernahm er da ein hämisches Krächzen in seinem Kopf.
"Vor vielen, vielen Jahren kam schon einmal ein junger Nekromant hierher, dem es genauso erging, wie dir, weißt du?"
Wie paralysiert saß Iskar da und starrte in den Spiegel.
Eine unendliche Sekunde lang tobte ein schrecklicher Kampf in seinem Geist.
Grenzenloser Hass auf alles Leben ergriff von ihm Besitz, ließ ihn die Welt durch einen Schleier sehen, so rot wie die Scheiben der zerstörten Fenster, wich dann kurz kaltem Verstand, der in seiner Unentschlossenheit in tausend Teile zersprang und in Ansicht der leeren, toten Stadt von Mitleid und Wehmut gefolgt wurde, da kam der Hass wieder hoch, zusamen mit grausamer Euphorie über seine Macht. Welle um Welle von Mitleid und Hass rollten gegeneinander, zerbarsten, bauten sich wieder auf, schlugen erneut gegeneinander, dann wurde die Hassflut schwächer, wich zurück und verschwand.
Der Bann löste sich, er sprang auf, raffte die Briefmarken zusammen und stürmte zum Fenster, aus dem er die Briefmarken hinauswarf, wo sie der Wind erfasste, der die Stadt nun nicht länger mied, und hoch wirbelte, um sie dann in wirren Kapriolen gen Boden segeln zu lassen.
Die krächzende Stimme in seinem Kopf wurde schriller, "Hör auf", schrie sie, "Du weißt nicht, was du wegwirfst!"
Immer lauter wurden die Schreie, drohten, seinen Kopf zum Zerspringen zu bringen.
Doch er zwang sich zum Weitermachen, bis alle Briefmarken zur Stadt hinab geweht worden waren.
Das Kreischen verstummte.
Dann stand er lange am Fenster und starrte ins Nirgendwo und auf die Stadt, die nach langen Jahren wieder langsam erwachte.
Er wollte sich gerade von der Öffnung abwenden, als er eine letzte Briefmarke entdeckte, die sich in seinem Umhang verfangen hatte. Er nestelte sie heraus und betrachtete sie eine Zeit lang. Dann ließ er sie sanft aus dem Fenster segeln und mit ihr verschwand auch der letzte Rest des Alten.
Begleitet von den ersten Geräuschen der Stadt schritt Iskar im Morgengrauen die Ausfallstraße hinunter. Gerade ging die Sonne am nunmehr strahlend blauen Himmel auf.
Als er seinen Umhang zusammenzog, um sich gegen den Wind zu schützen, bemerkte er die silberne Mantelspange, die ihn noch als Bediensteten der Generalmagistratur und Nekromant auszeichnete. Mit einem leisen „Klimp“ fiel sie in den Sand, und der Wind begann eifrig, sie zu begraben, während Iskar wieder in das sandige Treiben der Wüste hinaustrat.
Den graugrünen Schatten, der ihm, den er so lange gesucht hatte, folgte, bemerkte er nicht.