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Er gehört zu mir

sim

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13.04.2003
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Er gehört zu mir

»Papa!« Henning fliegt vom Ausgang der Schule auf mich zu, breitet seine Arme aus, lässt sich von mir anheben und einmal im Kreis drehen. Ist er so viel schwerer geworden oder ich so viel schwächer? Ich kann ihn kaum halten, wenn die Fliehkraft an seinen Füßen zerrt und die Beine wie Flügel in der Luft schwingen. Nach einem Kuss setze ich ihn zu Boden.
»Schau mal in den Kofferraum meines Wagens.« Aufgeregt läuft er los und öffnet die Heckklappe.
»Du willst fort.« Sein Gesicht betrübt sich, als er die beiden Rucksäcke sieht. Daran hatte ich nicht gedacht, dass er es so auffassen könnte. Ich schüttle den Kopf.
»Nein, Henning. Ich will nicht fort. Wir verreisen.«
»Jetzt gleich?« Ungläubig schaut er mich an. »Kommt Mama auch mit?«
»Deine Mama muss arbeiten. Und da du Ferien hast, hat sie mich gebeten, mit dir wegzufahren.«
Hennings Augen werden immer größer, der Mund ist weit geöffnet. »Aber warum hat sie heute Morgen nichts gesagt?«
»Es sollte eine Überraschung sein.«
Hatte ich erwartet, dass er mir vor Freude noch einmal um den Hals fällt? Ich weiß doch, wie es ist, wenn Überraschungen zu gut gelingen. Man kann sich nicht freuen. Hennings Mund bleibt offen, aber er jubelt nicht. Er sagt nicht einmal etwas. Er steigt wortlos in den Wagen und erst, als er schon auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, fragt er: »Darf ich vorne sitzen?«
»Klar«, antworte ich und spüre den strafenden Blick Elaines auf mir. Wie mächtig können Menschen sein?
»Wohin fahren wir?«
»Wohin möchtest du?«
»In die Berge.«
Das Meer hat ihn nie gereizt. Immer, wenn wir gefragt haben, wollte er in die Berge. Das muss er von mir haben. Elaine hasst die Berge.
»In Ordnung. Fahren wir in die Berge.«


»Schau mal!« Henning zerrt mit seinen kleinen Händen an meinem Hemd, während er gebannt aus dem Fenster sieht. Vor ihm der aufgeklappte Tisch mit einer Flasche Apfelsaft darauf. Immer näher rückt er an die Scheibe, presst seine Nase ans Glas, um nichts zu verpassen.
»Pass auf, Henning, sonst schmeißt du noch die Flasche um.« Ich fange schon an, wie seine Mutter. Wird man so, beladen von Verantwortung?
Unter uns rattern die Räder über die Gleise, ich gähne und übersehe lieber, dass Henning sich die Schuhe nicht ausgezogen hat, bevor er sich auf den Sitz kniete.
»Schau doch mal!« Kurz dreht er sich zu mir um, während er aufgeregt mit dem Finger nach draußen zeigt. Sachte erheben sich dort die ersten Ausläufer der Alpen. Hinter den Weiden türmen sich Mischwälder auf, aber Henning zeigt in den Himmel. »Siehst du den Vogel dort? Was ist das für einer?«
Hätte ich doch bloß besser aufgepasst in der Schule. Dann wüsste ich, ob es ein Adler ist, der dort oben kreist. Ich stehe auf, stelle mich ans Fenster und umschließe den zarten Körper des Jungen. »Ein Habicht oder ein Bussard? Ich kann es dir nicht sagen.«
Mund und Nase hinterlassen Spuren an der Scheibe.
»Mama hätte es bestimmt gewusst.«
»Ja, deine Mama ist klug.« Henning soll nicht schlecht über sie denken.
Ein paar Stunden Zugfahrt noch, dann werden wir am Ziel sein. Zum Glück ist der Blick aus dem Fenster aufregend für Henning.
»Siehst du einen Hasen oder ein Kaninchen auf den Weiden? Wenn der Vogel so kreist, könnte er sich bald hinab auf sein Opfer stürzen.«
»Nein.« Der Junge muss den Kopf schon weit drehen, um seinen Blick von dem winzigen Punkt im Himmel hinunter ins Tal lenken zu können. Bald wird der Vogel nicht mehr zu sehen sein.
»Schade.« Wie schön ist es, meine Hand auf seine Schulter zu legen, meinen Kopf nah an seinen zu halten und mit ihm in die gleiche Richtung zu schauen. Wie habe ich es vermisst, dass er sich so vertrauensvoll an mich schmiegt.
Die Sohlen seiner Schuhe sind zum Glück sauber. Trotzdem ziehe ich sie Henning sicherheitshalber aus, bevor ich mich wieder auf meinen Platz setze.
Der Vogel ist hinter dem Horizont verschwunden, die Geschwindigkeit des Zuges achtet nicht auf das, was wir sehen wollen, aber sie bringt uns immer weiter in Sicherheit. Die Hügel fangen an, Henning zu langweilen. Er rutscht wieder hinunter auf seinen Platz.
»Wann sind wir da?«
»Ein paar Stunden noch. Hast du Hunger?«
Henning nickt. Ich hole ein paar Brote mit Cervelatwurst und Gurken aus meinem Rucksack. Die hat er immer gerne gegessen, damals.
Damals. Das klingt, als ob es ewig her wäre. Dabei sind zwei Jahre nur dann eine Ewigkeit, wenn sie mit wartender und verzweifelter Sehnsucht gefüllt sind. Damals ist er noch nicht zur Schule gegangen.
Die Alufolie knistert, als ich eines der Brote auspacke und es ihm gebe. Wie vertraut einem Geräusche doch bleiben. Früher habe ich dieses Knistern immer nur gehört, wenn Elaine Henning ein Brot gab, während ich mich auf den Verkehr konzentrierte.
»Warum fährt Mama nicht mit mir in den Urlaub?« Brot quillt aus seinem Mund. Die Ungeduld lässt keinen Raum dafür, erst zu schlucken.
»Deine Mama muss doch arbeiten. Aber sie freut sich schon darauf, dich in zwei Wochen wieder zu sehen.« Wann würde er mich das nächste Mal fragen?
»Früher sind wir immer zusammen weggefahren.«
Früher. Als wir noch glaubten, so viel Glück gar nicht verdient zu haben und gemeinsam tief befriedigt lächelten, wenn wir noch einmal in sein Zimmer schauten, bevor wir ins Bett gegangen sind. Früher ist die Zeit der gemeinsamen Reisen, Henning auf der Rückbank und Elaine, die sich zu ihm umdrehte und dabei lachte.
»Ja, das war schön.«
Früher, als wir uns noch nicht dafür verletzten, dass wir uns auseinander gelebt haben.
Henning nickt bekräftigend. Das Brot hält er mit beiden Händen, wenn er hineinbeißt. Das blonde Haar hat er von Elaine, genau, wie die leicht angestupste Nase und die Sommersprossen. Nur die braunen Augen hat er von mir. Etwas scheint in seinem Kopf vorzugehen. Die Augen bewegen sich unruhig, schauen auf die beiden Rucksäcke, die über uns im Gepäcknetz liegen.
»Ich hoffe, Mama hat Nasi eingepackt.«
Das Nashorn. Wie konnte ich das vergessen. Hatte ich gehofft, dass er es nicht mehr braucht, wenn er in der Schule ist?
»Hey, beim Wandern nimmt Nasi doch viel zu viel Platz weg.«
Wie konnte ich erwarten, dass er sich damit zufrieden geben würde.
»Hat Mama ihn nun eingepackt?«
Ich darf ihn nicht belügen, nicht die Schuld auf Elaine schieben. Schließlich habe ich alle Sachen für ihn neu kaufen müssen. Ich weiß ja noch nicht mal, ob sie ihm passen.
»Nein. Ich habe es vergessen.«
Einen Moment lang vergisst er, zu kauen, mustert mich aus weit geöffneten Augen. Wenn ich ihm jetzt durch das Haar streichelte, würde der Schweiß meiner Hände es nässen. »Es tut mir Leid.« Ich könnte ihm anbieten, ein anderes Tier zu kaufen, sobald wir am Urlaubsort angekommen sind. Aber wäre das ein Ersatz für sein Nashorn?
»Armer Nasi«, sagt Henning. »Jetzt muss er zwei Wochen ohne mich auskommen.« Dann legt er seine Hand auf mein Knie. »Mach dir nichts draus, Papa. Ich vergesse ja auch manchmal etwas.«

Es muss schön sein, wenn man noch so klein ist, dass man mit zwei Sitzen auskommt, um sich hinzulegen. Es ist gut, dass er schläft. So kann er Kraft tanken für die Wanderungen von Hütte zu Hütte.
Gleich morgen in der Früh werden wir aufbrechen. In der Einsamkeit der Berge können wir verschnaufen, Vater und Sohn sein und gemeinsam etwas erleben. Dort werden sie uns hoffentlich nicht suchen.
Was spricht dagegen, dass er seinen Kopf so selig auf meine Beine bettet und ich ihn sacht streichle, während er schläft? Wie gefährde ich ihn in seinem Wohl? Was hat sie mir nicht alles angedichtet, nur damit ich ihn nicht sehen darf? Er würde nicht zu mir wollen, käme verstört von mir zurück. Er würde sich neuerdings im Bad einschließen, nachdem er bei mir war. Wie kommt sie auf solche abstrusen Ideen?
Ahnt er, dass Elaine mir hat verbieten lassen, mich ihm zu nähern? Weiß er um die Aufsicht, die immer dabei sein muss, wenn wir uns legal sehen wollen? Weiß er um die Bannmeile von fünfzig Metern? Wäre er dann so hoffnungsvoll auf mich zu gelaufen?
»Henning, wir müssen gleich umsteigen.« Ich mag ihn kaum wecken, so friedlich schläft er auf meinem Schoß. Er blinzelt leicht, murrt ein bisschen, bevor er die Augen öffnet.
»Was ist los?«
»Wir sind gleich in München.«
Langsam reckt er sich hoch, die Augen sind noch verklebt, die Haare verwuselt und platt gedrückt. Er schaut sich im Abteil um, blickt aus dem Fenster, dann auf mich.
»Guten Morgen Papa«, sagt er verwundert. »Dann habe ich ja doch nicht geträumt.«
So unwirklich bin ich schon für ihn.
»Nein, du träumst nicht.«
»Wo fahren wir hin?« Er blickt aus dem Fenster, sieht die Häuser an der Bahnlinie.
»Heute Abend erst mal nach Ainring.«
»Zum singenden Wirt?« Langsam kommt Leben in ihn. Den singenden Wirt kennt er aus der glücklichen Zeit. Aber darauf würde Elaine kommen. Ich reiche ihm seine Schuhe.
»Nein«, antworte ich währenddessen. »Dort hatten sie leider kein Zimmer mehr frei. Wir übernachten im Ainringer Hof. Und morgen früh kaufen wir dir neue Stiefel und wandern über das Steinerne Meer.«
»Ich kann das alleine«, wehrt er ab, als ich ihm die Schuhe zubinden will. So viele Fortschritte ohne mich. Also hole ich das Gepäck aus der Ablage. Einen Rucksack wird er tragen müssen. Aber ich habe nur ganz leichte Dinge darin.
»Ich habe es nur gut gemeint.« Irritiert schaut er kurz auf, bevor er den Knoten ein letztes Mal festzurrt.
»Wie kommt es, dass du auf einmal wieder etwas von mir wissen willst?« Er schaut mich nicht an, als er das fragt. Meine Hand schüttelt er ab, als ich seinen Kopf zu mir drehen möchte.
»Wieso denkst du, dass ich das nicht mehr wollte?«
»Mama hat es gesagt.«
Wütend beiße ich die Zähne zusammen. Wie schaffe ich es, ihm die Wahrheit zu erzählen, ohne Elaine schlecht zu machen? Wie schaffe ich es, ihr nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, was sie mit mir tut. Sie ist seine Mutter. Er soll sie lieben. Wir sind doch noch nicht einmal im Streit auseinander gegangen.
»Ich wollte immer etwas von dir wissen.« Den Zusatz - ich durfte ja nicht – verkneife ich mir. Damit hat er nichts zu tun. »Ich konnte nur nicht. Aber jetzt habe ich Zeit für dich.« Ob er sich damit zufrieden gibt? Ich halte ihm seinen Rucksack hin, sodass er mit seinen Armen durch die Träger greifen kann. Die Gurte zieht er sich alleine zurecht. Er hat viel gelernt in den zwei Jahren. Wir stolpern im Gang, als der Zug bremst. In München wollen viele Passagiere aussteigen. Ich nehme Henning an die Hand. Wir müssen uns beeilen, denn der Zug nach Freilassing fährt schon bald ab.


Hat jemand gesehen, wie Henning zu mir ins Auto gestiegen ist? Ich sollte Henning bei Elaine anrufen lassen, damit sie weiß, dass es ihm gut geht und er in zwei Wochen wieder kommt. Sie würde mir selbst diese zwei Wochen nicht gönnen. Vielleicht war es keine gute Idee, ausgerechnet nach Ainring zu fahren. Oder ist es nur Zufall, dass ein Polizeiwagen am Bahnhof steht?
Wir könnten überall sein. Das schlechte Gewissen redet mir Gespenster ein. Ich hoffe, Henning spürt meine Angst nicht. Bisher hat er mir geglaubt, dass seine Mutter mich gebeten hatte, mit ihm zu verreisen. Als ob wir noch anders als über Anwälte miteinander reden würden.
Wir sind nur Vater und Sohn, kein Grund zur Panik. Wir werden jetzt das Gepäck schultern, aus dem Zug aussteigen und den schmalen Weg zum Gasthof gehen.
Einer der Beamten lächelt freundlich, als wir auf den Bahnsteig treten. Bin ich auffälliger, wenn ich grüße, oder wenn ich an ihm vorbeischaue?
Wir müssen warten. Die Schranke öffnet sich erst, wenn der Zug fort ist. Dann können wir über die Gleise. Henning ist hellwach. Zum Glück redet er pausenlos auf mich ein, zeigt auf die Berge der Umgebung, auf den Watzmann, auf den Hundstot und auf den Untersberg, der sich als gewaltiges Massiv über das Tal erhebt und es dominiert.
Es ist erstaunlich, wie gut sich Henning die Namen der Berge merken kann. Fast, als wäre er hier zu Hause. Solange die Schranke unten ist, knie ich mich zu ihm, lasse mir alles erklären, was ich ihm gezeigt habe, als wir das erste Mal mit ihm hier waren.
Im Rücken spüre ich den Schatten, der auf mich zukommt.
»Herr Gravensen?«


Die Wörter des Illusionisten waren Zugfahrt, kreisen, hoffnungsvoll, beladen, Tal

 

Schon, um bei ihm gute Stimmung zu machen.
hehe - damit machst du mir den Vater sympatisch, auch wenn ich jetzt gleich von allen Verantwortungsvollen eins auf den Deckel bekomme *duck*

 

Hey Anea, das soller ja auch. :)

zurück in die Wörterbörse verschoben.

 

Hallo Illu,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Für diese Geschichte gilt die nach innen gerichtete Erzählweise sicherlich. Für andere versuche ich ein imaginäres oder reales Gegenüber zu finden, dem der Prot die Geschichte erzählt. :)

Der Titel drückt nur die Grundhaltung aus, die bei beiden Eltern hinter so einem Streit um das Aufenthaltsrecht steht. Es ist Missgunst, die nie an dem Kind orietiert ist, auch wenn sie vorgibt, genau das zu sein.

Für den Mann ist seine Handlung, wenn auch was die Reise betrifft, geplant, doch eher eine Kurzschlusshandlung. Er macht sich noch keine Gedanken darüber, ob, wann nund wie er seinen Jungen zurückbringen will. Er weiß, es sind zwei Wochen Schulferien, er hat zwei Wochen Urlaub, alles andere wird sich ergeben. Insofern lässt sich deine Frage nicht beantworten. Hätte er zuvor aber überlegt, wäre er sicher darauf gekommen, dass ihm diese Entführung eher schadet als hilft.

Den von dir benannten Satz finde ich nicht überflüssig. Er weist darauf hin, dass auch der Junge aufgeregt ist.

Vielen Dank noch einmal für deine Anregungen und einen lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,
deine Geschichte ist natürlich wieder einmal wunderschön erzählt, flüssig, sehr gefühlvoll und am Ende richtig spannend! Doch was willst du aussagen? Ich möchte einmal deutlich erklären, wie es auf mich wirkt und entschuldige mich im Voraus dafür, wenn ich es etwas drastisch ausdrücke. (Du kannst so unglaublich gut schreiben, ich finde es schade, wenn die Aussage der KG versickert.) Für mich beschränkt sich der Inhalt auf: Ein liebender Vater leidet unter der Trennung von seinem Sohn, entführt ihn praktisch, wird erwischt und leidet noch mehr. Du verschweigst uns die Beantwortung der wichtigen Fragen, wie es zu dieser Situation kam und natürlich entbrennt unter den Kritikern ein heftiger Streit darüber! Ich kann mir nur zwei Gründe vorstellen: Entweder du hältst die Gründe bewusst zurück, um den Fokus auf die Sehnsucht des armen Vaters zu richten: Seht her, wie sehr er leidet! Oder der Vater verdrängt die Gründe dafür vor sich selber, also ein ganz extremer Leidender. Aber du als Autor hast die Ich-Form gewählt, nutzt keine Möglichkeit, um die Sicht des Lesers zu erweitern. Mich interessiert es, wie und warum Menschen in bestimmte Situationen kommen und wie sie sich daraus wieder befreien können. Deshalb finde ich diese Art von Geschichten unbefriedigend. Ich kenne so viele Leute, die herumlaufen und jammern, wie schlecht es ihnen geht, ohne genauer hinzugucken. Es wäre doch schön, wenn Geschichten da einen kleinen Anstoß geben könnten. Aber das ist wie immer nur meine persönliche Meinung! Ich hoffe, du bist nicht böse und kannst etwas damit anfangen!
liebe Grüße
Charlotte

 

Hallo tamara,

warum sollte ich dir böse sein?
Natürlich musste ich bei dieser Geschichte das Risiko in Kauf nehmen, dass sie so unbefriedigend endet, wie sie im Leben vielleicht enden würde. Und sicher wäre es leichter gewesen, einige plausible Gründe einzubauen, weshalb sich die Eltern über das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht einigen konnten. Aber gerade das ist das Problem. Sie einigen sich nicht as irgendwelchen plausiblen Gründen nicht, sondern nur, weil der Trennungsschmerz so weh tut. Die Leidtragenden bleiben die Kinder.
Ich gebe deiner Kritik grundsätzlich Recht. Es gibt viele, die jammern, ohne hinzuschauen, was sie dazu beitragen, dass es ihnen schlecht geht. Die Frage ist aber, ob das alles plausibler wäre, wenn man bspw. wüsste, der Mann hätte seine Frau vorher betrogen, oder zu wenig mit ihr geredet, wäre eifersüchtig gewesen oder hat die Zahnpastatube nie zugedreht. Würde all das für das Kind, das zwischen die Fronten gerät etwas ändern?
Ich habe die Gründe bewusst zurückgehalten, weil sie an der Kindssituation nichts ändern. Ich habe das Geschehen trotzdem aus der Perspektive des Vaters geschrieben, weil die Massivität seines Leides das Kind wieder in eine Nebenrollen drängt, so liebevoll von dem Vater auch mit ihm umgegangen wird. Und ich habe die Gründe zurückgehalten, um genau diese Diskussion anzufachen. Hätte ich dieser Geschichte einen Lösungsansatz verpasst, hätte ich jede Diskussion im Keim erstickt.

Vielleicht kann das ja meinem Gedankengang dazu ein bisschen erklären. :)

Einen lieben Gruß, sim

 

@lakita: Ich wollte dir noch herzlich für deine Ausführungen danken, die weitestgehend neu für mich waren. Beim Lesen der KG habe ich mich gefragt, wie es nur sein kann, das der Mann sein Kind nicht sehen darf.

@Sim: Es geht mir nicht darum, warum die Eltern sich getrennt haben, sondern ob der Mann etwas auslässt, wenn er denkt: "Was spricht dagegen, dass er seinen Kopf so selig auf meine Beine bettet und ich ihn sacht streichle". Das klingt so wehleidig, dass ich es nicht wage zu beurteilen, ob er das Kind nicht doch missbraucht hat. Du schilderst so einseitig aus der Sicht des Prots (war mir auch schon passiert ist!), gibst uns nur ein paar undeutliche Hinweise, dass es mich an die Tagebucheinträge erinnert, die du selber so schlecht verträgst. Da dieser Trick hier bei KG.de so oft angewendet wird, finde ich ihn auch nicht mehr originell. Ich kann deshalb weder sauer auf die Mutter noch auf ihn werden, du lässt mich als Leser frustriert in der Luft hängen. Das einzige Gefühl, die die KG in mir weckt, ist grenzloses Mitleid mit dem Vater, würde mich nicht wundern, wenn er sich umbringt. Du hast mal geschrieben, dass du nicht verstehst, warum deine Geschichten manche Leser runterziehen, hier kann ich versuchen, es dir und mir zu erklären. Wenn ich es so analysiere zieht es mich auch nicht runter.
Na gut, wenn du eine Diskussion anstacheln wolltest, hast du dein Ziel offenbar erreicht. Aber in meinen Augen geht es dabei einfach darum, was du in der KG ausgelassen hast. Außerdem ist das eine Diskussion von Kglern, die es gewohnt sind, sich Gedanken zu machen. Du lässt so viel offen, dass sich z. B. ein Vater, der sein Kind nicht sehen darf, weil er es wirklich missbraucht hat, als ungerecht bestraft bestätigt fühlen könnte.
Das Kind kommt für mich übrigens viel zu kurz. Außerdem würde es sich als Erwachsener auch fragen, wie es dazu kommen konnte.
Ich möchte mal ein anderes Extrembeispiel nennen: Wenn ein Deutscher schildert, was er am Ende des zweiten Weltkrieges als unschuldiges Kind durch Bomben und Flucht erlitten hat, kann man das Einzelschicksal nachvollziehen. Wenn es laufend solche Geschichten gibt und kaum berücksichtigt wird, wie es zu diesem Leid kam, wärest du wahrscheinlich einer der ersten, der die Fahne der politischen Korrektheit hissen würde. Mit Recht! Die Ursachen unseres Unglücks zu hinterfragen (auch wenn sie nicht von uns selbst verursacht sind) ist nicht nur wichtig, um es aufzuarbeiten und verzeihen zu können. Aus dem Unterlassen, dem Versinken im Jammern, kann sehr leicht neues Unheil entstehen. Oje, ich hoffe, ich klinge jetzt nicht zu pathetisch! Na, du weißt ja, dass mich das Thema Leid in KGs seit einiger Zeit beschäftigt.
liebe Grüße
tamara

 

tut mir Leid, tamara.
Ich habe deinen Beitrag jetzt wieder und wieder gelesen. Ich verstehe ihn nicht.
Lieben Gruß, sim

 

Hi Nacht-,

du hast Recht mit dem Titel. Der ist schon deshalb schlecht, weil ich nicht an dieses Lied gleichen Titels gedacht habe. "auch" darin würde aber den Rhythmus stören, "Es ist auch mein Kind" erschien mir zu abgegriffen und etwas besseres ist mir leider bisher nicht eingefallen.
Ja, so ein richtiger Showdown ist das Ende nicht, aber aus der Geschichte heraus konsequent.

Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Vielen Dank fürs Lesen und für den Kommentar, sim

 

Hallo Sim,

mir hat deine leise Geschichte gut gefallen. Als geschiedene Mutter kann ich die Thematik sehr gut nachvollziehen, diesen Zwiespalt zwischen Ärger und Unverständnis (und Leiden) über das Verhalten des anderen Elternteils und dem Wunsch, dass das Kind beide als Eltern (lieb) behält.

Auch hast du gut eingefangen, wie der Zwiespalt für einen Vater sein kann zwischen zärtlicher Liebe zum Kind und dem Verdacht, es zu missbrauchen. Das ist leider die Kehrseite dabei, dass Missbrauch jetzt aufgedeckt und thematisiert werden kann. Ich denke, Eltern reflektieren heutzutage ihr Verhalten viel mehr und können gar nicht mehr so unbeschwert zärtlich sein (weil die Frage nach möglichem Missbrauch immer mitläuft). Und Männer haben es da noch viel schwerer als Frauen, natürlich besonders bei Trennungssituationen.

Dass ein Kind verstört nach dem Besuch des anderen Elternteils ist, kommt ja auch oft vor. Ich kenne und verstehe auch die Sorge, ob da etwas schiefläuft. Deshalb gefällt mir auch die Grauzone in deiner Geschichte: es wird nicht klar, ob die Mutter einfach Angst um den Jungen hat oder einen Machtkampf auf seine Kosten führt.

Also, gern gelesen, lieber Sim.

Gruß, Elisha

 

Hallo sim,

toll! Interessante Herangehensweise an ein eigentlich nicht all zu neues Thema. Die Spache wirkt nüchtern und sachlich und findet in kleinen, scheinbar nebensächlichen Bemerkungen unaufdringlich und nachhaltig Tiefe. Habe ich es schon mal gesagt? Dann sage ich es einfach noch einmal. Du bist ein großartiger Erzähler, der es sich leisten kann, auf sprachliche Akrobatik zu verzichten, weil nahezu jedes Wort seinen eindeutigen Platz in deinen Geschichten hat. Das macht wirklich Freude, solche Texte zu lesen.

Es geht um die Geschichte, und die wird auf eine optimale Weise erzählt. Hat mir sehr gut gefallen.

Stopp! Eines ist mir aufgefallen. Da habe ich irgendwie gestutzt.

Zitat:
Brot quillt aus seinem Mund. Die Ungeduld lässt keinen Raum dafür, erst zu schlucken.

Raum? Oder doch eher Zeit?

Grüße von Rick

 

Hallo Elisha,

schön, was du alles gefunden hast in dieser Geschichte. Prima, dass sie dir gefallen hat.

Hi Rick,

so viele neue Themen gibt es ja nicht. Manchmal wünschte ich mir ja mehr sprachliche Akrobatik, aber meistens streiche ich sie dann hinterher, weil sie mir zu überlastend wirkt. Insofern freue ich mich natürlich besonderns über diese tolle Bestätigung. :)
Da tut mir mein Auftritt als Doris ja schon wieder richtig Leid.

Ich empfinde Ungeduld oft als etwas, das mir Raum nimmt. Zeit wäre sicherlich das gewöhnlichere Bild dazu, ich habe den Raum aber nicht gewählt, weil es ungewöhnlicher ist, sondern weil die Ungeduld so sehr Besitz von dem Jungen ergreift, dass mir Raum passender erscheint.

Lieben Gruß euch Beiden und vielen Dank fürs Lesen, sim

 

Dein Auftritt als Doris braucht dir überhaupt nicht Leid zu tun, den fand ich klasse! Das gehört alles dazu.

Grüße von Rick

 

Lieber sim,

Ich stelle nichts in Frage, was inhaltlich mit dieser Geschichte zu tun hat, weil ich so eine Katastrophe bei meinem Cousin und seiner Tochter, die er nicht
sehen durfte, erleben musste. Manchmal schäme ich mich für mein Geschlecht.

Deine Geschichte ist für mich die ganze Zeit sehr unheilschwanger, weil ich davon ausging (trotz meiner persönlichen Erfahrung), dass mit dem Vater etwas nicht okay sein kann. Naja, wenns auch nur soweit ist, dass er vor lauter Ärger durchgeknallt ist und nicht mehr Herr seiner Sinne war. Ich jedenfalls hatte den ganzen Text durch etwas Angst um das Kind. Ich habe dem Prot nicht getraut.

Deine Art zu erzählen war wieder einmal das Sahnetüpfchen :). Danke.

Lieben Gruß
bernadette

Dass die Wortvorgaben gut eingesetzt wurden, steht sowieso ausser Frage ;).

 
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Hallo Sim!

Angezogen von den Empfehlungen auf der Titelseite, komme ich nicht umhin, mich zu deiner Geschichte, spät aber doch, zu äußern.
Mit gewohnt einfühlsamen Worten beschreibst du die Not und Qual eines Vaters, der sein geliebtes Kind nicht sehen darf. Warum auch immer, ist dabei völlig egal. Geschickt lässt du deine Geschichte ganz harmlos beginnen. Papa holt sein Kind von der Schule ab und plant, ja was wohl ... einen längeren Ausflug, nein, es wird ein Urlaub, oder gar ... ? Immer mehr entdecke ich als Leser die emotionalen Hintergründe seines Handelns, immer mehr fühle ich mit.
Das Ende bedrückt mich, entgegen meines Wissens, um den Gesetzesbruch des Vaters. Geschickt abgehandelt, stilistisch, wie könnte es anders sein, hervorragend geschrieben. Hat mir ausgezeichnet gefallen!

Drei Dinge sind mir aufgefallen:

Nach einem Kuss setzte ich ihn zu Boden.
setze.

»Nein.« Der Junge muss den Kopf schon weit drehen, um von dem winzigen Punkt im Himmel hinunter ins Tal schauen zu können. Bald wird der Vogel nicht mehr zu sehen sein.

Das klingt für mich, als befände sich der Junge am Himmel.
Nur ein Vorschlag: Der Junge muss den Kopf schon weit drehen, um seinen Blick von dem winzigen Punkt am Himmel hinunter ins Tal lenken zu können.


Zum Glück redet er pausenlos auf mich ein, zeigt auf die Berge der Umgebung, auf den Watzmann, auf den Hundstot und auf den Untersberg, der sich wie ein gewaltiges Massiv über das Tal erhebt und es dominiert.
Nenne mich pingelig, aber: Ist er denn kein Massiv?
Vielleicht: ... der sich als (ein) gewaltiges Massiv über ...

Einen lieben Gruß,
Manuela :)

 

Hallo bernadette, hallo Manuela,

die eine misstraut dem Vater, die andere bangt mit ihm. Und manchmal schäme auch ich mich für mein Geschlecht.
Vielen Dank fürs Lesen und für Euer Lob.

Die Anregungen habe ich übernommen.

Liebe Grüße
sim

 

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