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Tenzin und das Goldtier

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22.10.2004
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Tenzin und das Goldtier

Tenzin kauert auf dem harten Boden. Er zittert nur ganz leicht. Er weiß, dass er sich bald bewegen muss, dass es nötig ist aufzustehen, hinunterzugehen und nachzusehen. Vielleicht ist noch jemand am Leben. Irgendjemand.
In seinem Herzen weiß er, dass es keine Hoffnung gibt. Er hat die Schüsse gehört von hier oben, er hat genug gesehen, und er sieht auch jetzt noch genug, wenn er sich ein bisschen aufrichtet. Das Kloster ist nicht mehr als eine rauchende Ruine. Der Anblick schnürt seinen Hals zusammen, aber weinen kann er nicht. Nicht, weil er ein tapferer Junge ist. Er hat einfach schon zuviel geweint, das Gesicht auf die Erde gepresst, während all das geschehen ist, während dort unten alle gestorben sind – nur er ist noch da, ist davongekommen. Die beiden Yaks haben ihm das Leben gerettet. Wäre er nicht losgegangen, um nach ihnen zu sehen … Tenzin denkt den Gedanken nicht weiter. Er fühlt sich hohl. Warum hat das geschehen müssen?
Tenzin hat Geschichten gehört, hat eifrig aufgeschnappt, was die wenigen Reisenden erzählen, die ab und an im Kloster Halt machen. Er weiß - und alle Mönche haben es gewusst -, dass die Chinesen gekommen sind und sich Tibet genommen haben, und sie haben auch gehört, was vorgehen soll in Lhasa und überall im Land. Aber das ist alles so weit weg gewesen. Keiner hat geglaubt, dass sie hierher kommen würden und dass es einen Grund geben könnte, ein kleines, abgelegenes Kloster zu zerstören. Offensichtlich hat es einen gegeben, doch Tenzin kennt ihn nicht und weiß, dass er ihn nie erfahren wird.
Fröstelnd setzt er sich ganz auf. Wozu hat er überlebt? Er könnte ebenso gut dort unten liegen, irgendwo auf einem Teppich aus Asche und Blut. Sterben wird er doch ohnehin. Sicher, er kann sich auf den Weg ins nächste Dorf machen. Aber solche Wege sind lang im Himalaya und schwer zu bewältigen, wenn man noch keine neun Jahre zählt. Und vielleicht gibt es dieses nächste Dorf gar nicht mehr. Vielleicht sind sie auch dort gewesen. Tenzin weiß es nicht.
Vorsichtig steht er auf und geht mit langsamen Schritten den Hang hinab. Dabei spürt er, dass er nicht stark genug ist, um mit offenen Augen in die Ruine zu gehen. Mit jedem Schritt klopft sein Herz stärker, wird die Angst größer. Er wagt es nicht, weiß er. Doch es bleibt ja sonst nichts. Er hält an, als sein rechter Fuß gegen etwas Hartes stößt, und schaut nach unten.
Es ist kein Stein. Es ist das seltsame Tier aus Gold, das Lama Gyatso gehört hat. Haben die Chinesen es achtlos in die Landschaft geworfen, oder wollten sie es mitnehmen und haben es nur verloren? Das ist gleich. Tenzin kniet nieder, und seine Hand streicht liebevoll über die kalten Formen. Das Goldtier hat vier schlanke Beine mit Hufen, einen langen Hals und einen kleinen Kopf. Seine gesamte Oberfläche ist leicht geriffelt, und Tenzin stellt sich vor, dass es in Wirklichkeit einen weichen, wolligen Pelz haben muss – wenn es denn wirklich existiert und nicht etwa ‚imaginiert’ ist, wie Lama Gyatso gesagt hätte. Das ist sein Wort für Ausgedachtes gewesen. Ein fremdes Wort, über das die anderen immer gelächelt haben. Tenzin wundert sich, warum er nie nach diesem seltsamen Tier gefragt hat. Jetzt ist es zu spät dazu. Er fährt fort, das Goldtier zu streicheln. Unter seinen Bewegungen erwärmt sich das Metall.
Die Figur schlägt ihre Augen auf, und Tenzin zuckt zurück.
Es sind keine gravierten Augen aus Gold mehr, sondern warme braune Augen. Lebendige Augen. Tenzin zwinkert. Das Goldtier zwinkert auch. Sein Körper wird jetzt noch wärmer, bis Tenzin spürt, dass seine Hand nicht mehr über glattes Metall fährt. Stattdessen spürt er wolliges Fell. Eilig zieht er seine Hand weg und starrt das kleine Wunder an.
Das Goldtier streckt sich, bewegt vorsichtig seinen Hals und die Beine, strampelt kurz, schüttelt sich und steht auf. Es ist plötzlich um einiges größer als zuvor.
Für einen Moment schauen sie einander einfach an.
„Was bist du?“, flüstert Tenzin schließlich. Es ist der erste Satz, den er seit vielen Stunden ausspricht. Wenn das Goldtier lebendig werden, zwinkern und wachsen kann, dann kann es vielleicht auch reden.
„Ich heiße Shinca“, antwortet das Goldtier. „Ich bin ein Lama.“
Tenzin hat nicht gewusst, dass auch Tiere Lamas werden können. Aber das erklärt vielleicht, warum das Goldtier lebendig geworden ist. Jetzt wendet es den Kopf und sieht sich um. Blickt lange auf das, was vom Kloster übrig ist, schlägt dann die Augen nieder.
„Ich muss nachsehen, ob noch jemand am Leben ist“, sagt Tenzin, um das Schweigen zu brechen.
„Nein“, erwidert das Goldtier. „Das ist nicht nötig.“ Es schaut Tenzin an. „Dort atmet niemand mehr. Ich kann das spüren. Ich habe solche Bilder schon gesehen.“
„Aber wo denn? Warst du nicht immer in unserem Kloster?“
Die braunen Augen des Goldtiers leuchten, als ob es lachen würde. Jedenfalls hat Tenzin dieses Leuchten bislang nur bei Menschen gesehen, wenn sie lachen. ‚Sternenglanz in den Augen haben’, hat Lama Gyatso zu so etwas gesagt.
„Nein, Tenzin“, sagt das Goldtier, „ich war nicht immer bei euch. Ich komme von sehr weit her.“
Tenzin findet es gar nicht erstaunlich, dass das Tier seinen Namen kennt. Seit er denken kann, hat es schließlich im Kloster gestanden.
„Von wie weit?“
„Von der anderen Seite des Meeres, Tenzin.“
Das ist so weit, dass er es sich kaum vorstellen kann. Vom Meer hat er Geschichten gehört. Es ist so weit wie der Himmel und so tief wie die Berge hoch sind. Er öffnet den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, aber wieder leuchten die Augen des Goldtiers auf.
„Frag nichts, Tenzin. Ich werde dir meine Geschichte erzählen. Aber jetzt musst du auf meinen Rücken steigen.“
„Kannst du mich denn tragen?“ Tenzin lässt seinen Blick zweifelnd über das Goldtier gleiten. Es kommt ihm viel zu zart und zu schwach vor.
Wieder sieht er Sternenglanz in den braunen Augen. „Ich bin stärker als du meinst. Steig auf. Du musst fort von hier.“ „Aber wohin? Gehen wir auf die andere Seite des Meeres?“
„Nein, Tenzin, dort gehörst du nicht hin, so wie ich nicht hierher gehöre. Ich werde dich nach Indien bringen.“
„Nach Indien!“
Tenzin hat Karten gesehen, er weiß, wo Indien liegt. Es ist ganz nahe bei Tibet. Aber Karten sind klein und die Welt so unvorstellbar groß: Indien erscheint ihm fast so weit wie die andere Seite des Meeres.
Er sitzt auf dem Rücken des Goldtiers und lehnt sich nach vorne gegen den schlanken Hals. Seine kalten Füße stemmen sich behutsam in die warmen Flanken, als das Goldtier sich in Bewegung setzt. Tenzin will noch einen letzten Blick auf das Kloster werfen, aber er schafft es nicht, sich umzudrehen. Seine Glieder sind plötzlich so unglaublich schwer. Auch sein Kopf, seine Gedanken. Er schließt die Augen, und das Goldtier beginnt mit seiner Geschichte: Erzählt sie mit einer Stimme, die in Tenzins Kopf ertönt und Bilder formt. Seltsame Bilder, von denen er nur weiß, dass sie aus einer fernen Vergangenheit zu ihm kommen.
Er sieht die andere Seite des Meeres. Auch dort sind Berge, die bis in die Wolken ragen, aber sie sind anders als jene, die er kennt. Er sieht Goldtiere, aber sie sind noch größer als seines und überhaupt nicht golden, sondern braun und weiß. Dann sind da Menschen in bunten Gewändern. Und plötzlich ist da ein Dorf – nein: es ist kein Dorf, denn Dörfer sind klein. Tenzin sieht eine Stadt, gewaltige Steinmauern aus riesigen Quadern.
„Das ist Cuzco“, wispert die Stimme des Goldtieres. „Das Herz von Tahuantinsuyu.“
Tenzin entdeckt einen goldenen Garten: Menschen und andere Figuren, Wesen, die er noch nie gesehen hat, andere, die er zu kennen glaubt, aber auch Blumen, Gefäße, … alles aus Gold.
„Hier war meine Heimat“, flüstert das Goldtier. „Es gab eine Zeit, da alles in diesem Garten lebendig war. Doch im Lauf der Jahrhunderte sind viele von uns erstarrt. Nur ich blieb, was ich gewesen war. Dann kamen die Fremden. Wir wussten von ihnen, lange bevor sie nach Cuzco kamen. Aber was sie wollten, ahnten wir nicht. Es war zu unvorstellbar. Ich hätte es wissen müssen. Große Unglücke kann man in der Luft schmecken, bevor sie eintreffen. Eines Tages kamen atemlose Boten nach Cuzco. Nicht weit entfernt, in Cajamarca, hatten die Fremden den Inka – unseren Herrscher – gefangen genommen. Gold wollten sie für ihn. Erst da begriff ich es, denn auch die Lüge kann man schmecken …“
Die Stimme des Goldtiers erstirbt, aber die Bilder werden wieder klarer. Tenzin sieht das Goldtier und an seiner Seite einen Jungen, nicht älter als er, mit großen, wachsamen Augen, in eine Ecke gekauert.
„Tupanqui, mein Freund. Eines von vielen Kindern im Palast des Inkas. Wir versteckten uns gemeinsam, als die Fremden nach Cuzco kamen.“
Jetzt sieht Tenzin die bärtigen Fremden in den goldenen Garten stürmen und an sich raffen, was sie nur können.
„Wäre ich nicht bei Tupanqui gewesen, sie hätten mich auch mitgenommen“, sagt das Goldtier leise. „In dieser Zeit habe ich viel Trauriges gesehen, Tenzin. Es ist viel Blut vergossen worden. Tupanqui habe ich gerettet. Er saß auf meinem Rücken so wie du jetzt, und wir verließen Cuzco bei Nacht. In den Anden war keine Zuflucht. Es gab keine Zukunft in Tahuantinsuyu. Darum brachte ich ihn zu dem huaca. Wir haben viele davon. Huacas sind heilige Orte. Sie sind die Türen, durch welche die ersten Lebewesen in unsere Welt kamen. Aber damals mussten wir die Tür in die andere Richtung aufstoßen und einen anderen Weg einschlagen. Über ein huaca sind weite Wege sehr kurz, und wir kamen zu euch … auf die andere Seite des Meeres. Das Kloster gab es schon damals. Sie haben Tupanqui aufgenommen. Seine Erinnerungen habe ich für ihn getragen. Fünfhundert Jahre lang. Ich wollte zu Gold werden und nicht mehr leben. Dies hier sind nicht meine Anden, hier bin ich nicht zuhause, aber mein Heim gibt es auch nicht mehr. Der Garten, den du gesehen hast, ist nur noch Erinnerung. Alles darin ist eingeschmolzen: aus heißem Gold zu handlichen Barren. Schiff um Schiff ist übers Meer gesegelt. Sie brachten Kartoffeln und Tabak, Mais und Tomaten, Kaffeebohnen und Zuckerrohr, und natürlich Gold, Gold aus meiner Heimat, auf die andere Seite des Meeres. Nicht alle haben ihr Ziel erreicht. Das Gold aus dem Garten liegt begraben, meerestief und vergessen. Nur ich bin noch übrig. Aber jetzt …“
Tenzin spürt unendlichen Schmerz in der Stimme des Goldtiers. Er sieht keine Bilder mehr, es ist dunkel um ihn.
„Jetzt ist es Zeit“, sagt das Goldtier leise, „dass ich mich auf den Weg zurück mache. Du bist nun in Sicherheit wie einst Tupanqui. Leb wohl, Tenzin.“
Tenzin fährt hoch, reißt die Augen auf. Ein Finger legt sich behutsam auf seine Lippen, eine unbekannte Frau beugt sich über ihn. Er liegt auf einem dahinrumpelnden Wagen. Das Goldtier ist verschwunden.
Später werden sie ihm erzählen, wie sie ihn auf der Straße gefunden haben, was für ein Wunder es ist, dass er den weiten Weg bis zur indischen Grenze zurückgelegt, ja, die Grenze überschritten hat. Und während sie sich wundern, wird Tenzin Sternenglanz in den Augen haben. Wird er an sein Goldtier denken, wo auch immer es ist.


Thema 68: Sternenglanz, meerestief, imaginieren, Kaffeebohne, Himalaya

 

Hallo Malinche,

eine typische Malinche Geschichte. Exotisch, wunderbar erzählt, Tiefe und Atmosphäre. Was gibt es da sonst noch zu sagen? Nichts außer: Sehr gern gelesen! Wie immer eigentlich!

Einen ganz lieben Gruß...
morti


PS
Du brauchst mal ein paar neue Geschichten, sonst hab ich bald alle von dir gelesen ;) :read: :thumbsup:

 

Mensch morti,
jetzt hab ich dich glatt überlesen. Entschuldige bitte! Und das bei so einem Lob. Vielen Dank dafür. Und sei gewarnt, in den nächsten Tagen knöpf ich mir eine deiner Geschichten vor, die steht dick eingerahmt oben auf meiner Liste ..
liebe Grüße
ciao
Malinche

 

Hallo Malinche,

sehr, sehr gerne habe ich Deine traurige Geschichte mit dem hoffnungsvollen Ende gelesen. Viele sehr schöne Formulierungen sind Dir gelungen, z.B. das mit dem Sternenglanz in den Augen ... :)

Zwei - oder dreimal hatte ich das Gefühl, dass eine Formulierung Dir nicht ganz so geglückt ist, aber Du hast mich so gefangen genommen, dass es mir vollkommen unwichtig erschien - ich habe es mir nicht gemerkt :D.

Obwohl ich wusste, dass es eine Wörterbörsengeschichte ist, was ich da lese, konnte ich nicht feststellen, welches die vorgegebenen Wörter waren - ich dachte z.B. an "Goldtier" :D.

Es hat mir sehr viel Spaß gemacht Deine Geschichte zu lesen!

Lieben Gruß
al-dente

 

Hallo al-dente,
jetzt hätte ich doch fast übersehen, dass du meine erste und ... äh ... bislang einzige Wörterbörsengeschichte ausgegraben hast. :)
Ich freue mich, dass sie dir gefällt. Der Sternenglanz in den Augen war ja dank der vorgegebenen Begriffe möglich - schön übrigens, dass die vorgegebenen Wörter beim Lesen nicht ins Auge pieksen.
Danke fürs Lesen!
Liebe Grüße,
ciao
Malinche

 

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