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Ferienvormittag eines Zwölfjährigen

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20.10.2004
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Ferienvormittag eines Zwölfjährigen

Sieben Uhr dreißig erwachen, in die Sachen schlüpfen, am Bad vorbei in die Küche gehen, dort das Frühstück finden, ein Zettel liegt daneben:

1 Brot
2 Milch
Eier
Sauge das Wohnzimmer, bring den Mülleimer runter,
bin um zwei zurück. Mutti

Teenasse Schnute am Ärmel abwischen (eine Eigenart des Jungen, auch im Hochsommer lange Ärmel zu tragen), am Bad vorbei zurück ins Zimmer. Indianerbuch aus dem Regal ziehen, Blick auf die Uhr: Ach, erst kurz vor acht, noch so viel Zeit! Buch aufschlagen, Seite suchen, Absatz finden und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – seufzen, Löcher in die Luft über der nicht existierenden Prärie starren, Absatz suchen und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – mh, immer dieses blöde Umblättern!, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – „Mist, wer klingelt’n da?“ Also rauf auf den Mustang und zum Badfenster galoppiert.
„Hallo? – Ach du bist’s! – Nee, kann nich, muss’n bisschen was machen, inkoofen und so. – Ja, vielleicht morjen. – Nee, weeß noch nich. – Mh, tschüss!“ Galopp zurück, vom sattellosen Pferderücken auf die Couch abrollen, Absatz suchen und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Blick auf die Uhr: Ach, erst zehn, noch so viel Zeit! Und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – träumen – ach, Amerika! Unendliche Weiten, starke Freunde, fleißige Squaws, köstliche Büffel, miese Feinde... Wo ist überhaupt meine Winchester? Ah, da liegt sie ja. Fenster aufmachen. Scheiße! Überall Weiße! Aber euch werd’ ich’s geben! Das ist unser Land, ihr Mörder! Indijanerland! Lasst uns in Frieden, sonst hängen heute Abend eure Skalps an unseren Zeltstangen! Ihr wollt den Kampf? Dann nehmt dies: Piu! Und das noch: Piu! Mist, daneben.
Ampel schaltet auf Grün.
Ha, jetzt laufen sie wie die Hasen! Ehe des Mondes Sichel wieder zu wachsen beginnt, werden wir euch alle von unserem Land vertrieben haben!
Äh, räusper, hoffentlich hat mich jetzt niemand beobachtet. Schnell Fenster zu, Sprung auf die Couch, Absatz gesucht und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Blick auf die Uhr: Ach, erst halb zwölf, könnt ich mir eigentlich erst mal einen kleinen Hirschbraten machen! Also mit Pfeil und Bogen aus dem Zimmer geschlichen und wirklich, im Flur steht schon einer, der sich am frischen Quellwasser labt. Er wird verschont, denn so viel schafft man alleine gar nicht. Pirsch geht weiter, bis ins Schlafzimmer, wo schließlich der Pfeil ein zartes Kaninchen findet. Es verwandelt sich rein äußerlich in der Pfanne zu einem Spiegelei, doch es schmeckt nach allen Gräsern der Prärie und sättigt den jungen Krieger gerade recht. Zurück ins Tipi geritten, müde von der Jagd aufs Grizzlyfell gefallen und nach dem Buch gegriffen. Absatz suchen, finden und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Blick auf die Uhr: Ui, schon halb zwei! Kurz überschlagen: Zwei Minuten für den Müll, drei Minuten zur Kaufhalle, drei zurück, drei Minuten die Stube gesaugt, das macht gut zehn Minuten, also hab ich noch ne Menge Zeit! Finger vom Absatz und: lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, lesen – Was’n das für’n Geräusch? Blick auf die Uhr: Viertel drei, Mist! – Mutter kommt, geht in die Küche. Mh, was sag ich’n jetzt? Des schaff ich doch alles noch am Nachmittag...
„Sven?!“ –
„Ja, Mutti?“ –
„Du hast ja den Müll noch nicht runter gebracht! Warste wenigstens einkaufen?
Oooch nich!“ – Klatsch! – „Was hast’n wieder die janze Zeit jemacht?“ – Klatsch! – „Du faules Miststück!“ – Klatsch, klatsch, klatsch! – „Unsereens steht früh um Fümwe auf, arbeetet den janzen Tach, und der gnädije Herr macht sich hier'n schönes Leben! Was soll’n das? Ich hab dich was jefraacht!“ – Klatsch! – „Heule nich, was hast’n jemacht? Kannste mir des erklär’n? Jenauso faul wie sein Alter, jenau so’n faules Miststück! Für’n Rest der Ferien wird keen Buch mehr anjefasst! Du machst jetzt deine Offjaben und denn kommste ins Waschhaus und hilfst bei de Wäsche!“


* * *

Der kleine Krieger steht in seinem Kinderzimmer. Er ist verheult.
Die Tränen wollen nicht aufhören zu fließen. Sein ganzer Körper bebt.
Er fühlt nur Hass.
Ohnmächtigen Hass auf diese Weißen, die so viel Unglück über ihn gebracht haben.
Und er ahnt, dass er fliehen muss.
Er muss fliehen, bevor er völlig zerbricht.

 

Hallo Pavarotti,
ich glaube nicht, dass Dein Text in diese Rubrik passt – ist wohl eher etwas für ‚Experimente’. Was die unendliche Wiederholung des Wortes ‚lesen’ anbelangt, bin ich der Meinung, dass ein „lesen und lesen und lesen!“ die Situation treffender zeichnet, ohne den Leser zu frustrieren (es sei denn, das ist gewollt).

Gruß aus Hamburg

Jadro

 
Zuletzt bearbeitet:

Auf Wunsch des Autors von Kinder nach Experimente verschoben.

 

hallo

Ganz im Ernst. das lesen, lesen, lesen, nervt ziemlich. als Leser ist man sofort versucht alles zu überspringen, nur muss man dann erst wieder umständlich suchen, wo es weiter geht. Also ich habe von einer art Handlung da nicht viel mitbekommen.

 

Hi Schippi,
deinen Einwand, es würde nerven, kann ich nachvollziehen.
Das ganze ist mehr ein Vorlesetext, und als solcher hat er schon ganz gut funktioniert.
Dass dir darüber die ganze kleine Handlung, bzw. der dahinterliegende Einblick in die Situation und das Seelenleben dieses Jungen verloren gegangen ist, bedaure ich.

 

Hallo Pavarotti

Eigentlich konnte ich die Flucht des Knaben in die Phantasiewelt seines Buches durchaus nachvollziehen.
Das Lesen, lesen,... habe ich mal laut ausprobiert; hat leider auch nicht funktioniert. Ausser das meine Zunge austrocknete und meine Zuhörerschaft anfing aufs Klo zu gehen oder sich sonstigen Beschäftigungen zuwendete...
Nee, ernsthaft. Das ist einfach zuviel des Guten. Bau doch den Vorschlag von Jadro ein und der Lese- und Redefluss bleibt erhalten.

Einen Stolperer habe ich: Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei Offjaben nicht um Schularbeiten handelt sondern um die versäumten Hausarbeiten?
Denn es sind ja Ferien.

Gruss dotslash

 

Danke, dotslash.

Bei dem "lesen, lesen, lesen..." bin ich wirklich am überlegen, ob und wie ich es anders gestalten kann. Jadros Vorschlag ist eine Möglichkeit.

Beim eigenen Lesen vor Zuhörern ist dieses Experiment bereits aufgegangen, aber es war eine Gratwanderung, zugegeben. Die Leute kannten mich, kannten meinen persönlichen Humor und sind meine "Experimente" gewöhnt. Trotzdem lasse ich mir das noch mal durch den Kopf gehen.

Ja, die "Offjaben" sind Aufgaben, und es bezieht sich im vorliegenden Fall auf den Zettel der Mutter. Hätte aber auch jede andere Aufgabe sein können, klar. Ich hoffe, dass meine hin-und-wieder angewandte regionale Mundart nicht allein darum, weil wir eine kleine unbekannte Region (Anhalt) sind, Ablehnung findet. Sicher ist bayrisch oder preußisch bekannter, aber das sollte ja nicht dazu führen, dass sich die übrigen Schrägsprecher nicht trauen, "ihre Sprache" in literarischen Arbeiten anzuwenden.
Aber das war zumindest bei dir ja auch kein Problem, oder?

 

Hallo Pavarotti
Der Mundart-speech rundet die Figur der Mutter in meiner Vorstellung ab.
Ab und zu etwas Lokalcolorit in einer Geschichte finde ich sowieso ganz amüsant.
Einfach nicht übertreiben, denn dafür gibt es ja eine eigene Mundart-Rubrik.

;)
I däm Sinn es Grüessli vo CH nach D
dotslash

 

Schön.

Na ja, zur Mundart fehlte mir einfach die Sicherheit. Wir sprechen hier irgend so ein versautes Hoch-Mittel-Anhalt-Schnodder-Deutsch. Nur wenige können noch die alte Regionalsprache. Da muss man raus, auf die Dörfer in der Gegend. Dort kann man manchmal glauben, man wär auf dem Mond und kauft Kartoffeln von Dromedariern.

 

hi pavarotti,

tja ... der einzige grund, warum deine geschichte - die ich im grunde gar nicht übel finde - in den experimenten landete ist dieses lesenlesenlesen-getue, das weder den leser noch den vorleser auch nur einen millimeter weiterbringt (ein simples lesen ... lesen ... lesen würde völlig ausreichen).

besonders gut gefallen hat mir der letzte absatz. ein würdiger abschluss dieser kleinen kindstragödie.

wie wärs mit einer überarbeitung?

lg p.

 

"Getue" ist ein wenig verletzend. Ich habe mir durchaus etwas mehr dabei gedacht, als nur unbedingt auffallen zu wollen. Es soll schon rein visuell deutlich werden, dass viel Zeit vergeht, der Junge sich dem Lesen ganz hingibt, dabei seine Aufgaben, seine Umwelt und seine Bedrohung nahezu vergisst.
Ich überlege halt zur Zeit, ob ich die lesen, lesen, lesen - Blöcke optisch anders gestalte, dass beispielsweise die für den Text wichtigen Worte dazwischen nicht untergehn. Na ja, mal sehen.

Allerdings muss ich immer auch wieder sagen, dass der Text, von mir vorgetragen, die Leute nicht gelangweilt hat. Aber mir wird auch ein relativ ausgeprägtes Talent zum Vorlesen nachgesagt. Und wenn es dann noch die eigenen Texte sind, muss es ja gut klingen.

Wie auch immer, ich danke dir für Kritik und Anerkennung!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Pavarotti,

mal abgesehen von aller `Leserei´ finde ich Deine Schilderung des Jungen, der ganz in die Fantasiewelt hineingezogen wird, recht gut gelungen.
Mit dem Entschluss die lange Zeitspanne des Lesens durch Wiederholung darzustellen, bist Du eigentlich den einfachsten Weg gegangen. Du greifst zurück auf ein sprachliches Stadium, über das man im Allgemeinen schon hinaus ist, deshalb hat der Text auch etwas Archaisches, grobes an sich. In der bildenden Kunst gab es ja auch schon solche Ansätze, in der Literatur sind sie aber nicht besonders erfolgreich gewesen. Na, solange Du Deinem Publikum nicht nur so etwas vorsetzt... In einer Lesung kann ich mir das durchaus als Abwechslung gut vorstellen.

Tschüß... Woltochinon

PN folgt!

 

Endlich jemand, der dafür ein tiefergehendes Verständnis hat!
Archaisch gefällt mir dabei besonders, das geht runter wie Öl.
Aber kannst du das näher erklären, wo dieses Mittel der penetranten Wiederholung in der Literatur allgemeingültiges Stilmittel war? Ein Quellenstudium würde mich da schon interessieren. Also - wenn du Lust hast, gib mir mal ein paar Hinweise.
Ansonsten schönes Wochenende!

 

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