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Vom Abstieg und Fall einer Wüstenrennmaus

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31.01.2003
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Vom Abstieg und Fall einer Wüstenrennmaus

Er hatte noch nie durch das Montmartre gehen können ohne nicht wenigstens ein bisschen melancholisch zu werden. Das Mindeste war, dass er sich gedankenversunken auf die Treppe zur Sacre Coeur setzte und ins Leere starrte. Aber auch einen Tränenausbruch hatte er schon zustande gebracht. Und zwar gerade da, während er sich in einem Anfall von Selbsterkenntnis von einem Straßenmaler als Comicfigur hatte zeichnen lassen. Das Leben war einfach zu viel für ihn. Und der Tod auch. deshalb grübelte er oft, ob es nicht noch etwas gab, das weniger kompliziert war. Vielleicht wäre es für ihn genau das Richtige, als primitiver Geist herumzufliegen und Leute zu erschrecken.
Manchmal wünschte er sich, er würde zu der Zeit leben, als die Menschen noch Affen waren und keine überentwickelten lebenden Computer wie heute.

Er blieb vor dem Karussell stehen und starrte den hüpfenden und sich scheinbar endlos im Kreis drehenden Pferden hinterher. Diese Pferde sind das Abbild der Menschen, dachte er. Sie meinen, sie kommen vorwärts, obwohl sie sich nur immer wieder im Kreis drehen. Vielleicht meinen sie sogar eher überhaupt nichts...Ha!

Er drehte sich ruckartig um und bog in die Rue Gabrielle ein. Hier hatte er immer gesessen und musiziert. Auf seiner Mundharmonika. Wie hatte er sie geliebt! Inzwischen lag sie entweder im Müll oder dort, wohin alle Dinge früher oder später von der Zeit und der Vergänglichkeit verscheppt werden: in einer verstaubten Kiste auf irgendeinem dunklen Dachboden.
Dieses verfluchte Gaunerpack!
Sie war damals ein Teil von ihm gewesen. Und obwohl sie so klein war, war sie das Großartigste, das er je besaß... Sie war nicht nur eine Harmonika für den Mund, sie war eine Harmonika für sein ganzes Leben gewesen. Er war ein sehr harmoniebedürftiger Mensch.
Sogar im tiefsten Winter hatte er dort gesessen, halb erfroren. Aber die Kälte hatte er kaum bemerkt, weil sein Geist stets woanders unterwegs war als sein Körper wenn er spielte: im heißen Sand der Wüste. Als Wüstenrennmaus. Als kleine Maus mit flinken Beinen flitzte er durch die Weite der Wüste, der Freiheit. Aber dann war er plötzlich in einem Käfig gelandet. Jetzt rannte er nicht mehr durch die unendliche Weite der Wüste, jetzt strampelte er sich in einem Laufrädchen aus Plastik ab und kam trotzdem nicht vom Fleck.
Aus einer Rennmaus war eine "Flennmaus" geworden, die nicht mehr durchs Leben rennt, sondern flennt. Bald schmeckte ihr sogar das extra vitaminreiche Trockenfutter nicht mehr.

Aus dem freiheitsliebenden Lebenskünstler war zuerst ein Aktentaschen tragender Börsenheini und dann ein Versager geworden. Ein Versager, der Nachtschicht in der Abteilung für Verlängerungskabel einer Kabelfabrik arbeitet. Alles, was er für seinen lächerlichen Lohn tun musste war, graue Verlängerungskabel, die auf einem grauen Fließband an ihm vorbeiziehen, in graue Plastiktaschen zu stecken. Nacht für Nacht.
Er hätte gerne mit einem dieser grauen Kabel getauscht. Das Grau war immer noch lebensfroher als er selbst. Außerdem wäre er dann auch für was nützlich gewesen. Ein Verlängerungskabel ist sogar ziemlich wichtig.
Er kickte eine zerbeulte Coladose vom Gesteig auf die Straße. Diese Dose war wahrscheinlich genauso unwichtig wie er selbst. Sie wurde von nichts und niemandem mehr gebraucht außer von der Pariser Müllhalte. Und selbst die hatte wahrscheinlich schon mehr als genug Coladosen.

Er wusste, dass das Leben wundervoll sein konnte, er hatte es ja selbst einmal erlebt. Aber er hatte es verpatzt, er war ein Versager. Alles, was er noch tun konnte war jammern und heimlich hoffen oder sich umbringen. Wenn der Tod nur nicht so kompliziert wäre...

Er ging weiter. Wenigstens hatte er kapiert, dass es nichts brachte, in diesem verdammten Laufrädchen aus Plastik rumzurennen.


Diese Geschichte entstand aus den Wörtern: Rennmaus
Nachtschicht
Verlängerungkabel
erfroren
musizieren

 

Die Geschichte hat mir gefallen. Ich bin einmal im Montmartre (ich sag der Monmartre) gewesen und habe dort auch einiges erlebt. Aber ich weiß nicht so recht, warum die Wüstenrennmaus zum Versager geworden ist und vor allem,

zuerst ein Aktentaschen tragender Börsenheini
das steht mir ganz zusammenhangslos und ich frage mich, was diese eigenartige Entwicklung hervorgerufen hat.

Gruß

Jobär

 

hallo
ja ich weiß, ich hätte das noch genauer erklären können. Ich wollte halt nur ganz kurz zeigen, wie der träumende straßenmusikant zum versager geworden ist. oder was ihn dazu gemacht hat. Eben diese Welt der Börsenheinis, in die er irgendwann mal irgendwie reingeschlittert ist. vielleicht ein wenig unrealistisch...weiß nicht so genau. aber ich schreib auch zum ersten mal was in der wörterbörse und hab es gar nicht so leicht gefunden. vielleicht ist die geschichte deshalb ein wenig zusammenhanglos.


Fiz

 

hallo lacrima (hallo träne möchte ich eigentlich lieber nicht schreiben!)

wir haben beide eine geschichte mit die gleichen fünf wörtern geschrieben - und sie ist völlig unterschiedlich ausgefallen: du beschreibst das leben eines pessimisten und ich genau das umgekehrte! (meine findest du unter dem titel NOTAUFNAHME hier: http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=20080

ich finde es toll, zu was einem so fünf einfache worte animieren können!


leider finde ich deine geschichte etwas zusammenhangslos. sie hätte potential für mehr, finde ich! hättest du nicht lust, sie zu erweitern? das thema ist doch spannend!

herzliche grüße
ernst

 

hallo!
Danke für deine Antwort. Du hast Recht mit dem, was du sagst.
Natürlich hätte ich mehr aus der geschichte machen können. Aber ich kann auf Knopfdruck nicht so gut Geschichten schreiben. Und diese hier ist auf Knopfdruck entstanden. Deshalb habe ich auch jetzt noch keine allzu große Lust, sie zu erweitern.
Ich weiß, das ist schade, aber lieber schreibe ich nichts als mich zu zwingen.

MFG

 

Noch ein Spruch: Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht 1000 Bilder über dasselbe Thema malen.

 

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