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Schoko

sim

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13.04.2003
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Schoko

Es war ein eigentümlicher Stand auf dem Flohmarkt, der Schokos Aufmerksamkeit auf sich zog. Während sich ringsherum die überladenen Tische unter allerlei brauchbarem oder sinnlosem Zeug bogen, saß hier nur ein Mädchen auf einer dünnen Wolldecke. Sie wirkte verloren zwischen den hohen Tapeziertischen, die überquollen vor Silberlöffeln, alten Schallplatten, vor Grammofonen und hässlichen Vasen. Niemandem außer Schoko schien sie aufzufallen.
Menschen strömten an ihr vorbei, stöberten, sahen sich Schmuck an, probierten Broschen aus, oder hielten sich Clips an die Ohren und holten den fachmännischen Rat ihrer Begleiter ein, bevor sie munter handelten und feilschten.
War es überhaupt ein Stand oder gehörte das Mädchen nur zu einem der Tische nebenan, zum Beispiel zu dem der dicken Frau, die sich, ihre Zigarette im Mundwinkel, gerade eine Becher Kaffee eingoss, welchen sie mit pudrigem Instantweißer verdünnte?
Zaghaft bewegte Schoko sich auf das Mädchen zu, trat dabei im Gewühl über fremde Füße, immer darauf bedacht, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Einmal hatte er die Augen kurz zugekniffen, richtig fest, denn sie sah so märchenhaft aus mit ihren langen rotgoldenen Locken, und in ihrem weißen, mit zarten Margariten verziertem Kleid, dass er nicht sicher war, ob sie nicht verschwunden wäre, wenn er die Augen wieder öffnete.
Aber sie saß noch da, auf der rotgrün karierten Decke, die Beine leicht zur Seite angewinkelt, so, dass man ihr nicht unter den Saum schauen konnte. Sie war barfuß, ihre Sandalen standen neben der Wolldecke ordentlich beieinander. Auf der Decke befand sich nur ein Gegenstand, sauber mit einem Aufkleber versehen, auf den wohl ein Preis gehörte.
Schoko hatte sie so lange beobachtet, dass er genau wusste, dort hatte nie etwas anderes gelegen. Das Mädchen bot nur diesen einen Gegenstand feil.

Als er vor ihrer Decke stand, ihre Schuhe zu seinen Füßen, druckste er verlegen, räusperte sich und trat von einem Bein auf das andere, so als ob er mal zur Toilette müsste. Das Mädchen erhob sich nicht. Sie wendete nur den Blick zu ihm, nicht wirklich hoch, sie sah auf seine Knie, die etwas abgeschürft waren und leichte Kratzer vom letzten Fußballspiel zeigten.
»Hallo«, brachte er endlich heraus, lächelte das Mädchen an und versuchte, ihr in die Augen zu schauen.
»Hallo«, erwiderte das Mädchen, ihr Blick blieb jedoch bei seinen Knien.
»Ist das alles, was du zu verkaufen hast?«
Das Mädchen nahm den Gegenstand in die Hand und hielt ihn in die Sonne. Dort spiegelte er die Strahlen in allen Farben des Regenbogens wieder, schimmerte matt und blendete Schoko.
»Alles?«, fragte das Mädchen und konnte so viel Dummheit gar nicht glauben. »Es ist mehr, als du auf jedem anderen Tisch hier sehen kannst.«
Schoko grinste. »Es ist doch nur eine CD«, bemerkte er etwas abfällig, nicht zu sehr, denn er wollte sie ja nicht verärgern, nur ein bisschen necken, »dazu noch eine selbst gebrannte, ohne Etikett, ohne Label und ohne einen Hinweis auf das, was drauf ist.«
Jetzt stand das Mädchen auf, stampfte entrüstet mit einem Fuß auf die rotgrün karierte Decke und verbesserte Schoko: »Es ist eine DVD.«
Ihre Haare entflammten im Sonnenlicht, als sie sich so energisch erhob. Allein dafür hätte Schoko sie gern ein bisschen weiter provoziert, aber sie war zu schön, um sie lange zu ärgern.
»Was ist auf der DVD?«, fragte er sie deshalb und versuchte, seine Stimme besonders freundlich klingen zu lassen.
Das Mädchen aber zog den Arm kokett zurück, hielt die Plastikhülle verschämt hinter ihren Rücken und schaukelte in leichtem Rhythmus ihren Oberkörper. »Gar nichts«, flüsterte sie schnell, huschte von der Decke und schlüpfte in ihre Sandalen.
»Gar nichts?« Schoko musste sich beeilen, denn auch wenn das Mädchen nichts außer dieser DVD bei sich auf der Decke hatte, auch wenn es nichts verkaufen wollte, so wollte er doch, dass sie bliebe.
»Gar nichts«, antwortete sie und begann, die Decke zusammenzulegen. Sie schüttelte sie einmal kurz aus. Der Staub des Platzes wirbelte auf und landete in Schokos Gesicht, hinterließ ein paar schmutzige Spuren in den Schweißtropfen, die auf seiner Haut glänzten.
»Was möchtest du für gar nichts haben?«, fragte Schoko schnell. Er hätte zu gerne den Staub ausgespuckt, den er mit dem Ausschütteln der Decke geschluckt hatte, aber das hätte sie ihm bestimmt übel genommen. Es ist einfach unfein, vor einem so schönen Mädchen auszuspucken.
Das Mädchen sah ihn verwundert an und hielt ihm die Hülle dicht vor die Augen, so dicht, dass er sie ihr aus der Hand nehmen musste, um auf das Schild schauen zu können.
»Siehst du hier irgendwo einen Preis?«
Schoko schüttelte den Kopf. Er sah keinen Preis.
»Siehst du«, sagte das Mädchen und lachte ihn dabei an. »Wenn etwas keinen Preis hat, dann kostet es auch nichts«, erklärte sie ihm mit entwaffnender Logik. Dann war sie verschwunden.
Schoko versuchte sie ausfindig zu machen im Getümmel der Menschen, die sich wie Ameisen durch dieses Wunderland an Skurrilem und Brauchbarem wühlten. Er suchte jeden Meter des Flohmarktes ab, ob er sie irgendwo entdecken würde. Er hatte sie nicht mal gehen sehen.
Immer wieder kehrte er zu der Stelle zurück, an der sie auf ihrer Decke gekauert hatte, doch dort stand nur ein glatzköpfiger Mann, der mit lebhaften Worten und Gesten ein Mittel gegen Haarausfall anbot.
Schoko hatte sie verloren. Oder hatte er sie geträumt? Hatte ihm die Hitze einen Streich gespielt und ihm das Mädchen als Fata Morgana erscheinen lassen?
Dann aber hätte er doch diese Hülle nicht in der Hand gehalten, deren silbriggold glänzender Inhalt ihm die Farben des Regenbogens spiegelte, wenn er ihn in die Sonne hielt.
Langsam leerte sich der Markt. Die Sonne zog sich hinter den Häusern zurück und tauchte den Himmel in Anthrazit als Schoko beschloss, nach Hause zu gehen und die glänzende Scheibe an die Wand seines Zimmers zu hängen. Dort warf der Nagel einen Schatten über den Regenbogen, wie die Zeiger einer Sonnenuhr, auch wenn die Zeit nicht stimmte.
Wenn Schoko mal einen DVD-Spieler haben sollte, würde er das Mädchen ja vielleicht wiedersehen.


Die Wörter waren DVD, Wunderland, Silberlöffel, Haarausfall, stöbern (gepostet von Friedfertig)

 

Hallo Woltochinon,

ich danke dir fürs Lesen und für deine feinsinnige Interpretation.
Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Ich glaube, Schoko wird sich nicht mal einen DVD Player besorgen. Den Zauber möchte er behalten. :)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,
schon der Titel klang hell, anziehend, eine nette kleine Geschichte, ein bisschen traurig, aber schön. Das bunte Treiben auf dem Flohmarkt hat mir gefallen und die ausgefallene Idee, eine leere DVD anzubieten! Wirklich anders als deine anderen KGs!
liebe Grüße
tamara

 

Hallo tamara,

ich kann ja nicht nur niederschmetternd schreiben. Schön, dass dir diese Geschichte gefallen hat.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim!

Stimmt! Du kannst nicht nur niederschmetternd schreiben. :D
Es gefällt mir gut, wie Du die vorgegebenen Wörter in dieser "leichten" Geschichte untergebracht hast. Die Stimmung passt prima zum Drumherum, und an Schokos Stelle hätte ich genauso gehandelt.


Lieben Gruß
Antonia

 

Holla sim,

vor Silberlöffeln, alten Schallplatten, vor Grammofonen und hässlichen Vasen.
das zweite "vor" streichen.

Jetzt stand das Mädchen auf, stampfte entrüstet mit einem Fuß auf die rotgrün karierte Decke und verbesserte Schoko: »Es ist eine DVD.«
Ihre Haare entflammten im Sonnenlicht, als sie sich so energisch erhob. Allein dafür hätte Schoko sie gern ein bisschen weiter provoziert, aber sie war zu schön, um sie lange zu ärgern.
Ich weiß nicht, aber irgendwie nimmst du damit ein wenig das Märchenhafte, indem sie so aufbrausend ist. Sie soll doch eher ruhig wirken, oder?
Ich würd sie hier keinen kleinen Wutausbruch erleiden lassen.

Also, ich würd schon ganz gerne wissen, was denn nun auf der DVD drauf ist... Jedenfalls haben mir Beschreibung des Mädchens und der Protagonisten gut gefallen. Seine anfängliche Schüchternheit ist gut rübergebracht.
Zu bemängeln habe ich nur, dass mich das Ende unzufrieden zurücklässt, aber vermutlich war das wohl deine Absicht. EIn wenig den Eike zu ärgern. :D

Aber schöne Geschichte allemahl,

Eike

 

Hi Eike,

ach nein, dich würde ich doch nie ärgern. ;)
So sehr ich deine Neugier verstehen kann, die Geschichte würde ihren Zauber verlieren, wenn der Inhalt der DVD enthalten wäre.
Aber das Mädchen hat doch keinen kleinen Wutanfall, sie stampft nur kurz mit dem Fuß auf. Ich finde, das gehört zu ihrem entschlossenen Charakter. :)

Schön, dass dir auch diese Geschichte gefallen hat. :)

Lieben Gruß, sim

 

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